Im Zuge der Begräbnisfeierlichkeiten von Papst Benedikt kam so schnell wie unvermeidlich die Frage auf, ob man den Verstorbenen nicht sofort seligsprechen solle. Diese Idee geht auf altkirchliche Berichte zurück, bei denen nicht eine vatikanische Kongregation, sondern das Gottesvolk, die Mitglieder der Kirche, selbst spontan die Heiligkeit eines verstorbenen Menschen proklamierten. Das heutige Selig- und Heiligsprechungsverfahren ist dagegen ein äußerst langwieriger und komplizierter Akt. Möchte eine Gruppe von Menschen sich für die Seligsprechung eines Verstorbenen einsetzen, dann muss sie zunächst den zuständigen Bischof vor Ort von diesem Vorhaben überzeugen. Dieser kann dann ein Verfahren in Rom in die Wege leiten, in dem eine mögliche „Erhebung zur Ehre der Altäre“, die mit der Seligsprechung verbunden ist, geprüft wird. Dazu müssen z.B. sämtliche Schriften des oder der Verstorbenen gesammelt und gesichtet werden, ebenso wie Zeugenaussagen von Weggefährten, Meinungen aus dem theologischen Spektrum und vieles mehr. Neben die theologische Bewertung tritt eine historische. Lebenslauf und Umfeld, sowie die zeitgeschichtliche Bedeutung der betroffenen Person müssen so genau wie möglich erforscht werden. Dazu kommt noch das Warten auf die Anerkennung eines möglichen Wunders, sofern es sich bei der oder dem Verstorbenen nicht erwiesenermaßen um einen Märtyrer, einen Blutzeugen, handelt.
Lässt sich die oft jahrelange Prozedur der Seligsprechung nicht abkürzen? Beim Tod Johannes Pauls II. hat man ähnliches bereits versucht. Der polnische Papst selbst war ein großer Förderer der Heiligen- und Seligenverehrung. In seiner Amtszeit, so heißt es, wurden mehr Menschen kanonisiert als in den ganzen Jahrhunderten zuvor. Johannes Paul war es ein Anliegen, der weltweiten Ausbreitung der Kirche auch in Gestalt ihrer Heiligen ein besseres Gesicht zu geben, so dass auch die „jungen Kirchen“ Afrikas oder Asiens eigene Glaubenszeugen in den Kanon der Heiligen einbrachten. Zudem legte der Papst Wert darauf, das Glaubenszeugnis vieler Christen zu würdigen, die unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts ihr Leben gelassen hatten. Die Gewaltgeschichte des Jahrhunderts war Johannes Paul, der schließlich selbst den Zweiten Weltkrieg und die kommunistische Diktatur durchlebt hatte ein Bewährungsort des christlichen Glaubens. Diesem Teil der Kirchengeschichte geben unter seinem Pontifikat die zahlreichen Selig- und Heiligsprechungen ein deutliches Gesicht. Zudem wurden in diesem Zug auch zahlreiche Ordensgründerinnen und -gründer, Bischöfe und Päpste kanonisiert. So regte Papst Johannes Paul II. unter anderem die Seligsprechung seiner Vorgänger Pius IX. und Johannes XXIII. an. Drei Glaubenszeugen hatten es dem Papst, teils aus persönlichen Begegnungen heraus besonders angetan: Die polnische Ordensfrau und Visionärin Maria Faustyna Kowalska, Pater Pio und Mutter Teresa. Die Selig- und Heiligsprechungsverfahren der letzteren wurden beschleunigt und kamen sehr schnell zum Abschluss. Der Papst setzte damit die ungeschriebene Regel außer Kraft, dass eine Kanonisierung in der Regel einige Jahrzehnte auf sich warten lassen sollte. Johannes Paul II. selbst erfuhr nach seinem Sterben ein ähnlich schnelles Verfahren, so dass er bereits 2011, sechs Jahre nach seinem Tod, heiliggesprochen wurde. Man war in Rom überzeugt, dass es bei einigen großen Glaubensgestalten der Gegenwart eine so offensichtliche persönliche Heiligkeit gab, dass man auf das Abwarten einiger Jahrzehnte verzichten konnte.
Jetzt möchte ich die persönliche Heiligkeit der genannten Personen mit Sicherheit nicht in Abrede stellen. Allerdings scheint mir dieser Hang zur schnellen Kanonisierung nicht gerade gut überlegt. Die in der Regel lange Zeit des Wartens ist nicht bloß dem komplizierten, vielstufigen, formalen Prozesses zur Selig- oder Heiligsprechung geschuldet. In ihr liegt vielmehr auch eine gewisse, weisheitliche Erfahrung der Kirche. Um das Lebenswerk und die Bedeutung eines Menschen für die Kirche beurteilen zu können, bedarf es ganz einfach einer Zeit des Wartens. Beim Prozess zur Seligsprechung geht es gegen landläufige Missverständnisse nicht darum, einem Menschen den Weg in den Himmel zu ebnen. Eine Selig- oder Heiligsprechung fügt dem Status des bei Gott angekommenen Menschen nichts hinzu. Vielmehr geht es darum, sein nach allen menschlichen Maßstäben untersuchtes und ausgewertetes Lebenszeugnis zu würdigen, so dass nach unseren Beurteilungsmaßstäben kein anderes Urteil möglich sein kann, als jenes, dass der oder die Betreffende in der himmlischen Vollendung angekommen ist und als Fürsprecherin oder Fürsprecher angerufen werden kann. Exemplarisch werden so einige wenige Gläubige stellvertretend für die vielen „Heiligen“ – also die lebenden und verstorbenen Christen herausgehoben und verehrt. Dabei wird unterschieden zwischen Glaubenszeugen von regionaler Bedeutung (Seligsprechung) und gesamtkirchlicher Bedeutung (Heiligsprechung). Papst Benedikt war, mit der Ausnahme der Kanonisierung seines Vorgängers, hier deutlich zurückhaltender als Johannes Paul II.. Er führte eine wichtige Änderung im Verfahren ein, indem er die Seligsprechungen von Rom weg in die Heimatregionen der neuen Seligen verlegte, so dass der Unterschied zwischen Selig- und Heiligsprechung deutlicher wurde. Die Heiligsprechungen fanden als Zeichen der weltkirchlichen Bedeutung weiter in Rom statt.
Der entscheidende Punkt ist der Folgende: Um die Bedeutung eines Menschen für die Kirche in dieser Weise zu würdigen, braucht es die Bewertung durch die zukünftigen Generationen. Das Lebenszeugnis eines neuen Seligen oder Heiligen soll schließlich für alle Zeiten Bestand haben. Was also wird die Nachwelt mit dem Abstand von einer oder zwei Generationen über die betreffende Person sagen? Ist sein oder ihr Werk von dauerhafter Bedeutung? Vor allem aber: Wie wird man aus historischer Sicht auf die Neukanonisierten zurückblicken? Kein Mensch ist einfach nur heilig. Gerade Personen in leitenden Ämtern als Päpste, Bischöfe oder Ordensgründer werden in ihrer Amtsführung Fehler machen. Glaubensbiografien sind selten makellos. Es war ein gewisser Schock, dass gerade im Nachlass der hochverehrten Mutter Teresa von Kalkutta, deren Heiligkeit eigentlich außer Frage stand, Passagen gefunden wurden, in denen sie ihre tiefen Glaubenskrisen bekannte. Ich erinnere auch in diesem Zusammenhang um die Historikerkontroversen um die Päpste Pius IX., Pius X. oder Pius XII., die alle selig-, bzw. heiliggesprochen wurden, deren Biografie aber hinsichtlich ihrer Amtsführung deutlich angefragt waren. Die Frage war hier, welches (kirchen-)politische Zeichen gesetzt werden sollte, auch wenn man die persönliche Lebensführung und Glaubensstärke der genannten Päpste sicher nicht anzweifeln wollte. Nun schwanken auch Beurteilungen einzelner Personen im Laufe der Zeit beträchtlich. Ignatius von Loyola, Thomas von Aquin oder selbst Franziskus von Assisi hatten zu ihrer Zeit keineswegs nur Fürsprecher. Im Gegenteil. Sie wurden kirchenoffiziell eine ganze Zeit lang sehr kritisch gesehen. Auf lange Sicht aber wird man von ihnen sagen dürfen, dass sie gewissermaßen ihrer Zeit voraus waren und in ihrem Werk nachhaltig die Kirche bis heute geprägt haben und prägen. Auch Papst Paul VI. galt bei seinem Tod sowohl den liberalen als auch den konservativen Kräften als eher schwacher Papst. Von „Santo subito“ war in seinem Todesjahr 1978 noch nicht die Rede. Erst Papst Franziskus hat die besonderen Verdienste dieses Papstes für die weltkirchliche Ausrichtung und Erneuerung der Kirche in besonderer Weise gewürdigt und ihn seliggesprochen. Ein langer historischer Abstand ist nötig, um die Nachhaltigkeit eines Lebenszeugnisses feststellen zu können.
Wie ist es nun bei Papst Benedikt XVI.? Anlässlich seines Sterbens sind von verschiedenen Seiten Würdigungen erfolgt, die sowohl die Licht- als auch die Schattenseiten seines Wirkens hervorheben. Die persönliche Lebensführung und Glaubensstärke Joseph Ratzingers wird dabei nicht in Zweifel gezogen. Das ist bei einer seit Jahrzehnten in der kritischen Öffentlichkeit stehenden Persönlichkeit bemerkenswert. Allerdings haben die Nachfragen zur Rolle Ratzingers als Erzbischof im Zuge der Münchner Missbrauchsaufarbeitung Klärungsbedarf zu einer biografischen Epoche Ratzingers aufgeworfen. Auch manche kirchenpolitische Entscheidung wird weiter hinterfragt werden. Selbst das so umfangreiche wie außergewöhnliche theologische Werk des verstorbenen Papstes braucht noch eine Zeit der Bewährung für zukünftige Generationen. Diesbezüglich bin ich sehr zuversichtlich. Benedikt XVI. wird die Frage nach einer möglichen Seligsprechung seiner Person nicht weiter bewegt haben. Das Ziel seines Glaubenslebens lag in der persönlichen Begegnung mit Gott nach seinem Tod. Zudem dürfte er hinsichtlich seiner Person stets auch selbstkritisch gewesen sein. Äußere Verehrung war ihm eher unangenehm. Es scheint also angemessen, der Tradition zu folgen und abzuwarten. Eine baldige Seligsprechung ist nicht notwendig. Der Verstorbene kann auch jetzt schon privat als Fürsprecher angerufen werden und einen Platz im Gedächtnis der Kirche, wie auch in der Geschichte der Theologie ist Benedikt XVI. schon jetzt sicher.
Jeder Mensch ist besonders.
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