Kirchen aufgeben

Mecklenburg-Vorpommern ist ein sehr christliches Bundesland. Diesen Eindruck kann zumindest gewinnen, wer auf den Landstraßen das Bundesland durchquert. Über jedem kleinen Dorf erhebt sich der Turm einer alten Dorfkirche. Zu ihnen gehören große mittelalterliche Klosteranlagen, gedrungene Feld- und Backsteinkirchen, Komtureien der Johanniter, klassizistische Tempelchen oder neogotische Hallenkirchen des 19. Jahrhunderts. Über 1100 solcher Gotteshäuser soll es geben.[1] Dazu kommen noch die häufig meist wesentlich unscheinbareren katholischen Kirchen, häufig aus der Nachkriegszeit, sowie die Kirchen anderer Konfessionen. Bei einer Bevölkerung von 1,6 Millionen, die das Bundesland derzeit zählt, wäre also grob geschätzt locker für jeden zehnten Einwohner sonntags ein Platz in der Kirchenbank vorhanden. In einigen Orten übersteigt das Platzangebot sogar die Einwohnerzahl. Eine 100%ige Auslastung der Kirchen dürfte allerdings nie erreicht worden sein. In der Zeit um 1900, als die letzte große Bauwelle auf den Dörfern einsetzte, lebten in den Herzogtümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz etwa 650 000 Menschen. Für den heutigen Landesteil Vorpommern ist die Einwohnerzahl nicht genau zu ermitteln, vielleicht waren es auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes insgesamt 900 000. Damals waren fast alle Einwohner evangelisch. Die Katholikenzahl stieg durch Wanderarbeiter und Neusiedler langsam an. 1907 zählte man in Mecklenburg (ohne Vorpommern) ungefähr 20 000 werktätige Katholiken. Erst jetzt baute man (mit Ausnahme der im höfischen Kontext entstandenen Kirchen von Schwerin und Ludwigslust) die ersten größeren katholischen Kirchen, etwa in Wismar, Rostock, Greifswald, Waren oder Parchim.

Der Baulichen Omnipräsenz der christlichen Kirchen steht heute ihre geringe Mitgliederzahl entgegen. Zählte die offizielle Statistik der evangelischen Nordkirche im Jahr 2000 für Mecklenburg und Vorpommern noch rund 360 000 Protestanten, waren es im Jahr 2019 noch 240 000.[2] Die Katholikenzahl blieb im gleichen Zeitraum ungefähr konstant. Sie lag 2018 bei etwas über 55 000 (3,5%).[3] Diese Tatsache verdankt sich wohl vor allem dem Zuzug katholischer Kirchenmitglieder in die größeren Städte. Insgesamt liegt das Durchschnittsalter der Katholiken (nur Mecklenburg) nach den Berechnungen des Erzbistums Hamburg bei 48,67 Jahren.[4] Zum Vergleich: In der Stadt Hamburg beträgt es 41,51 Jahre, der Bundesdurchschnitt der Gesamtbevölkerung liegt bei 44,5 Jahren. Für die evangelische Kirche dürfte die demographischen Faktoren ähnlich sein. Der statistische Rückgang ist in allen Bereichen zu verzeichnen. Das Erzbistum Hamburg weist für 2019 eine Quote von 7,7% für die regelmäßigen Gottesdienstbesucher aus (in Mecklenburg etwas über 10%). Im Jahr 2000 lag der prozentuale Anteil noch bei 13,4%. In der evangelischen Nordkirche ermittelte man im Jahr 2018 für Mecklenburg und Vorpommern 4,3% regelmäßige Gottesdienstteilnehmer, ein Wert, der immerhin doppelt so hoch war wie in den ebenfalls zur Nordkirche gehörenden Bundesländern Hamburg und Schleswig-Holstein.[5] In absoluten Zahlen würde dies bedeuten, dass jeden Sonntag rund 10 200 Gottesdienstbesucher die evangelischen Kirchen besuchen, 5700 die katholischen Kirchen.

Der abschließende Dreisatz legt sich nahe. Bei rund 1100 evangelischen Kirchen, in denen jeden Sonntag ein Gottesdienst gefeiert würde, läge die Durchschnittszahl der Gottesdienstbesucher bei unter 10. Statistiken sind leider schwer vergleichbar. Im Erzbistum Hamburg beruht die Statistik auf zwei „Zählsonntagen“ ohne besonderen Charakter. Mir ist leider nicht bekannt, ob die Nordkirche in gleicher Weise zählt, oder auch die Besucherzahlen an großen Festen, vor allem Weihnachten und bei Konfirmationen mit hinzugezählt werden. Ein ganz realistisches Bild lässt sich also nicht ermitteln. Die bekannten Zahlen verdeutlichen allerdings ein großes Dilemma, dass in der evangelischen Kirche deutlicher ausgeprägt, in der katholischen aber in ähnlicher Weise vorhanden ist: Wie sollen wir mit dem baulichen Erbe, den vielen nicht mehr gebrauchten Kirchen umgehen?

Schon jetzt werden viele der genannten 1100 evangelischen Kirchen nicht mehr oder nur noch unregelmäßig genutzt. Da es sich bei ihnen fast sämtlich um geschützte Kulturdenkmäler handelt, bleiben sie häufig ein wenig verträumt in der Landschaft stehen. Das ist aus dem Blick eines Romantikers reizvoll, aus dem Blick einer Verwaltung, die für den Bauerhalt zu sorgen hat allerdings eine echte Herausforderung. Katholischerseits ist das Problem aber in ähnlicher Weise vorhanden. In den letzten Jahrzehnten sind im Erzbistum Hamburg ebenfalls regelmäßig Kirchen geschlossen worden, in letzter Zeit etwa die Maximilian-Kolbe-Kirche in Hamburg-Wilhelmsburg, die St. Clemens-Kirche in Itzehoe, Kirchen von Leck und zuletzt Tönning in Nordfriesland. In Neumünster wurden zwei von drei katholischen Kirchen geschlossen, in Kiel plant man die Aufgabe von gleich mehreren Gotteshäusern. Vor Kurzem besuchte ich die aufgegebene katholische Kirche von Kraak, einem kleinen Ort zwischen Schwerin und Ludwigslust. Sie dient heute als Wohnhaus. In andere Kirchen wurden Kindergärten (Neumünster), Sozialzentren (Wilhelmsburg, Barmstedt), Hospize (Itzehoe) oder Bestattungsunternehmen (Lägerdorf) einquartiert. Doch die Möglichkeiten und Bedarfe für solche kirchennahen Umnutzungen sind begrenzt. Einige Kirchen wurden schlicht abgerissen, weil es keine Perspektive für eine Nachnutzung gab.

Die anstehende Immobilienreform im Erzbistum Hamburg strebt eine Verkleinerung des Immobilienbestandes an. Unter dem Vorzeichen ungünstiger Prognosen zur Kirchensteuerentwicklung geht man davon aus, künftig immer weniger Geld für Unterhalt und Bau kirchlicher Gebäude zur Verfügung stellen zu können. Es geht hierbei um Pfarrhäuser, Gemeindezentren, Wohnungen, Garagen, aber eben auch um Kirchen. Aus Sicht eines Ökonomen ist diese Maßnahme sinnvoll. Schließlich wird auch angesichts der sinkenden Gläubigen- und Gottesdienstteilnehmerzahlen immer weniger umbauter Raum benötigt. Die Immobilienstruktur soll sich auf den realen Bedarf hin anpassen. Was also tun? Die Deutsche Bischofskonferenz hat bereits 2003 eine Arbeitshilfe zum Umgang mit aufgegebenen Kirchen herausgegeben.[6] Jeder Verlust eines solchen Raumes ist schmerzhaft. Kirchen sind eben nicht bloß Orte des Gottesdienstes, sondern geben Zeugnis von der christlichen, wie auch profanen Geschichte eines Ortes. Sie besitzen eine „emotionale Qualität“, besonders für die Menschen, die durch die kirchlichen Feiern biographisch mit ihnen verknüpft sind. Verschwindet die Kirche, so gleichzeitig auch ein Gedenkort der eigenen Geschichte. Laut Bischofskonferenz stellen Kirchen zudem in einer an Leistung orientierten Gesellschaft einen Kontrapunkt im Stadtbild dar, indem sie auch für Nichtchristen „zweckfreie“ Orte der Ruhe und Besinnung sein wollen. Zudem wird auf die kunsthistorische Bedeutung verwiesen. Kirchenräume sind selbst oder beherbergen Kunstschätze, die für das kulturelle Erbe von Bedeutung sein können. Dies zusammengenommen bedeutet: Der Umgang mit Kirchen muss äußerst behutsam sein. Zur Nutzung eines auslaufenden Kirchgebäudes empfehlen die Bischöfe daher als erstes die Option, die Kirche weiterhin als Kirche durch oder mit anderen christlichen Gemeinden anderer Konfessionen zu nutzen. Weitere Möglichkeiten werden in verschiedenen kirchlichen Nutzungen gesehen (caritative Einrichtungen, KiTas, Schulen, Verwaltungsbüros), in der Verwendung zu kulturellen Zwecken (Museum, Konzertsaal, Galerie), oder auch in kommerziellen Nutzungen (z.B. Einbau von Wohnungen, Büroräumen). Ein Verkauf an andere Glaubensgemeinschaften ist laut DBK „aus symbolischen Gründen“ nicht möglich. Der Abriss soll stets die „ultima ratio“ sein.

Der Blick auf die Arbeitshilfe der deutschen Bischöfe zeigt das Bemühen, Kirchenräume so lange wie möglich zu erhalten. In eine ähnliche Richtung ging auch die kürzlich erschienene vatikanische Instruktion zur Zukunft der Pfarreien.[7] Sie empfahl, Kirchen, die nicht mehr genutzt werden zur Not „einfach stehenzulassen“, in der Hoffnung, dass sich in fernerer Zukunft an einem solchen Ort irgendwann neues kirchliches Leben bilden könnte. Dieser Maßgabe sind offensichtlich auch die vorangegangenen Generationen gefolgt. Auch als die vielen Kirchen nicht mehr gebraucht wurden, blieben sie dennoch in den Dörfern erhalten. Eine kirchlich geplante „Abrisswelle“ hat es bislang noch nicht gegeben, auch wenn es natürlich immer wieder zum Abriss einzelner Kirchen kam. Das prominenteste heimische Beispiel ist wohl der alte Hamburger Dom, der wegen mangelnder Nutzung und hohen Unterhaltskosten im 19. Jahrhundert aus dem Stadtbild verschwinden musste. Zugleich ist diese Kirche aber auch Sinnbild für den Schaden, den ein solcher Abriss mit sich bringen kann. Auf dem Hamburger Domhof neben der Petri-Kirche erinnern heute weiße Steine als eine Art Trauermonument an das verlorene Denkmal der Stadtgeschichte. Ähnlich verhält es sich bei der Wismarer Marienkirche oder am Denkmal der katholischen Christus-Kirche in Rostock, die der sozialistischen Stadtplanung zum Opfer fiel.

Gerade der Blick auf die heutigen Ruinen sollte eine Warnung für die Erzeugung künftiger sein. Die Lage ist also schwierig. Wir wissen, dass längst nicht alle Kirchen als Gebäude überleben können. Viele, besonders neueren Datums schaffen es allein von ihrer Bausubstanz nicht. Das Ende einer Unterstützung durch Kirchensteuermittel muss allerdings noch nicht zwangsläufig das Ende des Gebäudes bedeuten. In jedem Fall braucht die Aufgabe einer Kirche Zeit und die sorgfältige Prüfung aller Möglichkeiten. Für viele ist es beruhigend, wenn aus „ihrer Kirche“ nicht einfach ein Renditeobjekt geworden ist, sondern ein sinnvoll anders genutztes Gebäude, das zumindest noch die Erinnerungsspuren seines ehemaligen Zweckes in sich trägt. Die Antwort auf die anstehenden Fragen der Immobilienreform wird je nach Ort und Möglichkeiten unterschiedlich ausfallen. In diesem Sinn sollte die Immobilienreform mehr als ein finanzieller Prozess sein, sondern mit der Selbstvergewisserung anfangen, die den eigenen christlichen Auftrag in unserer Zeit neu bestimmt. Reformen werden häufig von Nostalgie ausgebremst. Wichtig wäre es, wenn sich positive Ziele inhaltlicher Art mit der Umnutzung oder Aufgabe einzelner Gebäude verbinden.


[1] https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Statistik/nordkirche-ueberblick-2019.pdf

[2] https://www.nordkirche.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Statistik/nordkirche-gemeindeglieder-nach-kirchenkreisen_2000-2019.pdf

[3] http://www.kirche-mv.de/Zahl-der-Katholiken-in-MV-blieb-im-Jahr-2018-stabi.10985.0.html

[4] https://www.erzbistum-hamburg.de/ebhh/pdf/Kirchliche_Statistik/143-2020-Kirchliche-Statistik-2019_ausdrucke.pdf?m=1593156769

[5]https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/bischoefe-abromeit-und-v-maltzahn-berichten-der-landessynode/

[6] S. für das Folgende: https://www.dbk-shop.de/media/files_public/gbhwqhlkm/DBK_5175.pdf

[7] S. hierzu in diesem Blog: https://sensusfidei.blog/2020/07/20/wer-darf-pfarreien-leiten-kontroverse-um-eine-neue-romische-instruktion/

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