Von Infektionen ist in den vergangenen Monaten mehr als genug gesprochen worden. Das Wort leitet sich vom lateinischen „inficere“ ab, das wörtlich übersetzt „hineintun“ bedeutet. Damit ist aus medizinischer Sicht das Vorgehen des Infektes gut beschrieben. Ein Virus nistet sich in unserem Körper ein. Im Deutschen sprechen wir von „anstecken“, einem Wort, dass wir mit „Feuer“ verbinden. Dieses kann von einem Ding auf ein anders überspringen. Das Wesen des Infizierens oder Ansteckens ist, dass es oft unbemerkt geschieht, mehr aus Versehen. Die Folgen des Vorgangs sind erst im Nachhinein zu sehen. Deshalb dienen die derzeitigen Schutzmaßnahmen dazu, ein solches unbemerktes Überspringen so gut wie möglich zu verhindern. Neben dem medizinischen, in der Regel negativen Gebrauch des Wortes gibt es aber auch so etwas wie ein positives Anstecken. Es gibt offenbar viele Realitäten mit Ansteckungspotential. Umgangssprachlich kann etwa das Lachen ansteckend sein, das Gähnen oder eine gute Stimmung. Musiker erzählen gerne von dem Moment, an dem sie mit der Musik so intensiv in Berührung kamen, dass sie diese Leidenschaft seitdem nicht mehr losgelassen hat. Ideen können ansteckend sein, wenn sie auf Menschen treffen, die sich für sie begeistern können. Aus einer einmaligen Begegnung mit einem Text oder einem Menschen kann so ein ganzes Leben geprägt werden. Ähnliches lässt sich auch für Tätigkeiten sagen. Ehrenamtliche erzählen, wie sie die Begegnung mit einer Einrichtung oder einer engagierten Person so motiviert haben, dass sie selbst für die gute Sache tätig werden wollten. Das „Anstecken“ in diesem Sinn bedeutet, eine Einsicht zu bekommen, ein Ziel, eine Motivation, eine Begeisterung, eine Erfüllung.
Mit einer Ansteckung ganz anderer Art kam ich in der letzten Woche in Berührung. Ich war zum Treffen meines Weihekurses in den Rheingau gefahren, wo ein Mitbruder jetzt als Pfarrer tätig ist. Auf dem Weg machten wir in Eibingen halt, das heute zu Rüdesheim gehört. Im Jahr 1165 hatte dort die Äbtissin Hildegard von Bingen mit einigen Ordensschwestern ein aufgelassenes Kloster neu besiedelt. In der heutigen Wallfahrtskirche, die vor 20 Jahren neu gestaltet wurde, ist ihr Reliquienschrein aufgebahrt. Über dem Schrein schmückt ein Mosaik die Altarwand. Es zeigt vor einem blauen Hintergrund eine große goldene Scheibe. In dieser findet sich eine roter, innerer Kreis. In ihm ist eine hellblaue Christusgestalt zu sehen. Die Darstellung geht auf eine Vision Hildegards zurück:
„Ich sah ein überhelles heiteres Licht und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht war. Und das helle Licht überstrahlte das ganze rötliche Feuer und das rötliche Feuer das ganze helle Licht und das helle Licht und das rötliche Feuer die ganze Menschengestalt, so dass sie ein einziges Licht in derselben Stärke und Leuchtkraft bildeten. Du siehst ein überhelles heiteres Licht, das den Vater bezeichnet, und darin eine saphirblaue Menschengestalt, die den Sohn darstellt, der vor aller Zeit, seiner Gottheit nach, vom Vater gezeugt, doch dann in der Zeit, gemäß der Menschheit, auf Erden Fleisch wurde. Sie wird völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht, dem Heiligen Geist, von dem der Eingeborene Sohn Gottes dem Fleisch nach empfangen und von der Jungfrau in der Zeit geboren wurde und das Licht der wahren Herrlichkeit über die Welt ausgoss.“[1]
Hildegard ist eine Mystikerin. Sie sieht und beschreibt die Wahrheiten des Glaubens in Bildern. Hier zeigt das Bild das Geheimnis der Dreifaltigkeit, die Gestalt Christi, das Feuer des Geistes und das strahlende Geheimnis des Vaters, wie sie sich gegenseitig durchdringen und vom Glanz durchleuchten lassen. Gott ist Licht, Glanz und Strahlen. Das Alte Testament spricht von der Herrlichkeit Gottes. Da Gott unsichtbar ist, können Menschen nur seinen Glanz wahrnehmen. Wer allerdings diese Herrlichkeit gesehen hat und Gottes Größe und Schönheit begreift, den erfasst die Herrlichkeit. So geht es Mose, von dem es heißt, dass sein Gesicht weiter strahlte, als er vom Gespräch mit Gott kam. Der Prophet Ezechiel sieht die Herrlichkeit Gottes und kann fortan nicht anders als seinem prophetischen Auftrag zu folgen. Im Buch Jesaja soll die Herrlichkeit Gottes am Ende der Tage wieder in Jerusalem einziehen und alle Völker werden von ihr angezogen. Wer sich also von der Herrlichkeit Gottes anstecken lässt, erfährt eine tiefe Einsicht, einen tiefen Trost aber auch eine Begeisterung.
Die Herrlichkeit zu sehen, mit anderen Worten, die Schönheit Gottes zu erfahren bedeutet, eine Prägung für das Leben zu erhalten. Der Theologe Hans Urs von Balthasar hat daher die Erkenntnis oder zumindest die Ahnung der Herrlichkeit als Grundvoraussetzung für den Glauben beschrieben. Der Glaube braucht so etwas wie eine „mystische Erfahrung“, eine tiefe Berührung durch Gott. Glaube und aus ihm resultierend Liebe und Hoffnung entstehen aus Ansteckung durch Herrlichkeit. Balthasar schreibt:
„Das Schöne führt eine Evidenz [d.h. eine aus sich hervorgehende Überzeugungskraft] mit sich, die unmittelbar ein-leuchtet. Daher kommt es, dass wir, wenn wir an die Offenbarung Gottes mit der Kategorie des Schönen herantreten, diese wie selbstverständlich in ihrer innerweltlichen Gestalt annehmen […].“[2]
Gemeint ist damit: Weil Gott vollkommene Schönheit [Herrlichkeit] ausstrahlt, ist er in aller menschlichen und geschöpflichen Schönheit zu finden. Der Glaube findet dort seinen Ursprung, wo er Schönheit und Vollkommenheit erfährt. Jede Ahnung der Herrlichkeit bringt mich Gott näher und weckt zugleich die Sehnsucht nach mehr.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich das schwer verständliche Sonntagsevangelium vielleicht etwas besser. Es ist ein Ausschnitt aus dem großen Gebet, das Jesus im Johannesevangelium spricht, nachdem er seine Jünger im Abendmahlssaal zum letzten Mal unterwiesen hat:
„In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir. Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein; in ihnen bin ich verherrlicht. Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt, und ich gehe zu dir.“ (Joh 17,1-11)
Denken Sie an das Bild der Vision der Heiligen Hildegard: Gott zeigt sich als der dreieine in seiner Herrlichkeit. Deren Glanz bricht sich in der Gestalt Christi und wird so für den Menschen sichtbar und bewegt sie als Feuer des Heiligen Geistes. Im Johannesevangelium sagt Jesus dies so: Ich komme aus der Herrlichkeit des Vaters. Durch mich haben die Menschen von dieser Herrlichkeit erfahren. Die, die mein Wort angenommen haben, tragen die Erfahrung der Herrlichkeit weiter, damit sie weiter in der Welt scheinen kann. Ich aber kehre in die ursprüngliche Herrlichkeit zurück.
Der Glanz der Gotteserfahrung soll also durch die Jünger weiter in der Welt leuchten. Er erfüllt die Menschen, die sich im Glauben Gott genähert haben oder durch das Wort und Beispiel Jesu zu ihm geführt werden. Wer in einem solchen „mystischen“ Sinn glaubt (also nicht allein „rational“), ist angesteckt mit Herrlichkeit. Daher sollten die Kirchen in diesem Sinn immer schon ein hohes Ansteckungspotential aufweisen, indem sie durch die sinnliche Erfahrung von Schönheit in Kunstwerken, in Musik und Liturgie auf diese Gotteserfahrung verwiesen werden. Nicht nur der Ort des Glaubens, sondern der Glaube selber soll etwas Schönes sein, etwas Herrliches, etwas Motivierendes und Frohes.
[1] Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 2. Buch, zitiert hier: http://www.abtei-st-hildegard.de/die-spiritualitaet-der-hl-hildegard
[2] Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit, Band 1, Trier 1961, 34.