Als ich vor einigen Monaten den Roman „Die Pest“ von Albert Camus in die Hand nahm, um darin ein paar literarische Anregungen zum Umgang mit der Corona-Epidemie zu finden, hätte ich nicht gedacht, dass ein paar Wochen später noch ein anderer Roman aufgrund seiner Aktualität wichtig werden würde. Vor mir liegt nun Umberto Ecos ungemein hintersinniger und humorvoller Roman „Der Friedhof von Prag“. Dieser Roman reflektiert die Geschichte der größten Verschwörungstheorien des 19. Jahrhunderts. Im Grunde verbreitet das Buch selbst eine solche. Sein Protagonist heißt Simon Simonini. Er lebt getarnt als katholischer Priester in Paris. Simonini berichtet aus seinem Leben und bekennt sich dazu, selbst Urheber aller wichtigen Verschwörungstheorien seiner Zeit zu sein. Ob Dreyfus-Affaire, Freimaurer-Verschwörung oder jüdische Weltregierung: Simonini hat diese Theorien geschickt in die Welt gesetzt. „Der Friedhof von Prag“ ist eine Verschwörungstheorie über Verschwörungstheorien.
Es war zu erwarten, dass sich so wie Covid 19 auch Theorien über seinen geheimen Sinn viral verbreiten würden. Dieses Phänomen war ein Begleiter vieler weltweiter Krankheitswellen. So galt etwa die spanische Grippe als eine Geheimwaffe der Deutschen. Derzeit springen Verschwörungstheoretiker auf den Zug der zunehmenden Proteste gegen die Corona-Beschränkungen auf. Kirchlich erregte in den vergangenen Tagen ein Aufruf unter dem Titel „Veritas liberabit vos“[1] („Die Wahrheit wird euch frei machen“) Aufsehen, der unter anderem von einigen Bischöfen unterzeichnet wurde. Der Aufruf setzt bei der Einschränkung von Freiheitsrechten an und stellt die Frage, ob die massiven Begrenzungen des öffentlichen Lebens, vor allem auch des kirchlichen Lebens, angesichts der Bedrohung durch das Corona-Virus gerechtfertigt waren und sind. Diese Frage darf man sicher stellen. Es handelte sich schließlich um ein neuartiges Phänomen, als religiöse Versammlungen teilweise staatlicherseits untersagt wurden. Die Verantwortlichen in den großen Kirchen bis hin zum Papst haben die staatlichen Vorsichtsmaßnahmen mitgetragen, um so ihren Beitrag zur Eingrenzung der Ausbreitung des Virus zu leisten. Während die überwiegende Zahl der Gläubigen diese Entscheidung mittrug, gab es immer eine Anzahl von Kirchenmitgliedern, denen die eingeleiteten Maßnahmen zu weit gingen. In mehreren Bundesländern gab es Klagen vor Gericht gegen das „Gottesdienstverbot“. In der Sache darf also berechtigt darum gestritten werden, ob hier das richtige Maß gefunden wurde. Allerdings bringt „Veritas liberabit vos“ noch einen anderen Aspekt in die Diskussion. Im Text heißt es:
„Wir haben Grund zu der Annahme – und das auf Grundlage offizieller Daten der Epidemie in Bezug auf die Anzahl der Todesfälle – dass es Kräfte gibt, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen. Auf diese Weise wollen sie dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung und der damit verbundenen Kontrolle über Personen und der Verfolgung all ihrer Bewegungen durchsetzen. Diese illiberalen Steuerungsversuche sind der beunruhigender Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht. […] Wir kämpfen gegen einen unsichtbaren Feind, der die Bürger untereinander, die Kinder von ihren Eltern, Enkelkinder von Großeltern, Gläubige von ihren Seelsorgern, Schüler von Lehrern und Kunden von Verkäufern trennt. Wir lassen nicht zu, dass Jahrhunderte christlicher Zivilisation unter dem Vorwand eines Virus ausgelöscht werden, um eine hasserfüllte technokratische Tyrannei zu begründen, in der Menschen, deren Namen und Gesichter man nicht kennt, über das Schicksal der Welt entscheiden können, um uns in einer nur virtuellen Wirklichkeit einzuschließen. Wenn dies der Plan ist, mit Hilfe dessen uns die Mächtigen der Erde beugen wollen, dann mögen sie wissen, dass Jesus Christus, König und Herr der Geschichte, versprochen hat, dass die Tore der Unterwelt nicht siegen werden.“
Sätze wie diese folgen dem Schema von Verschwörungstheorien. Die Wirklichkeit ist nicht so, wie sie zu sein scheint. Hinter dem Corona-Virus und den zu seiner Eindämmung beschlossenen Maßnahmen stehen Interessen und Gruppen, deren Einfluss den „normalen Menschen“ verborgen ist. Anders als bei einer gängigen Verschwörungstheorie nennt das Dokument allerdings keine Namen und erhöht so noch die Geheimnishaftigkeit des Ganzen. Offenbar gehört die Pharmaindustrie zum Verschwörungskartell, ebenso die Internetwirtschaft. Wer es aber im Kern ist, der eine „hasserfüllte technokratische Tyrannei“ begründen und das Christentum zerstören möchte, wird nicht gesagt. Zumindest so offen hätten die Autoren sein müssen, ihr esoterisches Geheimwissen nicht für sich zu behalten. Die Verbindung von „Impfen“ und „Internet“ weist wohl in die Richtung der zur Zeit populären „Bill Gates“-Verschwörungstheorie.
Der Text als solcher und die Tatsache, dass ihm von hohen Würdenträgern Autorität gegeben wurde, ist berechtigterweise zum Skandal geworden. Er zieht die Arbeit derer in Zweifel, die sich in den letzten Monaten um die Handhabung der Krise bemüht haben. Politiker, öffentliche Verwaltungen, Mediziner, Pädagogen, aber auch Verantwortliche aus der Wirtschaft und der Kirche stehen plötzlich unter Anklage. Sie seien in der Logik der Theorien in eine geheime Verschwörung verwickelt. Man zieht ihr Motiv, möglichst viele Menschen vor der Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit bewahren zu wollen in Zweifel. Es seien gar keine guten Absichten gewesen, die sie geleitet haben, sondern handfeste Machtinteressen, durch die sie sich haben beeinflussen und steuern lassen. Dies bedeutet nicht, dass über einzelne Maßnahmen nicht gestritten werden dürfte. Es ist auch notwendig, die erheblichen Kollateralschäden des „shutdowns“ mit in das Kalkül zu ziehen. Nicht umsonst leben wir zur Zeit in einer Situation, in der versucht wird, durch langsame Lockerungen ein „normales“ Leben wieder zu ermöglichen. Wäre das etwa im Sinne einer angenommenen finsteren Geheimlobby, die vom Corona-Virus profitiert? Gehören die Bemühungen, allen Kranken eine angemessene medizinische Versorgung zu verschaffen zu den Maßnahmen der Begründer einer „technokratischen Tyrannei“?
Mit Verschwörungstheoretikern kann man in dieser Weise allerdings nicht diskutieren. Sie haben einen Sprung in eine andere Realität vollzogen. Appelle an die Vernunft oder Argumente aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse laufen bei ihnen ins Leere. Sie bewohnen eine Parallelwelt, von der aus alle von ihnen abweichenden Positionen der allgemeinen Verblendung und Propaganda geschuldet sind. Die Psychose liegt für sie nicht auf ihrer, sondern auf der anderen Seite, bei all den häufig unschuldig „verstrahlten“ Menschen, die die Wahrheit nicht erkennen möchten. Auch, dass sie ihre Annahmen nie stichfest beweisen können, ist kein Problem, sondern geradezu ein Beweis für die geschickte Verschleierung der Wahrheit. Verschwörungstheorien liefern einfache Erklärungen für schwierige Fragen und sie lenken die Aufmerksamkeit auf einen oder mehrere Schuldige. Sie geben dem einfachen Bürger die Möglichkeit, sich selbst zum Opfer finsterer Mächte zu erklären und eröffnen ihm den Ausweg des Heldentums, bis hin zur Bereitschaft, für die eigene Freiheit zu sterben.
So absurd einem solche Theorien vorkommen mögen, so gefährlich können sie sein. Die beständige Behauptung falscher Tatsachen und unbewiesener Annahmen erzeugt eine gewisse Plausibilität. Es scheint möglich zu sein, in einer solchen alternativen Weltdeutung zu leben, weil es andere auch tun. Und schließlich sorgt ein eigens aufgebauter Medienkosmos für beständig neue „Fakten“, die die Verschwörung zu belegen scheinen. Verschwörungstheorien sind damit ein kruder Spezialfall eines allgemeinen philosophischen Problems, dem Problem der Weltanschauungen. Es gibt keine neutrale Betrachtung der Welt. Unsere Art, die Welt zu betrachten speist sich aus unterschiedlichen Erfahrungen, Einsichten und gelernten Überzeugungen. Es ist die Eigenschaft der philosophischen und religiösen Metatheorien, die Welterfahrung und -wahrnehmung in ein plausibles Weltbild zu integrieren. Besonders fruchtbar war in dieser Hinsicht in den vergangenen Jahrzehnten etwa der Konstruktivismus mit seiner Rückführung gesellschaftlicher Vorgänge auf Macht- und Interessenfragen. Verschwörungstheorien sind im hohen Maße konstruktivistisch, indem sie versuchen, ein vorhandenes Weltbild durch Aufdeckung seiner Mechanismen zu zerstören, um ein neues, „wahres“ zu etablieren. Selbst die scheinbar objektive Naturwissenschaft ist in ihrer Letztbegründung eine Frage des Glaubens. Dies zeigt die Geschichte der Naturwissenschaft, in der sich die Paradigmen im Zuge neuer Erkenntnisse beständig verändern. Es gibt daher heute deutliche Apelle, auf geschlossene Weltbilder ganz zu verzichten. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel etwa plädiert für eine „Keine-Welt-Anschauung“[2], für eine Beschreibung verschiedener Sinnfelder, die sich gegenseitig berühren und kreuzen. Seine sehr komplizierten Überlegungen dazu kann ich hier nicht darstellen. Es genügt, an dieser Stelle festzuhalten, dass Weltbilder nicht absolut, also unantastbar sind.
Im Normalfall haben wir mit Weltbildern kein Problem. Sie sind sogar notwendig und sinnstiftend. Sie geben unserer Weltdeutung eine Sicherheit und werden als sinnstiftend erfahren. Was sie von exklusiven Weltbildern wie Verschwörungstheorien unterscheidet, sind mehrere Punkte. Man wird zuerst fragen dürfen, ob Weltbilder kritikfähig sind. Verfügen sie über genug Potential, sich in Frage stellen zu lassen und zu verändern? Zum zweiten ist die Frage der Neuheit zu hinterfragen. Wie kann es sein, dass plötzlich neue Wahrheiten über die Welt auftauchen, die vorher nie benannt wurden. Mit anderen Worten: Wie kann es sein, dass die Menschheit bis jetzt im Status der Unwissenheit gelebt hat und durch ein paar Erleuchtete in eine ganz andere Wahrheit geführt werden muss? Zum dritten stellt sich die Frage nach der Plausibilität: Ist es vernünftig, eine Verschwörung anzunehmen oder sind ihre Annahmen so unrealistisch, dass sie aus alternativen Quellen (z.B. aus der Naturwissenschaft) nicht erschlossen werden können? Skeptisch wäre ich zudem bei allen Theorien, die nur ein einfaches „entweder/oder“ kennen, also keine Anschlussfähigkeit zu allgemein verbreiteten Weltdeutungen finden. Zuletzt stellt sich die Frage, ob der verheißene „Erkenntnisgewinn“ auch einen praktischen Nutzen hat. Führen mich Verschwörungstheorien wirklich in eine größere Freiheit oder dienen sie nicht vielmehr dazu, mich selbst einzuschränken, meine Kontakte zu anderen Menschen abzubrechen oder den Frieden unter den Menschen zu gefährden?
Im Kern zweifeln Verschwörungstheorien, aber auch andere konstruktivistische Denkmodelle immer an der Wirklichkeit, wie ich sie wahrnehme. Der Zweifel ist für den kritischen Geist ein wichtiges Instrument. Es ist gut, die Welt und ihre Erscheinungsformen immer wieder kritisch zu hinterfragen. Es bleibt ein Ansporn, die Lebensbedingungen von Mensch und Schöpfung immer weiter zu verbessern. Es ist daher kein Wunder, dass sich manche Menschen aus den besten Motiven heraus einer Verschwörungstheorie anschließen und gängige Erklärungsmodelle hinterfragen.
Es gibt in diesem Zusammenhang ein wichtiges Buch des Alten Testaments. Es behandelt natürlich nicht moderne Verschwörungstheorien, stellt aber die Frage nach der Festigkeit von Denkmodellen und Überzeugungen. Im Buch Hiob schließen Gott und der Teufel eine Wette ab. Gott lobt den Mann Hiob als einen besonders frommen und gottesfürchtigen Menschen. Kein Wunder, so sagt der Teufel, ihm geht es ja auch gut. Er betrachtet seine Familie und seinen Wohlstand als Geschenk Gottes. Würde Hiobs Glaube tatsächlich aushalten, wenn ihm das genommen würde? Was ist, wenn bei ihm erst einmal der Zweifel an der Güte Gottes gesät ist? Tatsächlich findet das Experiment statt. Hiob verliert alles, was er hat, seinen Besitz und seine Familie. Außerdem wird er krank. Die folgenden Kapitel des Buches bestehen aus Gesprächen Hiobs mit seinen Freunden. Sie bieten ihm allerhand Theorien und Argumente an. Ist das Schicksal Hiobs vielleicht Folge einer Sünde, oder möchte Gott Hiob durch das Unglück zu einem besseren Menschen erziehen? Hiob weist alle diese Erklärungsversuche zurück. Er merkt, dass die menschlichen Gedanken über Gott zu kurz greifen. Er selbst beschränkt sich auf die Klage, greift Gott an, verhandelt mit ihm. Am Ende greift Gott selbst ein und offenbart seine Herrlichkeit. Er zeigt seine Größe in den Werken der Schöpfung, das wundersame Zusammenspiel in der Natur und unter den Menschen. Angesichts der Größe Gottes zieht Hiob seine Klage zurück. Er erkennt, dass er selbst „nichts verstanden“ hat (Hiob 42,3). Die Welt und Gottes Wirken ist zu groß, um sie in einem menschlichen Geist zu fassen.
Wer das Buch Hiob jetzt so liest, als sei die Weltdeutung damit gar nicht erlaubt, liegt falsch. Die entscheidende Einsicht Hiobs ist seine Demut, davor zurückzuschrecken, alles erklären und deuten zu können. Er relativiert sein eigenes Weltbild und das seiner Freunde. Das Buch Hiob warnt somit vor dem Hang zur Letztbegründung. Der Mensch der behauptet, alles sicher zu durchschauen, ist in seinem eigenen Gedankengut gefangen. Er braucht die Fähigkeit, sich zurückzunehmen und einzusehen, dass die Welt so groß und komplex ist, dass alle Erkenntnis immer Stückwerk bleibt. Eine solche Einsicht fördert die Fähigkeit, sein eigenes Weltbild zu hinterfragen, es durchlässig zu machen, es nicht abzuschotten. Und es fördert vor allem vor allem die Bereitschaft, die eigene Begrenzung mit anderen zu teilen, sich zugänglich, dialogfähig und veränderungsbereit zu halten.
[1] Sie finden den Text u.a. hier: https://www.kath.net/news/71579
[2] Markus Gabriel, Sinn und Existenz, Berlin 2016, 224-271.
Ein Kommentar zu „Über Verschwörer und Gewissheit“