Am letzten Dienstag erreichte mich ein Paket. Ich hatte im Onlineshop eines großen Bekleidungsgeschäfts einige Paar Socken bestellt. Das Auspacken machte mir dieses Mal erstaunliche Freude. Mir war plötzlich bewusst, dass ich hier das erste Mal seit vier Wochen einen Einkauf gemacht hatte, der über meine übliche Produktpalette (Lebensmittel, Hygieneartikel, Benzin und Zigaretten) hinausging. Das ungewohnte Shopping-Erlebnis empfand ich als etwas Besonderes. Es war ein wenig Normalität im ungewohnt eingeschränkten Alltag, eine Erinnerung an Vor-Corona-Zeiten und eine Vorausschau auf Nach-Corona-Zeiten. Jetzt ist Shoppen unter den Dingen, die ich zur Zeit nicht tue sicherlich noch die profanste Tätigkeit. Mehr als auf offene Geschäfte hoffe ich darauf, endlich einmal wieder Familie und Freunde jenseits der Mecklenburger Landes- und zur Zeit auch Infektionsschutzgrenze besuchen zu können. Auch freue ich mich auf den ersten Theaterbesuch, das erste Essen im Restaurant und den langsam dringend nötigen Besuch beim Friseur. Und schließlich hoffe ich auch auf Normalität im kirchlichen Leben. Die lange Liste von abgesagten und verschobenen Veranstaltungen muss irgendwann abgeschlossen sein. Es wird Zeit, die Familien, vor allem auch die Kranken wieder besuchen zu dürfen. Der Druck steigt langsam. Mehr und vehementer melden sich bei mir die Stimmen derer, die auf eine baldige Wiederaufnahme von Gottesdiensten, Katechese und Gemeindeleben dringen. Neben religiösen Motiven steckt dahinter bei Vielen auch der Wunsch nach einer Normalisierung der Zustände und nach der Möglichkeit, Bekannte und Freunde nach längerer Zeit im gewohnten Rahmen wiederzusehen.
Wann soll man also die Kirchen wieder „in Betrieb nehmen“? Als der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, in dieser Woche bei allem Verständnis für notwendige Vorsicht und Schutzmaßnahmen seine Unzufriedenheit über den Beschluss der Bundesregierung äußerte, religiöse Versammlungen schlicht noch nicht wieder zuzulassen, war der „shitstorm“ in den sozialen Medien programmiert. Es sei ja klar, dass die Kirchen wieder einmal auf Sonderrechte pochen würden. Sofort wurde aus einer kleinen Meldung wieder ein großes Problem. Dabei halte ich es für gerechtfertigt, dass die Kirchen, wie viele anderen gesellschaftlichen Gruppen auf die Notwendigkeit zur Wahrung ihrer Rechte, hier der Freiheit auf Religionsausübung, aufmerksam machen. Im Gegensatz zu Tourismusverbänden, Gaststätten, Ladenbesitzern, Zoos oder Kulturschaffenden geht es bei den Kirchen bei die Lockerung der strengen Vorschriften allerdings nicht um wirtschaftliche Fragen. Vom „Gottesdienstverbot“ geht niemand in die Insolvenz. Tatsächlich ist die Religionsausübung gefühlt eher in einer Linie zu sehen mit der Demonstrationsfreiheit, der Bewegungs- und Reisefreiheit, aber auch mit dem Wunsch nach Familienzusammenkünften. Für einen Außenstehenden ist es schwer verständlich, aber der Wunsch nach gottesdienstlicher Versammlung und seelsorglicher Begleitung ist uns Gläubigen eben wirklich ein wichtiges Bedürfnis. Wenn sich Menschen jetzt langsam wieder unter Auflagen in Shoppingmalls, Tierparks, Baumärkten, Museen oder auf Demonstrationen bewegen dürfen, warum dann nicht auch in Kirchen? Es gibt eine Schwierigkeit: Nach Einschätzung vieler Experten bergen gerade Versammlungen größerer Menschenmengen in geschlossenen Räumen über eine längere Zeit ein hohes Risiko für Infektionen, weshalb beispielsweise die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern als erste Maßnahme die Möglichkeit von Freiluftgottesdiensten in Aussicht gestellt hat. In jedem Fall ist damit zu rechnen, dass es auch bei Zulassung von Gottesdiensten in den nächsten Wochen strenge Auflagen geben wird. Bis zur Normalität wird es noch lange dauern.
Die Diskussion über die Rolle der Kirchen ist auf jeden Fall entbrannt. Wortstark melden sich die Kritiker zu Wort, die den Kirchen ihr schnelles Einlenken bei der Aussetzung von Gottesdiensten übelnehmen. Doch nicht nur das. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der mir bislang noch nicht als Verteidiger der Religion aufgefallen war, fragt in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung:
„Da ich an die Verantwortung von uns allen erinnert habe, komme ich hier nicht umhin, die noch schlimmere Verantwortung derjenigen zu erwähnen, die die Aufgabe gehabt hätten, über die Würde des Menschen zu wachen. Vor allem die Kirche, die – indem sie sich zur Magd der Wissenschaft gemacht hat, welche mittlerweile zur neuen Religion unserer Zeit geworden ist – ihre wesentlichen Prinzipien radikal verleugnet. Die Kirche unter einem Papst, der sich Franziskus nennt, hat vergessen, dass Franziskus die Leprakranken umarmte. Sie hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.“[1]
Dieses „heroische“ Argument zielt darauf, dass die Kirche sich in der Corona-Krise als Hort des Widerstandes gegen restriktive Vorgaben des Staates hätte bewähren müssen. Es wird tatsächlich von einigen Gläubigen geteilt. Ein Mitbruder erzählte mir neulich, wie er sich von einer Dame, die er angerufen hatte, um sich nach ihr zu erkundigen, wüst beschimpft wurde, er habe seinen Glauben und sein Amt verraten, indem er die Einschränkungen zum Gesundheitsschutz mittrage. Agamben hatte mit seiner Kritik allerdings übersehen, dass gerade in Italien eine beträchtliche Anzahl von Priestern, die sich bei Krankenbesuchen infiziert hatten, am Corona-Virus gestorben war. Auch in der im Vergleich zu Italien etwas ruhigeren Lage in Deutschland wird die Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen, in Beratungsstellen und Gemeinden fortgesetzt. Der Hildesheimer Bischof Heiner Willmer konterte solche Vorstellungen in einem Interview im Deutschlandfunk am 12. April:
„Ich sehe das anders. Wir leben in einer Gesellschaft. Wir gehören zusammen. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist wichtig, auch für uns Kirchen, wir können uns da nicht absondern. Wir stehen als Menschen zusammen. Es kann nicht sein, dass wir eine katholische Nische bilden und uns absondern und alles besser wissen. Wir haben zusammenzustehen und wir haben in den Ministerien Experten, im Gesundheitsministerium. Wir haben Menschen, die sich in hoher Verantwortung um das Gut und das Wohl der Menschen in Deutschland und auch darüber hinaus kümmern. Es gehört zu meinem Glaubensverständnis, dass ich Respekt übe, dass ich Menschen, die sich um andere kümmern, mit Hochachtung begegne und mir auch fremden Rat hole und mich auch führen lasse von Experten in einer schwierigen Zeit.“
Diese Linie, die auf eine Einordnung in den gesellschaftlichen Gesamtkontext und auf eine Befolgung der Ratschläge von Experten setzt, dürfte von der Mehrheit der Bischöfe und Priester geteilt werden. Trotzdem bleibt eine gewissen Spannung. Neben den objektiven Maßnahmen, die die Verantwortlichen zum Schutz vor Virusinfektionen ausgegeben haben gibt es ein subjektives Sicherheitsbedürfnis. Es gibt sowohl diejenigen, die Lücken in den Vorschriften suchen, um doch noch Versammlungen und Begegnungen zu ermöglichen und diejenigen, die sich nur im Schutzraum der eigenen vier Wände sicher fühlen. Es gibt Freigeister, genauso wie Übervorsichtige. Es tut einer freien Gesellschaft zumindest gut, über Fragen offen diskutieren zu können. Es scheint mir eine wichtige Veränderung der letzten Tage zu sein, das Gemeinwohl und individuelle Freiheiten in ein gutes Verhältnis zueinander setzen zu wollen. Genau in dieser Spannung liegt auch die Frage der Lockerung der Einschränkungen für religiöse Versammlungen. Es gilt, das richtige Maß zwischen einem Überprotektionismus auf der einen und Laisser-faire auf der anderen zu finden. Zwischen beiden Extremen liegt ein Freiraum, von dem ich mir wünschen würde, dass er durch gegenseitigen Respekt geprägt sein wird. Ich wünsche mir, dass vorsichtige Geister es respektieren, wenn Christen wieder zum Gottesdienst zusammenkommen und ich hoffe, dass diese die nötigen Vorsichtsmaßnahmen respektieren.
[1] NZZ vom 15.04.2020
Diejenigen, die schon wieder von einer Sonderrolle der Kirchen reden, gehen doch ohnehin nicht in die Gottesdienste. Und wenn immer von der Fürsorge für die Alten geredet wird: Darf ich vielleicht selbst darüber entscheiden, wie sehr ich mich gefährde (solange ich keinen anderen damit gefährde). Es könnte „Eintrittskarten“ geben…es könnten häufiger Messen gefeiert werden, damit wir uns verteilen können…es könnte „Platzanweiser“ geben, die alles ein bisschen regeln …usw.usf. Aber diese Entmündigung von oben (unter dem Deckmantel der Fürsorge) ärgert mich. Ein Mann aus Dassow darf in Lübeck seine alte kranke Mutter nicht besuchen, aber er darf nach Warnemünde fahren ind gucken, ob der Leuchtturm noch nicht umgefallen ist. Es gibt viele vernünftige Anordnungen und manche unsinnige. Grundsätzlich ALLE religiösen Feiern abzusagen, auch jetzt noch, wo in D immerhin etwas Entspannung zu beobachten ist, gehört für mich in die 2. Kategorie.
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Auch wenn ich nicht kirchlich bin und die Kirche nicht besuche, finde ich die längere Einschränkung trotzdem fehl am Platz. Denn wie kann es sein, daß ich den Baumarkt besuchen kann, aber die Menschen nicht in die Kirche dürfen oder in welches Gotteshaus auch immer? Aber es sind so einige Entscheidungen, die nicht ganz nachvollziehbar sind. Mal ganz positiv gesehen, gehen wir mal davon aus, daß auch Politiker nur Menschen sind und mit der Situation leicht überfordert. Deren Verantwortung möchte ich im Endeffekt auch nicht tragen. Aber es ist richtig, wie im obigen Kommentar, man kann die Menschen auch selbst entscheiden lassen, statt uns wie Unmündige zu behandeln. Das ist eigentlich der Punkt, der glaube ich, alle am meisten aufregt.
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