Umberto Boccioni, italienischer Maler und Futurist, malte 1911 zwei Gemälde. Das erste trägt den Titel „Quelli che vanno“ („Die, die gehen“). Dynamische Linien ziehen sich von links nach rechts. Unter ihnen zeigen sich Fragmente einer vorbeiziehenden Landschaft. Man könnte an den Blick aus dem Fenster in einem schnell fahrenden Zug denken. Das andere Bild heißt „Quelli che restano“ („Die, die bleiben“). Es zeigt vertikale Linien hinter denen einige gebeugte Gestalten zu sehen sind. Die, die gehen und die, die bleiben – es ist nicht schwer zu sehen, welchen von ihnen Boccioni den Vorrang gibt. Der Stillstand ist traurig, die Bewegung beflügelt. Boccioni ist nicht umsonst Futurist. Seine Begeisterung gilt der Dynamik. Die Futuristen feierten den technischen Fortschritt, die Geschwindigkeit und die Veränderung. Sie greifen damit einem bis heute gültigen Lebensgefühl vor. Positiv sind die, die etwas Neues wagen, diejenigen die aufbrechen. „Stillstand ist Rückschritt“ oder auch „Stillstand ist der Tod“. Das Bleiben ist bestenfalls langweilig. Es hemmt die persönliche Entwicklung. So gehören selbst zu den Generationen, die aufbrechen wollten, kreativ sein, sich ausprobieren, ins Risiko gehen, die Welt sehen.
Das Aufbrechen ist eigentlich etwas Elitäres. Das Bleiben war über Jahrhunderte der Normalfall. Das Mittelalter kennt ein paar Privilegierte, die durch Europa reisten, aber auch die große Masse, die häufig noch nicht einmal ihr eigenes Dorf oder Stadtviertel verließ. Die Märchen handeln häufig von Menschen, die einmal in ihrem Leben eine große Reise unternahmen und dabei Abenteuer erlebten. Einige waren Handwerker, die zur Ausbildung durch das Land zogen. Hans im Glück z.B. hat nach sieben Jahren seine Lehre beendet und zieht nun nach Hause, beim „Tischlein deck dich“ sind es drei Brüder, deren Lehrjahre erzählt werden, ganz ähnlich im Märchen „Die drei Handwerksburschen“. Die zukünftigen Sesshaften erlebten einmal im Leben die große weite Welt und kehren dann wieder zurück. Diejenigen, die sich stets bewegen, sind eher von zweifelhafter Natur. Es sind Soldaten, Händler oder Schausteller, „fahrendes Volk“. Denen, die gehen, muss man mit Vorsicht begegnen, denen, die bleiben, kann man vertrauen.
Das Evangelium von den zwei Söhnen ist in dieser Hinsicht unentschieden. Derjenige, der geht und das Vermögen verschleudert, wird später im Gleichnis zur positiven Figur, derjenige, der bleibt, hat zunächst einmal das Richtige gewählt, wird aber im Laufe des Gleichnisses aber zum negativen Charakter, als er das Verhalten des Vaters kritisiert. Interessant ist, dass die Konstellation des Gleichnisses auch heute noch bekannt ist. Es gibt heute noch die, die gehen und die, die bleiben. Fragen Sie einmal in einer Abschlussklasse einer Schule nach. Da gibt es die, die jetzt erst einmal etwas ganz anderes machen möchten, am besten eine Weltreise. Es sind die, die neue Erfahrungen sammeln möchten, häufig auch die, die hoffen, sich später kreativ oder künstlerisch verwirklichen zu können, einen alternativen Lebensstil zu pflegen, etwas zu wagen, vor allem aber, nicht gewöhnlich zu sein. Und dann gibt es die, die bereits für einen klaren Beruf anvisieren, vielleicht sogar schon einen Ausbildungs- oder Studienplatz haben, gerne lieber in der Nähe bleiben, das heimatliche Umfeld schätzen, ihre bisherigen Hobbies und Freundeskreise weiter führen möchten. Beides kann gelingen.
Im Gleichnis gelingt es nicht – bei beiden. Derjenige, der auszog und ging, merkt, dass ihn die Dynamik der Fremde mitgerissen hat. Er verliert mit der Zeit alles, was ihn an zu Hause gebunden hat. Ein zentraler Punkt des Gleichnisses ist in diesem Teil der Erzählung zu finden. Es geht um den Moment, in dem der Sohn in sich geht. Im Moment des Scheiterns zeigt sich seine Größe. Als er sein Geld verspielt hat und nur noch Schweine hütet, erkennt er sein Unglück. Das alleine sagt noch nichts. Sprechen Sie mit Leuten, die ausgezogen sind und gerade dabei sind, in ihren hohen Träumen zu scheitern sagen sie Dinge wie: „Ich nutze die Zeit gerade, um neue Projekte zu planen“, „Ich gehe gerade durch ein kleines Tal“ oder „Die Phase ist gerade finanziell schwierig, aber kreativ sehr effizient“ oder „Im Augenblick haben sich die anderen offensichtlich gegen mich verschworen, aber das geht vorbei“. Das Entscheidende ist, dass sich der Sohn sein Scheitern eingesteht. Er kann aus eigener Kraft nichts mehr bewirken. Er ist auf die Hilfe seines Vaters angewiesen. Theologisch gesprochen müssten wir sagen, er gibt der Gnade Raum um zu wirken. Auf dem gescheiterten Aufbruch wird ein erneuter Aufbruch. Der Sohn ist wieder einer, der geht.
Der andere Sohn ist geblieben. Er hat sich seinen Status aufgebaut. Als sein Bruder zurückkommt, versteht er das Verhalten des Vaters nicht. In seiner Logik hätte der Bruder niemals weggehen dürfen. Er hat sein Erbe verschleudert und sein Weggehen teuer bezahlt. Wenn er jetzt rehabilitiert wird, handelt der Vater nicht gerecht. Er gibt dem einen Sohn, dem verlorenen, mehr als dem andern, dem gebliebenen. Der Fehler des zweiten Sohnes ist, dass er das Handeln des Vaters nicht zulassen möchte. Er versteht die Dynamik der Gnade nicht. Er kann sich ihr gegenüber nicht öffnen. Er schafft den gedanklichen Aufbruch nicht in eine Dynamik, die seine Wertvorstellungen noch einmal auf den Kopf stellen kann. Jesus verbindet im Gleichnis die beiden Grundmotive. Es geht ihm ja um eine religiöse Frage. Wer ist für das Reich Gottes bestimmt? – Das heißt: Wer darf sich über die Zuwendung Gottes und ein glückliches Leben bei ihm freuen? Im Letzten geht es immer um ein Bleiben bei Gott. Es sind vordergründig, die, die bleiben im Vorteil. Aber dahinter zeigt sich eine Dynamik, die Jesu Hörer nicht einkalkuliert hatten. Die Möglichkeit der Bewegung, auch der Verfehlung und Vergebung, schließt das Bleiben bei Gott nicht aus. Das Bleiben selbst ist dynamisch. Es ist kein status quo, in dem ich mich einrichten könnte. Es erfordert weiter mein Bemühen, mein Erstaunen, mein Erforschen Gottes. Er ist in der Lage, mich jederzeit zu überraschen. Der Wirkraum der Gnade ist viel größer als gedacht. Er umfasst das Gehen und das Bleiben.
Anmerkung: Die beiden Boccioni-Bilder (s. Foto) sind in Mailand im Museo del 900 ausgestellt.