Die Dinge zurücklassen

Wer kann heute schon noch richtig Christ sein? Angesichts der Verpflichtungen und Dinge, aus denen mein Leben besteht, der Macht des Terminkalenders, der Sorge für meine Wohnung, der Menschen, die etwas von mir wollen, des Telefons, das sich angewöhnt hat, immer im ungünstigsten Augenblick zu klingeln. Wo soll ich die Zeit hernehmen, wenn meine Zeit gefordert und strapaziert wird, vom Fernsehen, Internet, von der Erholung?  – Und die Dinge, die ich selbst noch gern machen möchte und die Dinge, die man von mir erwartet, das öffentliche Leben, das mich mit seinen Spielregeln überwölbt, die Konventionen die ich beherrschen muss, die Freundlichkeit, die man von mir erwartet. Dabei wollte ich doch noch einen Brief schreiben, jemanden besuchen, mich um etwas kümmern, das ich schon lange vor mir herschiebe; die Ablage, die nicht leerer wird und die ungeöffnete Post, die auf mich wartet, mein elektronischer Postkasten, der von Werbung überquillt, die mich um freundliche Beachtung bittet, die Wäsche, die schon seit Tagen auf der Leine hängt, der Kühlschrank, der gefüllt werden möchte.

Das ist nun mal so, dass ich eingespannt bin in meine persönlichen und beruflichen Pflichten, in eine Gesellschaft, die mir ein bestimmtes Verhalten abfordert, in das Netz meiner Familie und Freunde, von dem ich froh bin, dass ich es habe. Und irgendwie funktioniert das alles schon, mein Leben wird deswegen nicht zum Chaos, denn ich passe ja auf. Könnte ich das einfach alles abstoßen und ausbrechen, wie es das Evangelium fordert, herausbrechen aus den Bezügen, in eine Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber kommen? Jesus möchte den Zuhörern im Evangelium die fundamentalsten Bindungen versagen, nämlich die familiären und die andern, die materiellen ja sowieso, das kennen wir aus anderen Stellen. Im Lukasevangelium heißt es:

In jener Zeit als viele Menschen Jesus begleiteten, wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. Wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und rechnet, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden. Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet. (Lk 14, 25-33)

Muss ich als Christ also als Aussteiger leben? Ich behaupte, das kann ich gar nicht. Wenn mein Dienst als Christ der der Heiligung der Welt sein soll, kann ich die Welt nicht einfach abschütteln wie Staub, der sich unbemerkt im Lauf der Zeit auf mich gelegt hat. Das wäre Esoterik, die mich vergessen lässt, dass ich selbst aus diesem Staub bin. Wie kann ich also aussteigen und doch drinbleiben, alles verlieren und doch gewinnen, loslassen und doch an mich binden?

Auf der Suche nach einer Antwort bin ich auf ein Gedicht von Hilde Domin gestoßen. Es heißt “Ausreisegedicht”[1]:

Die Gegenstände sehen mich kommen

barfuß

ich gebe ihnen die Freiheit wieder

meinem Bett, das mein Bett sein wollte

meinem Tisch

den Wänden die auf mich zu warten versprachen

wie die Wände der Kindheit.

Meine sanften Gegenstände

ihr wolltet mich sammeln.

Gegenstände,

ihr seht mich gehen.

Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Dichterin einen sentimentalen Blick auf ein Zimmer wirft, das sie nun verlässt, als ob sie sich von einer vertrauten Umgebung verabschieden wollte. Sie hat die Dinge an sich gebunden und möchte ihnen die Freiheit wiedergeben, wie sie sagt. Aber dieser erste Eindruck täuscht. Auf den zweiten Blick entdeckt die Dichterin, dass die Gegenstände, das Bett, der Tisch, die Wände ihr etwas versprochen hatten, was sie nicht einlösen konnten, nämlich, ihr eine Heimat zu geben. Die Dinge haben im Gegenteil sie selbst gefesselt. Das, was sie sich von ihnen erhoffte, ist nicht eingetreten, die Verheißung war trügerisch oder oberflächlich oder irrig. „Meine sanften Gegenstände ihr wolltet mich sammeln”. Die Dichterin merkt, wie sie sich von den Dingen im Laufe der Zeit gefangen hat nehmen lassen. Unmerklich drohte sie selbst Teil des sanften und vertrauten Umfelds zu werden, ein Gegenstand unter anderen, ihre Einrichtung ist zum Einrichter geworden. Und nun bricht sie aus, nicht gewaltsam, aber bestimmt. Sie erinnert die Gegenstände an etwas Entscheidendes: Nämlich, dass sie es ist, die den Schritt nach draußen tun kann, dass sie selbst es in der Hand, aus dieser Verstrickung herauszugehen.

Der Schritt aus der Verwobenheit ist ein selbstbewusster Schritt. Bei allem was mich umgibt, was mich beeinflusst und bedrängt, bin ich es doch immer noch selbst, der darüber bestimmen kann. Nicht die Dinge haben mich, sondern ich sie. Sie sollen mich nicht niederdrücken, fesseln, gefangenennehmen oder versklaven, sondern ich bin es der sie ordnet und ihnen den richtigen Platz zuweist. Und erstaunlicherweise verwendet Jesus das gleiche Bild im Evangelium. Der Architekt, der den Turm bauen möchte und der Heerführer, der in den Krieg zieht, das sind Personen, die das ihre zu ordnen verstehen, die abwägen und rechnen müssen, nicht aus dem Bauch heraus, sondern mit klarem Kopf entscheiden.

Ich glaube, als Christ darf ich es lernen, den Dingen eine Struktur zu geben, nicht ihren Versprechungen zu glauben, sondern ihren Wert an sich zu betrachten. Und wenn mein Ziel ist: Ich möchte Jesus nachfolgen, weil ich überzeugt bin, dass er mich auf dem richtigen Weg führt, dann wird alles andere von dorther seine Ordnung erhalten. Und zwar (und davon bin ich überzeugt) ohne, dass die Menschen an meiner Seite dadurch weniger Liebe von mir zu erwarten hätten.   


[1] Domin, Hilde, Ausreisegedicht in: Dies., Hier, Frankfurt 2004 (1993), 26.

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