Fliegenberg ist ein kleines Dorf. Es liegt etwa 25 Kilometer von der Hamburger City entfernt am südlichen Elbufer. Es ist eine reizlose Gegend – Felder, Wiesen und der Elbdeich. Die Elbe ist hier kein großer Strom sondern eher ein mittelgroßer, sich langsam bewegender Fluss. Auf einer Fahrt durch den Landkreis Harburg kam ich an Fliegenberg vorbei. Ich hätte das verschlafene Örtchen nicht weiter beachtet, wenn nicht ein Hinweis an der Straße meine Aufmerksamkeit geweckt hätte. Ein Schild verwies auf einen Campingplatz. Tatsächlich, hinter einem kleinen Wäldchen gab es eine fußballfeldgroße Wiese. Auf ihr stand eine beträchtliche Anzahl weißer Caravans. Wer bitte macht denn Urlaub in Fliegenberg? Dort gibt es nichts – keine Sehenswürdigkeiten, keine Wanderwege, keine Tourismusattraktionen – nur die Elbe, ein Fluss, in dem man nicht mal baden kann. Offensichtlich gibt es Menschen, die im Urlaub nichts brauchen außer ihrem Wohnwagen und ein wenig Ruhe.
Das Bild vom Urlaub hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Früher unterschied man in der Regel zwischen Erholungsurlaub (am Strand von Mallorca), Aktivurlaub (Wandern in den Alpen) und Bildungsurlaub (Gotische Kathedralen in Nordfrankreich). Heute bevorzugen wir Mischformen. Clevere Reiseanbieter kombinieren Aktiv- und Kulturprogramm mit Erholungsphasen. Die geballte und potenzierte Form eines solchen Urlaubs ist die Kreuzfahrt. Sie verspricht maximalen Komfort (mit maximaler Essensversorgung) mit Action und Unterhaltung und zugleich die Teilhabe an den aufregendsten Städten und Sehenswürdigkeiten. Vom Sofa geht es also dank mitreisendem Luxushotel direkt zum Sightseeing. Das Kulturprogramm wird in Form einfacher Snacks serviert – heute Barcelona, morgen Marseille, übermorgen Rom. Dieses Programm erfordert in der Regel kein ausführliches Studium elaborierter Kulturreiseführer mehr. Dank Bustransfers und „guided tours“ wird den Schiffstouristen die Not der Reiseplanung abgenommen. Ich erinnere mich an den Bericht einer Dame, die auf Mittelmeerkreuzfahrt Rom besuchte. Nach der Landung des Schiffes in Civitavecchia folgte die 90minütige Fahrt nach Rom, 90 Minuten Anstehen vor dem Petersdom, anschließend im Bus weiter zum Kolosseum, eine Stunde Aufenthalt in der Innenstadt und dann wieder 90 Minuten zurück zum Schiff. Ein gefüllter Tag, ein paar schöne Eindrücke, ein paar Selfies auf facebook geteilt („schaut mal, wo wir gerade sind – es ist atemberaubend…“) und ein paar Souvenirs. Früher haben wir uns noch über die Japaner lustig gemacht, die Europa in 10 Tagen durchhetzten, heute werden offensichtlich Viele mit größtem Vergnügen selbst zu Japanern.
Über die Auswüchse der kulturellen Snack-Urlaube im Zeitalter des Massentourismus hat der italienische Journalist Marco d’Eramo ein schönes Buch geschrieben.[1] Er beobachtet angesichts der Massen, die sich durch Rom, Florenz oder Venedig wälzen mehr als nur die unangenehmen Folgen von verstopften Straßen, zunehmendem Handel mit Nepp und Pfusch, betrügerischen Wirten oder Müllbergen. D’Eramo beklagt mit Blick auf seine italienische Heimat vor allem den Verlust dessen, was die Touristen eigentlich suchen. Kann man in Rom oder Venedig eigentlich noch Italien erleben? Gibt es noch so etwas wie Ursprünglichkeit oder Originalität? Die Innenstädte entvölkern sich zunehmend. Wohnungen werden zu „Airbnb“-Quartieren. Normale Römer z.B. können sich das Wohnen in der eigenen Stadt kaum noch leisten. Die traditionellen Bars weichen neuen weiß gestrichenen Andenkenläden. Echte römische Restaurants sind neben den „Pizza-Pasta-Cold Drink“-Schuppen immer seltener zu finden. Die Souvenirs werden in China gefertigt, die Köche der Restaurants sind Inder, die „Gladiatoren“ vor dem Kolosseum sprechen die fotografiewillige Kundschaft in deren Landessprachen an. Was die Leute zu sehen bekommen, so d’Eramo, sei eigentlich nicht mehr Rom oder Venedig, sondern nur noch eine Kulisse, die durch eine multinationale Tourismusindustrie bespielt wird. Mittlerweile verlagert sich dieser Trend auch auf die kleinen Orte. Was früher als Geheimtipp galt, ist heute Ausweichziel für Menschen, die dem touristischen Hype entgehen wollten. Wer heute in den „Cinque Terre“ wandern gehen möchte, muss sich vorher für den Wanderweg anmelden, auch Städte wie Hamburg, Breslau oder Triest (früher eher touristische Ziele der Kategorie „B“) werden von Besuchern geflutet. Derzeit prüft die norwegische Regierung Beschränkungen für den Besuch des Preikestolen, ein Felsen, der immerhin nur mit einer zweistündigen Fußwanderung zu erreichen ist. Aus eigener Betroffenheit graut mir schon vor dem Tag, an dem das Schweriner Schloss als Titelbild auf einem chinesischen Reiseprospekt erscheint (nachdem Versailles, Neuschwanstein, Ninfa, Schönbrunn und die Loire-Schlösser wegen Überfüllung einfach „keinen Spaß mehr machen“).
Geistlich betrachtet birgt der touristische Overkill ebenfalls eine Gefahr. Eigentlich hatte der Urlaub ja eine sehr wichtige Funktion. Er sollte zur körperlichen und geistigen Entspannung beitragen, inspirieren und erfreuen. Heute erlebe ich immer wieder Leute, die nach teuer bezahltem Reisestress und visueller Reizüberflutung froh sind, wieder in einen geregelten Arbeitsalltag zu kommen. Mir ist das auch schon passiert. Ich gehörte eigentlich auch immer zu denen, die im Urlaub viel sehen und erleben wollten. Die derzeitige Situation verursacht auch bei mir die krisenhafte Frage, wie ich meinen Urlaub heute sinnvoll gestalten kann. Dabei ist die Sache eigentlich einfach: Der Mensch lebt in der Spannung zwischen Aktion und Kontemplation. Kontemplation ist dabei der Zustand einer erfüllten Ruhe, auf der einen Seite Entspannung, auf der anderen Seite eine seelische Erholung, die es den geistigen Kräften ermöglicht, sich neu zu sammeln und Kreativität freizusetzen. Der Philosoph Byung-Chul Han sieht in unserer modernen Lebensweise die Unfähigkeit, einen Schluss zu setzen. Das Leben wird, so sagt er, bloß noch additiv:
„Selbst die Wahrnehmung ist heute unfähig zum Schluss, denn sie eilt von einer Sensation zur nächsten. Nur ein kontemplatives Verweilen ist fähig zum Schluss. Augen-Schließen ist ein Sinnbild für den kontemplativen Schluss. Die andrängenden Bilder und Informationen machen das Augen-Schließen unmöglich. Ohne die Negativität des Schlusses kommt es zur endlosen Addition und Akkumulation des Gleichen, zum Übermaß der Positivität, zur adipösen Wucherung der Information und Kommunikation.“[2]
Den Urlaub kann man vielleicht als ein solches „Schließen“ gestalten. Er unterbricht das gewohnte Leben und versetzt uns in eine andere Umgebung. Zum Schließen der Informationskanäle im Urlaub (E-Mail, Telefon, soziale Netzwerke) raten mittlerweile ziemlich alle Ratgeber und Coaches. Der Urlaub ist ein Abschluss des Arbeitsjahres mit Zeit, das Geschehene zu verarbeiten und es hinter sich zu lassen. Die freie Zeit ermöglicht die Kontemplation als Möglichkeit, die eigene Wahrnehmung wieder zu schulen, den Überreiz abzustellen, zu Schlafen und sich vor Überflutung durch Informationen zu schützen. Ich habe festgestellt, dass es manchmal angenehmer ist, eine Kirche oder eine Altstadt ohne Reiseführer und Erklärungen anzusehen. Ich bin mittlerweile in der luxuriösen Situation mir nicht immer wieder neu erklären lassen zu müssen, was ein Dormitorium ist, ein Chorumgang, ein korinthisches Kapitell, wozu ein Audienzsaal diente, ein Triclinium, oder die Cella eines antiken Tempels.
Das Gleichgewicht von Kontemplation und Aktion wurde in Westeuropa in den Klöstern erfunden und gelebt. Von Bernhard von Clairvaux, dem großen Theologen der Zisterzienser haben ich (leider ohne Herkunftsangabe) ein schönes Zitat gefunden:
„Wenn du dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich dich dann loben? Darin lobe ich dich nicht… Ich fürchte, dass du, eingekeilt in deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb deine Stirn verhärtest. Dass du dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst dich von Zeit zu Zeit deinen Beschäftigungen, als dass sie dich ziehen und dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst… An den Punkt, wo das Herz hart wird. Und frage nicht weiter, was damit gemeint sei; wenn du jetzt nicht erschrickst, ist dein Herz schon so weit…“
Die Kontemplation, die hier natürlich in erster Linie als
Gebet und Schriftmeditation gedacht ist, führt aus dem Kreislauf des
unentwegten Tätigseins heraus. Sie verhindert, dass das Herz hart wird. Das ist
ein bekanntes Wort aus der Heiligen Schrift. Im Buch Exodus ist das Herz des
Pharao hart geworden, so dass er auf die Wünsche des Mose nach Freiheit für
sein Volk nicht mehr reagieren kann (Ex 7,13). Die Propheten warnen vor einem
harten Herzen, das nicht mehr in der Lage ist, Gott zu erkennen, sondern nur
noch das Eigene sieht (z.B. Jes 63,17). Jesus nennt im Anschluss an Jesaja diejenigen
„hartherzig“, die ihn und seine Botschaft nicht erkennen wollen (z.B. Joh 12,40).
Die Kontemplation ist der Modus, Gott näher zu kommen, eine neue Offenheit zu
gewinnen und sich selbst in Frage zu stellen. Das sich „erweichende“ Herz ist
Element einer Umkehr, die einen neuen Anfang ermöglicht. Für den Urlaub könnte
man also idealerweise zwei Ziele nennen: Das Herz „erweichen“ (oder „öffnen“)
und die Augen schließen.
Mein nächster Urlaub geht nicht nach Fliegenberg. Aber
nach dem kleinen Gang durch unsere Urlaubskultur muss ich den
Fliegenberg-Urlaubern ein Kompliment machen. Sie haben offensichtlich eine
wichtige Dimension des Urlaubs verstanden. Die Reizlosigkeit des Ortes hat
offensichtlich für die Entspannung einen Reiz. Ich bin selbst gespannt, ob ich
dem Drang zum Erlebnis und zum Input in meinem nächsten Urlaub besser widerstehen
kann. Schließlich würde meine Entspannung mir selbst und wahrscheinlich auch
anderen zu Gute kommen.
[1] Marco d’Eramo, Die Welt im Selfie, Berlin 2018.
[2] Byung-Chul Han, Vom Verschwinde der Rituale, Berlin 2019, 37.
Das Zitat von Bernhard von Clairvaux entstammt seinen Briefen an Papst Eugen III.
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Super, vielen Dank !
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