Wartezeiten auf dem Bahnhof verkürze ich mir meist damit, dass ich in die Zeitschriftenläden gebe. Jedes Mal bin ich wieder über die Menge und Vielfalt von Druckerzeugnissen erstaunt, vom Rätselblatt, über Philosophiemagazine bis hin zu Fachzeitschriften für Mofa- oder Dampflokfreunde. Derzeit liegt in den Auslagen ein Magazin mit dem Titel „GG“ überschrieben ist. „GG“ steht für Grundgesetz. Das Heft hat den Anspruch, die einzelnen Artikel des Grundgesetzes für jeden zu erläutern und lebensrelevant zu machen. Die Macher hinter dem Heft waren der Ansicht, dass eigentlich jeder in Deutschland das Grundgesetz kennen sollte. Und wenn schon fast niemand den Text bei sich im Regal stehen hat, so könne doch eine ansprechend gemachte Zeitschrift dazu helfen, sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen. Tatsächlich erfährt das Grundgesetz, das vor 70 Jahren verabschiedet wurde, wieder verstärkte Aufmerksamkeit. Das hat mit den Fragen der Migration zu tun, aber auch mit dem verschärften politischen Streit. Wer kann für sich berechtigterweise behaupten, im Sinne der Verfassung zu argumentieren. Das Grundgesetz und die in ihm festgestellten Werte und Normen werden als Basis für das gesellschaftliche Zusammenleben gebraucht. Ohne Zweifel ist es ein eminent wichtiger Text. Man kann den Ansatz, sich verstärkt mit dem Grundgesetz zu befassen nur begrüßen. Allerdings, so sehe ich das zumindest, ist ein Gesetzestext halt ein Gesetzestext. Er regt meinen Kopf an, aber kann er wirklich Begeisterung entfachen? Dass Leute jubeln oder vor Begeisterung weinen würden, wenn das Grundgesetz öffentlich vorgelesen würde, kann man sich kaum vorstellen.
Etwas Ähnliches geschieht aber im Buch Nehemia:
„In jenen Tagen brachte der Priester Esra das Gesetz vor die Versammlung; zu ihr gehörten die Männer und die Frauen und alle, die das Gesetz verstehen konnten. Vom frühen Morgen bis zum Mittag las Esra auf dem Platz vor dem Wassertor den Männern und Frauen und denen, die es verstehen konnten, das Gesetz vor. Das ganze Volk lauschte auf das Buch des Gesetzes. Der Schriftgelehrte Esra stand auf einer Kanzel aus Holz, die man eigens dafür errichtet hatte. Esra öffnete das Buch vor aller Augen, denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle.
Dann pries Esra den Herrn, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem Herrn nieder, mit dem Gesicht zur Erde.
Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten. Der Statthalter Nehemia, der Priester und Schriftgelehrte Esra und die Leviten, die das Volk unterwiesen, sagten dann zum ganzen Volk: Heute ist ein heiliger Tag zu Ehren des Herrn, eures Gottes. Seid nicht traurig und weint nicht! Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte des Gesetzes hörten.
Dann sagte Esra zu ihnen: Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen Wein! Schickt auch denen etwas, die selbst nichts haben; denn heute ist ein heiliger Tag zur Ehre des Herrn. Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“
Das Gesetz wird verlesen und die Leute sind außer sich vor Begeisterung. Was steckt dahinter? Um das zu verstehen, braucht es ein paar Hintergrundinformationen zum Buch Nehemia, aus dem die Passage der Lesung stammt. Es geht um das 5 Jahrhundert vor Christus. Das jüdische Volk war aus dem babylonischen Exil wieder zurückgekehrt. Bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier wurden Stadt und Tempel zerstört. Die führenden Familien des Volkes waren nach Babylon verschleppt worden. Als sie zurückkamen fanden sie nur noch Ruinen vor. Es dauerte noch eine lange Zeit, bis ihnen der Aufbau Jerusalems wieder gestattet wurde. Zentrale Figuren waren dabei der Stadthalter Nehemia und der Priester Esra. Der erste sorgte für den äußeren Aufbau der Stadt, der andere für den inneren Aufbau des Volkes. Als die Mauern von Jerusalem wieder errichtet sind, nimmt Esra das Gesetz, also die fünf Bücher Mose und liest sie dem versammelten Volk vor. Damit wird das Gesetz Gottes wieder in Kraft gesetzt. Die Menschen, beginnen zu weinen, als sie das Gesetz wieder hören. Endlich sind sie wieder ein Volk und endlich sind sie wieder zu Hause in Jerusalem. Das Gesetz stiftet ihre Identität neu und es zeigt zugleich die Unabhängigkeit Israels an. Von jetzt an werden wir uns wieder von Gottes Wort leiten lassen und nicht mehr fremde Gesetze werden über uns bestimmen.
Es gibt in der bundesdeutschen Geschichte eine ganz ähnliche Episode. Es geht um das Jahr 1955. Damals unternahm Bundeskanzler Adenauer eine wichtige Reise nach Moskau. Auch jetzt, zehn Jahres nach Ende des Krieges waren 10 000 ehemalige Kriegsgefangene weiterhin in Arbeitslagern der Sowjetunion interniert. Adenauers Ziel war es, die Gefangenen frei zu bekommen. Die Verhandlungen gestalteten sich zäh. Am Ende aber gab es einen Durchbruch. Die Sowjetunion sagte die Freilassung der Zwangsarbeiter zu. Ihre Ankunft wurde zu einem großen Ereignis. Die Filmaufnahmen zeigen eine riesige Menschenmenge, die sich im Lager Friedland versammelt hat. Frauen halten Plakate mit den Namen und Fotos ihrer vermissten Ehemänner und Söhne. Als die Züge mit den Gefangenen eintreffen, verwandelt sich das bange Warten in überschwängliche Freude. Nach zehn Jahren des Wartens dürfen sich die Familien endlich in den Armen liegen. Nach den offiziellen Reden singen alle gemeinsam ein Lied. Eigentlich hatte man geplant, die Nationalhymne singen zu lassen. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der Siegermächte. So sang man das Kirchenlied „Nun danket alle Gott“. Es war ein Lied, das Protestanten und Katholiken gemeinsam hatten. Anschließend erzählen die, die dabei waren, wie während des Liedes ein Schauer der Rührung und der Bewegung durch die Menge ging. Die Menschen begannen zu weinen. Endlich war das Erhoffte eingetreten. Die Familien waren wieder vereint. Der Krieg war für viele erst jetzt zu Ende. Das Lied drückt die Zuversicht aus, dass Gott unser Leben lenken und im Letzten immer zum Guten führen möchte. Es war eine Verheißung für den Neuanfang in Frieden und Freiheit.
Wie geht es uns heute? In jedem Gottesdienst erzählen die Lesungen der Schrift, erzählen die Liedtexte und Gebete von der Geschichte Gottes mit uns Menschen. Es ist eine Bestätigung, Vertiefung und Gewissheit, dass wir von ihm getragen und geführt sind. Heimat, Frieden, Aufbruch und Neuanfang sind die Themen der biblischen Geschichte von ihrem Anfang an. Sie tragen sich durch bis in die Gegenwart. Es wird selten so sein, dass mich ein Text zu Tränen rührt. Aber in der Vertiefung und Betrachtung des Gotteswortes werde ich finden, was für mein Leben Fundament und Richtung ist. Der Satz aus dem Buch Nehemia gilt noch heute: „Die Freude am Herrn ist unsere Stärke.“