Grenzen weltkirchlichen Lernens

Als Leonardo Boff 1970 von seinem Promotionsstudium aus München in seine brasilianische Heimat zurückkehrte, veränderte die Situation Südamerikas seinen Blickwinkel radikal. Er traf nicht nur auf eine gesellschaftliche, sondern auch auf eine kirchliche Wirklichkeit, die im Kontrast zu Europa nach spezifisch amerikanischen Antworten rief. Es war die Zeit, in der im Zuge des II. Vatikanischen Konzils Veränderungen im Gange waren, die weit über die vorkonziliar gegeben Möglichkeiten hinausreichten.  Ein zentrales Thema des Konzils, wie schon der Vorkonzilszeit war die aktive Rolle der Laien (also der Nicht-Kleriker). In Bezug auf die Seelsorge spielte das neue „laikale“ Engangement eine bedeutende Rolle. In Brasilien bildeten sich die ersten Basisgemeinschaften, kleine christliche Gemeinden in den entlegenen Gebieten des Amazonas-Gebiets. Sie entstanden aus einer Notlage. Die wenigen Priester und Ordensleute der Region waren nicht in der Lage, eine herkömmliche Pfarrstruktur mit einer priesterlichen Gemeindeleitung aufzubauen. Auch eine regelmäßige Eucharistiefeier und Sakramentenpastoral konnte nicht gewährleistet werden. So hatte man begonnen, die Christen vor Ort für die Aufgaben der Pastoral zu befähigen. Sie leiteten de facto die Gemeinden, übernahmen Verantwortung für die Katechese und engagierten sich in den caritativen und gesellschaftlichen Belangen ihrer Dörfer. Leonardo Boff engagierte sich in der Gründung und Zurüstung der Basisgemeinden und wurde nach außen ihr theologischer Fürsprecher. In seiner Ekklesiologie („Lehre von der Kirche“) entwickelte er das Kirchenbild einer vom Wort Gottes inspirierten, sozial und politisch tätigen Basisgemeinschaft, genauer, ein Netzwerk von geistgewirkten Gemeinschaften, die sich den Werten des Reiches Gottes verpflichtet weiß.[1] Die Priester sollten in ihnen die ihnen anvertrauten Dienste, insbesondere der Eucharistiefeier wahrnehmen, sich ansonsten aber in die Gemeinschaft eingliedern. Das Priesteramt war nicht notwendig mit der Leitungsaufgabe verbunden.

Ein neues Kirchenbild für Europa?

Dieses „neue“ Bild und diese „neue“ Struktur entwickelte in ganz Südamerika, später aber auch in Afrika und Asien große Strahlkraft. Die Idee der geistlichen Leitungsteams in Gemeinden, oder auch der nachbarschaftsorientierten „kleinen christlichen Gemeinschaften“ gaben in vielen Ländern der Erde der Kirche einen neuen Impuls und eine neue Gestalt. Sie waren aber, wie in Brasilien, häufig Antwort auf einen Mangel an Priestern oder Ordensleuten. Nachdem diese Probleme nun auch Europa erreicht haben und die traditionelle pfarrliche Organisation der Ortskirchen immer schwieriger wird, werden die Ideen aus den ehemaligen Missionsgebieten im letzten Jahrzehnt auch in den deutschen Bistümer zunehmend diskutiert. Es ist ein wahrer Boom des „weltkirchlichen Lernens“ ausgebrochen. Ich selbst habe diesen Boom als Leiter der Pastoralen Dienststelle in Hamburg intensiv erlebt. Im Zuge dessen habe ich nicht nur an Kongressen und Seminaren teilgenommen, sondern auch an einem mittlerweile immer häufiger durchgeführten Schulungsprogramm auf den Philippinen. Auf den Fortbildungskalendern sind die Veranstaltungen zu einem „neuen Kirchenbild“, zu „Kleinen christlichen Gemeinschaften“, zum „Bibelteilen“ oder zu „leadership“ kaum noch zu zählen. Die Erfahrungen aus der Weltkirche werden in Deutschland zum Rettungsanker für die verfahrene pastorale Situation mit immer weniger Priestern, weniger Gläubigen, größeren Pfarreien. Könnte es tatsächlich gelingen, auch die deutsche Pastoral nach Vorbildern aus Südamerika, Afrika oder Asien umzugestalten?

Zunächst einmal ist zu sagen: Den Förderern des weltkirchlichen Lernens ist es durchaus ernst. Im Gegensatz zu Vielen, die sich einfach nur im Klagen über die scheinbar ausweglose Situation des langsamen Absterbens der gewohnten kirchlichen Pastoral ergehen, versuchen sie, ein Angebot für einen Ausweg zu machen. Ob die Idee eines pastoralen Paradigmenwechsels allerdings wirklich dazu helfen wird, die derzeitige Krise zu überwinden, scheint mir fraglich zu sein. Dies liegt nicht allein daran, dass „wir“ einfach im Kopf noch nicht so weit sind, die neuen Ideen zu akzeptieren und umzusetzen, wie die Befürworter des Wandels sagen. Vielmehr liegen die Gründe für Skepsis und Ablehnung durchaus tiefer. So wird zurecht kritisiert, dass eine gewachsene pfarrliche Tradition und geistliche Prägung nicht einfach ersetzt werden können. Insbesondere die verstärkte Hinwendung zu einer biblisch orientierten Spiritualität ist ungewohnt. Der häufigste Einwand ist allerdings, dass eine auf Ehrenamtliche gebaute kirchliche Struktur angesichts schwindender Kapazitäten und schwindender Motivation kaum zu verwirklichen sein wird. Ist denn das bisherige Engagement nicht ausreichend gewesen? Ist das gewohnte geistliche Leben nicht geistlich genug? Wird hier nicht durch die Hintertür unter den Stichworten von „Charismenorientierung“, „gemeinsamem Priestertum“ und „Taufgnade“ einfach eine Umverteilung von Aufgaben vorgenommen, bei denen Laien nicht mehr als ein Ersatz oder Notnagel für Dinge sind, die eigentlich von bezahlten Kräften wahrgenommen werden müssten? Ist es tatsächlich realistisch, von einem kirchlichen Wandel eine Erneuerung der Kirche zu erwarten, die sie in allem „missionarischer“, „charismatischer“, „innovativer“, „vernetzter“ und „geistlicher“ macht? Wird hier im Bild gesprochen nicht eher versucht, eine bröckelnde Wand durch den Auftrag neuer Farbe vor dem Verfall zu bewahren? Wer so redet (würden die weltkirchlichen Pastoraloptimisten sagen), habe die Idee hinter dem „neuen“ Kirchenbild nicht verstanden. Tatsächlich steckt mehr dahinter. Die folgenden kritischen Anmerkungen verstehen sich daher nicht als ein Angriff auf den weltkirchlichen Lernansatz, möchten aber seine Grenzen umschreiben. Allein der Griff in die weltkirchliche Apotheke wird den kranken Patienten in Deutschland nicht heilen.

Einwände

  1. Das weltkirchliche Modell der „Basisgemeinschaften“ stammt, bei aller Transformation über die verschiedenen Jahrzehnte und Kontexte, aus dem Südamerika der 70er Jahre. Es hat sich, anders als von Leonardo Boff erhofft, nicht überall durchgesetzt und zeigt nach einer „Laufzeit“ von 40 Jahren an vielen Orten ebenfalls Verfallserscheinungen. Ist es also möglich, mit einem eigentlich sehr alten Konzept auf die Gegenwart zu antworten? Ein Problem des Modells war, dass es sich als neues ekklesiologisches Modell verstand. Es ist ein laikales Modell, dass das (freiwillige) Mitwirken der Priester voraussetzt. Dort, wo Bischöfe und Priester diesen Weg nicht mitgegangen sind, konnte es nicht Fuß fassen. Jetzt ist es einfach, die eine Seite des Klerus als „fortschrittlich“, die andere als „rückständig“ zu kennzeichnen. Dieses Muster der 70er Jahre mit seinem Optimismus einer fortschreitenden Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse durch mehr „Basis“ sollte, so meine ich, nicht kritiklos übernommen werden. Es gibt nicht die „eine“ Richtung, die die Kirche gehen muss, um an Kraft zu gewinnen. Daher wäre die Idee einer einheitlichen Umgestaltung der Pastoral wahrscheinlich eher kontraproduktiv. Sie stößt zudem an kirchliche Grundpfeiler – ganz praktisch an die Tatsache, dass es für das kirchliche Leben eben auch Priester braucht.
  2. Der Kontext Brasiliens, Südafrikas oder Indonesiens ist vom europäischen sehr verschieden. Niemand würde daher bestreiten, dass eine Übernahme eines kirchlichen Pastoralmodells im Maßstab 1 zu 1 keinen Sinn macht. Der Ursprung der Basisgemeinschaften war ja die pastorale Notlage von Dorfgemeinschaften in unzugänglichen Gebieten. Die Schwierigkeiten der Mobilität, die es vielen der häufig armen Christen in Ländern Afrikas oder Südamerikas gar nicht gestattet, weite Kreise außerhalb ihres Wohnorts zu ziehen, sind in Deutschland meist nicht gegeben. Ich habe in unserem Bistum z.B. die Erfahrung gemacht, dass etwa für die Gottesdienste der ausländischen Missionen die Gläubigen teilweise 100km Anfahrt in Kauf nehmen. Die vielbeschworene „Nachbarschaft“, in der sich das geistliche Leben verorten soll, ist doch hierzulande häufig eine selbstgewählte, interessengeleitete „Nachbarschaft“, die unabhängig von lokaler Nähe besteht. Dies zeigen z.B. die Gruppen der geistlichen Bewegungen. Sollen die „Kleinen christlichen Gemeinschaften“ gerade nicht in erster Linie Freundeskreise sein, sondern der gegenseitigen Unterstützung in direkter räumlicher Nähe dienen, so dürfte es äußerst schwer sein, ein solches Modell in eine Gesellschaft zu übernehmen, die die Prinzipien der lokalen „Nachbarschaftlichkeit“ doch eher aufgibt als stärkt. Lässt sich da eine kirchliche „Gegenwirklichkeit“ erschaffen? Die Stärke weltkirchlicher Modelle besteht doch gerade darin, dass sie die konkrete Lebenswirklichkeit und Kultur der Menschen aufnehmen und christlich zu formen verstehen. Auf den Philippinen etwa steht der Wert der Familie unglaublich viel höher als in Deutschland. Das Bilden familiärer Strukturen kirchlichen Lebens trifft hier auf ein kulturell vorgeprägtes Umfeld. Bei den Basisgemeinschaften spielte das gemeinsame Bewusstsein, zu einer sozialen „Klasse“ zu gehören eine große Rolle. Entsprechend wichtig wurde dort auch das gemeinsame politische und gesellschaftliche Agieren unter christlichen Vorzeichen. Man muss vorsichtig sein, ein Modell familiärer, vertrauter Gruppen in Deutschland nicht zum Abziehbild romantischer Gesellschaftsutopien der 70er Jahre verkommen zu lassen. Die Gruppe derer, die für solche Bilder empfänglich ist, ist klein.
  3. Mein deutlichster Einwand betrifft allerdings die strukturellen Voraussetzungen. Die Kirchen in den südlichen Ländern sind häufig eher mittellos. Das freiwillige Engagement für die Kirche, auch die Aufgaben von Leitung, die Tugend des Teilens, die praktische Hilfe Bedürftiger sind unabdingbar für das Bestehen der Kirche vor Ort. Es besteht in der Regel gar nicht die Möglichkeit, hauptamtliche Kräfte zu bezahlen. Das Engagement ersetzt vielerorts die „Kirchensteuer“. Es ist die Währung, in der der eigene Beitrag für die Kirche entrichtet wird. Unter den Bedingungen einer real existierenden Kirchensteuer sieht die Situation deutlich anders aus. Was man als „Servicementalität“ geißeln kann, hat einen wahren Kern: Die Katholiken haben aufgrund ihrer nicht unerheblichen Beiträge ein Anrecht auf die Arbeitsleistung der durch dieses Geld bezahlten Personen, Strukturen und Dienstleistungen. Ein Teil des Widerstands gegen ein noch stärkeres Ehrenamt ist völlig berechtigt: Warum bezahlen wir Leute als pastorale Mitarbeiter, die uns als erstes erzählen, dass wir die Arbeit tun sollen, für die sie wir bezahlt haben? Der Einwand ist sicher in dieser Form zugespitzt, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Eine Kirche, in der die unbezahlten Engagierten die Säulen sind, auf denen das kirchliche Leben vor Ort ruht, müsste konsequenterweise auch eine Kirche ohne Kirchensteuer sein. In freikirchlichen Gemeinschaften wird dieses Modell praktiziert. Bleibt man im herkömmlichen Modell (und vieles spricht auch dafür) müssen zunächst die hauptamtlichen Mitarbeiter in Pastoral und Verwaltung das tun, wofür die bezahlt werden. Das auch unter diesen Bedingungen häufig unverzichtbare freiwillige Engagement ist dann aber eher eine Ergänzung und Bereicherung.

 

Weltkirchliches Lernen?

Wie sollte man also mit dem „weltkirchlichen Lernen“ umgehen? Die Antworten kommen zum Teil aus diesem Lernen selbst. Die folgenden Punkt sind nur ein paar Anregungen.

  1. Die weltkirchlichen Ansätze empfehlen eine gründliche Analyse der Wirklichkeit. Aus meiner Sicht fällt diese Analyse in der „deutschen Version“ eher aus oder ist schon einseitig vorgeprägt. Die Notwendigkeit für das Setzen pastoraler Schwerpunkte und die Veränderung von Strukturen kann nicht von „außen“ vorgenommen werden. Weil die Antwort in Südafrika so oder so ausfiel und uns diese Lösung zusagt, ist sie noch lange keine Antwort für uns. Man muss sich also von bestimmten strukturellen Zielbildern lösen (etwa „partizipative Kirche“), um vor Ort eine wirklich passende Lösung zu finden.
  2. Alles was dem geistlichen Wachstum dient, sollte gefördert werden. Auch hier würde ich für einen Blick ohne Scheuklappen plädieren. Die Option für eine biblisch orientierte Spiritualität ist für bestimmte Formate und Personen eine sehr gute. Die Idee, aus dem Wort Gottes zu leben, ist faszinierend. Aber auch die beste Idee sollte nicht überstrapaziert werden. Mir gegenüber ist schon häufiger von Katholiken geäußert worden, dass sie den Rummel um das Wort Gottes nicht verstehen. Die Wort-Gottes-Feier sei kein Ersatz für die Eucharistiefeier und zudem sei es ja auch nicht so, als würde das Wort Gottes in letzterer keine Rolle spielen. Das „Bibelteilen“ ist aus meiner Erfahrung eine gute Methode der geistlichen Vertiefung, aber lange nicht die einzige. Mir persönlich ist neben der Heiligen Messe die Schriftbetrachtung, das Stundengebet, der Rosenkranz oder die eucharistische Andacht ebenfalls wichtig. Der weltkirchlich inspirierte „Verve“ für das Bibelteilen, den ich in den vergangenen Jahren erlebt habe, ist mir deutlich zu einseitig.
  3. Die Bemühungen um neue Vergemeinschaftung durch ehrenamtliche Leitungsteams vor Ort oder kleine christliche Gemeinschaften sind wertvoll. Es gibt gute Beispiele, wo solche Versuche erfolgreich sind. Ich sehe sie in unserem Bistum vor allem in kleinen Orten, deren Gemeinden eine ohnehin familiäre Struktur haben. Man sollte ein solches Modell fördern, ohne gleich eine Umstellung der ganzen Pfarrpastoral auf ein neues Modell hin zu fordern. Die flächendeckende Umformung der Pfarrpastoral ist auch in Deutschland in den 70er Jahren vollzogen worden. Heute wissen wir, dass eine solche Veränderung, die mit hohem ideologischen Aufwand betrieben wurde, uns heute vielerorts das Leben schwer macht. Die Erneuerer von damals sind die Verhinderer von heute, weil sie klar zu wissen meinen, wie eine „richtige“ Gemeinde auszusehen hat. Einen solchen Fehler muss man nicht unbedingt wiederholen.
  4. Das Phänomen „weltkirchliches Lernen“ ist im Wesentlichen eines der kirchlichen Binnenstruktur. Es sind hauptamtliche Mitarbeiter, die hier im Labor an einem neuen „Kirchenbild“ basteln. Es ist wichtig, auch in dieser Zielgruppe neue Ideen einzuspeisen. Gleichzeitig ist es wichtig, nicht den gleichen „klerikalen“ Fehler zu machen, der vergangenen Generationen vorgeworfen wird. Eine Veränderung der pastoralen Landschaft lässt sich nicht allein von „oben“ (aus Fortbildungen Hauptamtlicher) bewirken. „Neues wagen“ ist häufig gleichbedeutend mit „Altes überwinden“. Innovationen entstehen langsam. Gerade der Ansatz, situativ und unter dem Anspruch des Evangeliums nach dem richtigen Weg zu fragen, ist eine Stärke weltkirchlicher Modelle. Zugleich braucht es einen guten „sensus ecclesiae“, also ein kirchliches Grundgefühl. Die beinhaltet mehr als „das was die Menschen wollen“, oder als „das was die Menschen wollen sollen“, sondern eine Sensibilität für das Zeitgeschehen, für Gefühlslagen, für geistliche Tradition, aber auch für Lehre und Liturgie der Kirche, für gewachsene Formen und Ausdrücke des Katholischen. In der Pfarrei begegnet mir eine Vielfalt katholischen Lebens, die ich in Gremien und Konsultationsprozessen nicht wiederfinde. Gerade in der Partizipation aller (auch der mit abweichender Meinung) liegt ja, wenn ich es richtig verstanden habe, ein wesentlicher Wert einiger weltkirchlicher Ansätze.

[1] S. z.B. Boff, Leonardo, Und die Kirche ist Volk geworden – Ekklesiogenesis, Düsseldorf 1990.

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