Skat spielen. Korbflechterei, der deutsche Choralgesang, das Malchower Stadtfest, die Kunst des Brotbackens oder das Sternsingen – alles das gehört in Deutschland zum anerkannten „immateriellen Kulturerbe“ der UNESCO. Mit diesem Titel werden Bräuche und Traditionen ausgezeichnet, die als etwas regional Besonderes eingeschätzt werden und daher für besonders schützenswert gehalten werden. Der Titel „Weltkulturerbe“ soll ihnen eine besondere Aufmerksamkeit verleihen. Man könnte sagen, es sind Dinge, die unter Denkmalschutz stehen.
Letztes Jahr machte sich eine Initiative auf den Weg, die sich für die Tradition der Martinsumzüge einsetzte. Besonders im Rheinland gibt es Bruderschaften und Vereine, die sich um den Erhalt der Martinstraditionen kümmern. Das Martinsfest als Kulturerbe? – Warum nicht. Tatsächlich verknüpfen sich mit dem 11.11. viele Traditionen, die dazu beigetragen haben, den Martinstag im Gedächtnis zu behalten. Der Martinstag war der letzte Tag vor der vorweihnachtlichen Fastenzeit, so dass die Menschen feierten und noch einmal ausgiebig aßen – daher der Brauch des Gänseessens. Die jungen Burschen zogen durch die Dörfer und erbettelten sich an den Häusern Gaben. In diesem Zuge entstanden die Weckmänner als ein Gebäck, das man ihnen auf den Weg mitgab. Und schließlich waren dort die mittelelterlichen Heiligenspiele, die mit Festumzügen in der Stadt begangen wurden. Von ihnen hat sich heute fast nur noch das Martinsspiel erhalten. Die alten Bräuche werden also weiter gepflegt und ergänzt, etwa durch die Laternen, die die Kinder tragen.
Die Initiatoren der Welterbeinitiative erklärten, es ginge ihnen darum, die Martinskultur zu erhalten, auch angesichts der Tatsache, dass es immer mehr die Tendenz gäbe, die einzelnen Bräuche etwa durch „Halloween“ oder „Sonne-Mond-und-Sterne-Feste“ zu ersetzen. Für die UNESCO ist eine gewisse „Bedrohung“ des Erbes tatsächlich für ihre Entscheidung wichtig.
Christlich gesehen, müsste es an St. Martin allerdings um mehr als um einen Erhalt des Brauchtums gehen: Wenn in den Martinsspielen gezeigt wird, wie Martin als Soldat in der Stadt Amiens einreitet, am Stadttor einen Bettler trifft, er seinen Mantel nimmt und mit dem Bettler teilt – dann erzählen wir den Kindern an diesem Beispiel in der Regel, dass man von Martin lernen kann, dass es gut ist zu teilen. Dem Bedürftigen zu helfen: als solches gehört diese Haltung schon in das Weltkulturerbe. Aber das ist noch nicht alles. Der eigentliche Clou der Martinslegende folgt ja erst noch. Es wird berichtet, wie Martin nach der Begegnung mit dem Bettler nachts träumt. In seinem Traum erscheint im Jesus Christus, der den halben Mantel in der Hand hält. Was Martin also dem Bettler getan hat, das hat er ebenso Christus getan. Es ist eine Übersetzung des Jesuswortes: Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. Der Dienst am Nächsten ist gleichzeitig ein Dienst für Gott. Martin, der zu dieser Zeit Taufbewerber ist, lernt eine wichtige Lektion für seinen Glauben. In dem, was er möglicherweise intuitiv getan hat, stekt eine tiefere Wahrheit: Er hat das getan, was vor Gott richtig ist. Er hat etwas von Gott selbst verstanden.
Das heutige Evangelium verstärkt diesen Gedanken noch:
Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hergegeben; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles gegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt. (Mk 12, 41-44)
Die arme Witwe, im Tempel ihre Spende abgibt, wird von Jesus als ein herausragendes Beispiel gepriesen. Während die anderen nur etwas von ihrem Überfluss gegeben haben, hat sie „ihr ganzes Leben“ („holon ton bion auté“) gegeben, wie es im griechischen Text heißt. Das Geben ist also mehr als einfach eine gute Tat. Das Geben der Witwe ist in den Augen der Welt höchst unvernünftig. Für Jesus allerdings ist es beispielhaft. Es zeigt etwas, das Höher steht, einen frei gebenden Menschen.
Martin Luther hat die Idee des Gebens einmal in einer schönen Auslegung zu den Psalmen verdeutlicht. Er sagt sinngemäß: Wenn wir uns die Schöpfung anschauen, dann sehen wir sie als Werk Gottes. So wie Gott die Schöpfung ins Dasein ruft, drückt sich sein Wesen in ihr aus. Die Sonne verströmt ihr Licht und ihre Wärme, die Wolken empfangen Feuchtigkeit und geben sie an anderer Stelle weiter, die Pflanzen empfangen Licht und Regen. Sie behalten diese Gaben nicht für Sicht sondern geben ihrerseits den Nektar oder die Früchte weiter. Die ganze Schöpfung ist in Luthers Sicht also ein selbstloses Geben und Empfangen, so wie Gott selbst selbstloses Geben und Empfangen ist. Die ganze Schöpfung ist so, nur beim Menschen wird es problematisch. Die Sünde zerstört den ursprünglichen Zusammenhang des freien Geben und Empfangens. Sie entsteht dann, wenn der Mensch sich dem Kreislauf des Gebens und Empfangens entzieht und sein Leben und die Dinge für sich behalten möchte. Er unterbricht seine ursprüngliche Bestimmung und ist nicht mehr der Empfangende oder sich Gott verdankende. Er steht nicht mit offenen Armen Gott und der Welt gegenüber, sondern ist selbstbezogen in sich gekehrt (oder verkrümmt). Im freien Geben zeigt sich also sein wahres Wesen und damit das Wesen Gottes.
Die Witwe des Gleichnisses aber auch die Legende vom Heiligen Martin bringen dieses Wesen zum Ausdruck. Die gute Tat hat eine tiefere Bedeutung. Sie sind Ausdruck eines Menschen, der sich als Empfangender versteht und daher freigiebig geben kann. Sie reflektiert das Wesen Jesu Christi, der sich selbst gibt, damit andere empfangen können. Eine solche Haltung zu bewahren und zu fördern gehört daher im göttlichen Plan zum Welterbe der Menschheit, weil es den Menschen in seiner ursprünglichen Beziehung zu sich selbst, seinen Nächsten und zu Gott zeigt.