Immer werde ich erinnert [zum Gründonnerstag]

Ständig werde ich an etwas erinnert. Seit ich meinen Kalender digital führe, piept mein Mobiltelefon immer eine halbe Stunde vor dem nächsten Termin. Mein Mailprogramm erinnert mich an Aufgaben, die noch zu erledigen sind. Meine facebook-timeline spielt mir Beiträge neu zu, die ich vor Jahren eingestellt habe: „Georg, eine Erinnerung an dich – teile, was vor fünf Jahren war“. Dann gibt es Menschen, die mich immer erinnern. Einer davon ist ein alter Pfarrer, der in unserer Pfarrei wohnt. Immer, wenn ich ihn sehe, sagt er mir: „Denke daran, heute ist der Gedenktag von diesem oder jenem Ereignis, heute ist der Weihetag oder der Sterbetag von dem und dem.“

Als mich am Dienstagmorgen die Nachricht erreichte, dass unser Alterzbischof Werner Thissen verstorben ist, meldeten sich sofort die Erinnerungen. Ich sah mich in diesem Moment wieder mit ihm Bischofsrat sitzen, wie er die Post und die Aufgaben an uns verteilte. Ich habe mich erinnert an einen Konzertbesuch in der Hamburger Musikhalle, zu dem er mich eingeladen hatte. Ich habe an unsere letzte Begegnung im Januar beim Bistumsgeburtstag gedacht, wo ich mit ihm ein paar Worte wechseln konnte. Die Erinnerung holt mich wieder ein. Ich kann meine Geschichte nicht abstreifen. Sie ist immer noch präsent, mal mehr, mal weniger intensiv. Sie kommt ganz einfach.

Im letzten Jahr habe ich mich nach langer Zeit mal wieder mit meinen Freunden aus der Jugendzeit getroffen. Wir haben gar nicht über die Vergangenheit gesprochen, über die „alten Zeiten“, aber trotzdem waren diese alten Zeiten mit anwesend. Sie lag in einer Vertrautheit, die wir untereinander haben und die sich über die Jahre erhalten hat, obwohl wir uns selten sehen.

Ich vermute, dieses implizite Erinnern geschieht bei einigen von Euch und Ihnen ganz genau in diesem Moment. Über die Feiertage kommen ja immer einige zu Besuch in ihre Familien. Ihr kommt aus eurem eigenen Alltag, aus eurer eigenen Geschichte, die gerade an einem ganz anderen Ort stattfindet. Und auf einmal seid ihr wieder hier in St. Anna, so wie früher. Es sieht aus wie damals, es riecht wie damals, ihr sitzt bei euren Eltern oder Großeltern wie damals. Die handelnden Personen haben vielleicht gewechselt, das ein oder andere ist verändert worden aber sonst ist im Kern alles geblieben.

Gerade der Gründonnerstag ist voll von diesem Erinnern. Es wird in der Lesung vom Pessachfest berichtet. Die Juden haben dieses Fest in der Familie gefeiert, um an ein fernes Ereignis zu denken, an den Auszug aus Ägypten. Diese Erinnerung soll wachgehalten werden. Das Paschafest inszeniert den damaligen Abend vor dem großen Aufbruch neu: Die Familien am Tisch, das Lamm, das ungesäuerte Brot, die Bitterkräuter. Diese Erinnerung sollte lebendige Memoria sein. Es sollte so sein, als ob das, was damals geschah heute genauso passiert. Denn im Kern ist alles gleich geblieben. Der Glaube an Gott, der sein Volk befreit ist gleich geblieben. In diesem Jahr wurde das Pessachfest vor ein paar Tagen, am 12. April gefeiert. Wer dies heute in Israel tut kommt nicht umhin, die Not, die Bedrängnis, den Krieg und die Gewalt zu sehen, in die sich das Land verstrickt hält. Die Erinnerung an den rettenden Gott kann hier heilsam sein. Ich hoffe auch, dass sie die Erinnerung an die Barmherzigkeit Gottes enthält.

Nach dem Zeugnis des Lukasevangeliums nimmt Jesus das Pessachfest zum Anlass, seine eigene Memoria zu stiften. Als er Brot und Wein unter den Jüngern verteilt, sagt er: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22,19) – tut dies zur Erinnerung. Auch diese Erinnerung ist nicht als Gedenken an ferne Zeiten gedacht. Die Personen wechseln und die Orte, aber der Kern bleibt der gleiche. Auf jedem Altar der Welt geschieht dieses unablässige Gedenken, manchmal täglich. Die Kirche wandelt sich zum Abendmahlssaal, die Gemeinde zur Gemeinschaft der Jünger. Die Worte sind die gleichen, der Ritus ist der gleiche. Was hier geschieht ist die Erinnerung als bleibende Gegenwart. So wie damals ist Jesus als Lebendiger unter uns. Er ist der Anwesende, so wie damals. Und seine Worte im Abendmahlssaal werden heute an uns gerichtet: „Bleibt in meiner Liebe. Ich habe euch Freunde genannt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Dies trage ich euch auf liebt einander.“ Und auch wir stehen in der Situation, dass dies nicht immer gelingt, vielleicht gelingt es sogar selten. Deshalb ist diese Memoria weiter aktuell, weiter auch eine Herausforderung, weiter eine manchmal unangenehme Erinnerung: Vergiss das nicht!

Erinnerungen können anstrengend sein. Mein Handy erinnert mich daran, dass jetzt gleich etwas zu tun ist, eine Aufgabe ansteht. Bei der Eucharistie ist es ähnlich. In der Erinnerung an Jesus und seine Hingabe liegt eine Aufgabe. Auch heute ist etwas zu tun, ist mir etwas aufgetragen, ist etwas zu bedenken. Was wird für mich aus der Erinnerung folgen? Aus der Erinnerung an Barmherzigkeit, Hingabe, Demut, Liebe? So soll von dieser Nacht wieder ein Impuls ausgehen. Die Erinnerung meint keine Betrachtung des Gewesenen, sondern eine Hinwendung zum Kommenden. Darum feiern wir sie in dieser Nacht besonders, aber auch sonst immer und immer wieder.

Beitragsbild: Altar in der Klosterkirche von Meschede

2 Kommentare zu „Immer werde ich erinnert [zum Gründonnerstag]

  1. Anrührend und authentisch – vermittelt für mich exzellent zentrale Inhalte der österlichen Erinnerung,

    LG Susanne Petermann

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