Wer ruft?

Eines der Lieblingslieder von Papst Johannes Paul II. trug den Titel „Barka“. Es war ein polnisches geistliches Lied, das bei vielen Anlässen für und mit dem Papst gesungen wurde. Das Lied beginnt mit der Szene des Sonntagsevangeliums (Mk 1,14-20). Jesus ist am Ufer des Sees unterwegs und hält Ausschau. Er sieht die Fischer in ihren Booten und ruft sie zu sich. Sie sollen ihm nachfolgen. Im Refrain des Lieds heißt es dann: „O Herr, Du warst es, der mich angeschaut hat. Deine Lippen sprachen heute meinen Namen aus. Mein Boot lasse ich am Ufer liegen. Zusammen mit Dir beginne ich heute den Fang.“

Für einen geistlich bewegten Menschen sind diese Zeilen sehr berührend. Sie geben eine Empfindung wieder, die viele vielleicht schon gespürt haben: Gott ruft mich zu sich. Bei ihm finde ich Trost. Von ihm bin ich ausgewählt worden, mit ihm zu gehen.

Von hier aus ließe sich vieles über die Schönheit der Nachfolge sagen. Ich möchte aber auf eine Schwierigkeit hinweisen. Die Wirklichkeit der Fischer ist leider wohl nie so ideal, wie sie im Evangelium geschildert wird. Hier ist es Jesus allein, seine Stimme, auf die sie aufmerksam werden. In der Realität des Lebens steht dort am Ufer aber nicht einer. Es sind neben Jesus andere an den See gekommen, die mit lauter Stimme rufen, ihnen nachzufolgen. Wer nach einem Auftrag für sein Leben sucht, wird die Stimmen hören, die auf dem See überlagern. Welches ist die Richtige? Es kommt zuweilen vor, dass die Stimme eines anderen als die Stimme Jesu verstanden wird.

Schaut man sich die Nachfolgebewegungen unserer Tage an, gibt es aus meiner Sicht zwei Stimmen, die besonders viel Gehör finden.

Die erste Stimme ist die der Empörung. Nachfolge liegt nach ihr in der Auflehnung. Der Sinn des Lebens besteht im Vorgehen gegen einen Feind, gegen das allgemein herrschende Unheil. Sie verzerrt die Wirklichkeit in ein Schwarz-Weiß. Erst in der Zerstörung der herrschenden Verhältnisse ist das Heil zu finden. Das Wesen des Menschen besteht im Protest. Heinrich von Kleist hat in einmal in seiner Novelle „Michael Kohlhaas“ einen Menschen gezeichnet, der ganz in die Nachfolge dieser Stimme eingetreten ist. Aufgrund eines Unrechts, das Kohlhaas geschehen ist, verschreibt er sich diesem Kampf gegen die Obrigkeit. Sein Wesen verkümmert sich zu einem armseligen aber wirkungsvollen Instrument des unbändigen Zorns, das alles niedermacht, das sich ihm in den Weg stellt. Die Rebellion wird sein Lebenselixier. Sein Wesen wird zur reinen Negativität. Die Nachfolgegemeinschaft der Empörten ist sehr verlockend, denn sie sprechen mit einer Stimme. Sie sind stark und laut.

Die zweite starke Stimme unserer Tage ist die der Freiheit. Sie ist schön und betörend. Die Freiheit ist etwas Gutes. Aber als Nachfolgegemeinschaft verzerrt sie sich zu einer absurden Sache. Die Stimme wird in ihren Forderungen erst langsam immer maßloser. Sie behauptet, dass die Freiheit nicht mehr nur darin besteht, zwischen Gutem und Bösem zu unterscheiden. Sie behauptet vielmehr, dass die Freiheit darin besteht, für mich allein das Gute oder Böse setzen zu können. Die Erlösung ist, wenn ich mich frei gemacht habe, von allem, was mir vorgegeben wird. Jeder vermeintlich äußere Einfluss wird abgelehnt. Die Erlösung liegt in einer wurzellosen Selbstsetzung. Erst die Gesellschaft radikaler Individuen ist eine glückliche Gesellschaft. Auch aus diesem Gedanken gründet sich eine Nachfolgegemeinschaft, die der Journalist Tobias Haberl einmal so beschrieben hat: „Der Liberalismus hat gesiegt und zwingt uns nun, mit allen Konsequenzen der Idee zurechtzukommen, den Einzelnen aus sämtlichen Traditionen, Norman und Beziehungen herauszulösen und zu einem Repräsentanten des Zeitgeists zu machen.“[1]

Woher kommen diese Stimmen? Die erste Stimme, die Stimme der Empörung, stammt aus der Wurzel des Zorns. Die zweite Stimme stammt aus der Wurzel des Hochmuts.

Die Stimme Jesu dagegen verkündet dagegen vergleichsweise unpopuläre Dinge. Nachfolge ist hier Hingabe. Das ist extrem schwer zu verstehen. Hingabe bedeutet, sich selbst zu finden, wenn man bereit ist, sich selbst zurückzustellen. Das ist das Gegenstück von einer heutigen Individualitäts-Vorstellung. Es bedeutet, seine eigene Freiheit in Bezug zu Gott und zu den Nöten und Rechten meines Nächsten (der nach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter jeder sein könnte, auch mein Feind) zu relativieren – zu relativieren (in Beziehung zu setzen), nicht, si aufzugeben!

Die Nachfolge Jesu verweist immer auf eine Gemeinschaft. Das Ziel der Sendung Jesu ist im Kern Erlösung. Erlösung ist hier ganzheitlich verstanden. Es geht nicht um Selbsterlösung. Es geht nicht um Erlösung meiner Gruppe. Es geht um die Erlösung aller Menschen und um die Erlösung der Schöpfung. Das Werkzeug der Erlösung ist Versöhnung. Versöhnung ist nicht harmlos. Sie bedeutet nicht Konfliktlosigkeit. Jesus geht immer auch in die Auseinandersetzung. Er weist Menschen zurecht. Aber was die Jünger in seiner Nachfolgegemeinschaft erleben ist auch, wie er an die Ränder Israels geht, zu den Kranken, den Besessenen, den Sündern, den Kindern, zu den Fremden.

Dieses Programm ist extrem unpopulär – übrigens nicht erst heute. Das Christentum, die christliche Nachfolge, erscheint sehr selten in einer reinen, ungetrübten Form. Sie kann sich der Einflüsse der lauten Stimmen nie ganz widersetzen und lässt sie zuweilen in das eigene Handeln einsickern. Ich merke das ja auch bei mir selbst. Mühsam muss ich mich immer wieder hinterfragen, wem ich zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade mit ursprünglich besten Absichten hinterherlaufe.

Es gibt die beiden Stimmen, von denen ich gesprochen habe, auch in der Kirche als Nachfolgegemeinschaft. Die Stimme der Empörung ist sehr laut. Sie spaltet die Kirche in Gruppierungen, die sich voneinander absetzen wollen. Es gibt in den Extremen Christen, die sich in ihre Blasen zurückzuziehen und von der Empörung über die anderen leben – von der Empörung über die, die zu lasch und zeitgeistig geworden sind und von der Empörung über die, die sich fest an kirchliche Tradition und Lehre halten. Sie können das gut beobachten: Der Papst soll ja ein Garant der Einheit sein, eine Stimme, die zu hören ist. Sobald der Papst aber etwas sagt, was dem liberalen oder dem traditionalistischen Milieu nicht gefällt, wird gleich behauptet, dass man darauf nicht hören müsse.

Auch die Stimme der Freiheit ist laut. Sie behauptet auf der einen Seite, dass man sich an Traditionen und Dogmatik nicht zu halten habe, sondern den Glauben nach eigenem Geschmack gestalten könne. Auf der anderen Seite blüht meiner Beobachtung nach gerade wieder der Heilsindividualismus auf. Es geht um die Rettung meiner Seele durch fromme Werke, ohne, dass mich groß bekümmern würde, was die anderen beten und denken, oder was die Bedürfnisse meines Nächsten sind. Im letzten ist auch hier die Versuchung zum Patchwork-Glauben stark, der sich aus irgendwelchen Schriften und Offenbarungen speist, aus den Lehren von Winkelpredigern oder Privatmystikern, die manchmal kein Problem haben, sich über die Lehre der Kirche hinwegzusetzen und ihre eigene Lehre für verbindlich zu erklären.

Ignatius von Loyola gibt zur richtigen Einordnung meines Weges der Nachfolge ein wichtiges Kriterium vor: Den Trost. Macht mich mein Weg der Nachfolge traurig und erschöpft, setzt er mich permanent unter Stress und Leistungsdruck, macht er mich leer und unzufrieden? Dann gehe ich gerade nicht Jesus hinterher. Ignatius geht davon aus, dass sich im Laufe der Nachfolge das Handeln Jesu eben auch an mir vollzieht. Er prägt sich gewissermaßen in mir selbst aus. Es entwickeln sich Hingabe, Demut, Ruhe des Herzens, Versöhntheit und Gottes- und Nächstenliebe. Das können die Früchte der Nachfolge sein. Wie bei den Jüngern gilt: Zunächst heißt es, aus dem eigenen Boot auszusteigen und dann die Wege Jesu mitzugehen. Am Ufer bleibt mein Boot zurück – weil ich jemand gefunden habe, für den ich es ohne Reue zurücklassen kann.

Beitragsbild: Schweriner Innensee


[1] Tobias Haberl, Die große Entzauberung – vom trügerischen Glück des heutigen Menschen, München 2019, 241.

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