Im Feldlazarett

Haben Sie schon einmal eine Moralpredigt gehört? Ich muss gestehen, dass ich mich in meiner nun doch schon längeren Zeit als regelmäßiger Besucher und Zelebrant von Gottesdiensten nicht an eine solche erinnern könnte. Eine Moralpredigt ist eine Predigt, in der den Zuhörern gesagt wird, was sie tun sollen und was nicht. Es gibt also klare Anweisungen von der Kanzel. Beim Hören des heutigen langen Evangeliums (Mt 5,17-37) hat man den Eindruck, die Bergpredigt Jesu sei eine Moralpredigt. Zumindest gibt es klare und ziemlich drastische Anweisungen, was zu tun ist und was nicht. Jesus legt das jüdische Gesetz aus und auf den ersten Blick scheint er zu verschärfen. Er geht dabei ein paar zentrale Missstände und Sünden im menschlichen Zusammenleben durch. Er spricht über Mord, Streit, Ehebruch und Meineid. Jesus verurteilt diese Dinge nicht nur, sondern er weitet den Geltungsbereich des Gesetzes sogar noch aus. Nicht erst der Mord ist verwerflich, sondern bereits das Entstehen einer Feindschaft zu einer bestimmten Person. Nicht erst der Streit ist schädlich, sondern bereits die nicht vorhandene Bereitschaft, sich wieder versöhnen zu wollen. Nicht erst der Ehebruch ist schlecht, sondern bereits das Eingehen auf die sexuelle Versuchung. Nicht der Meineid, also die vor Gericht geäußerte Lüge ist strafbar, sondern schon die Absicht dazu.

Das Wort „Moralpredigt“ erweckt eher negative Assoziationen: Hier will mir jemand vorschreiben, wie ich zu leben habe. Hier soll mir meine Freiheit genommen werden, selbst zu entscheiden. Hier wird offensichtlich eine sprichwörtlich gewordene „Drohbotschaft“ verkündet.

In der Mitte des heutigen Abschnitts des Evangeliums steht das erschreckende Bildwort vom Abtrennen der Glieder des Körpers. Gemeint ist hier ein innerlicher Prozess: Sobald du merkst, dass deine Seele auf dem Weg zum Bösen ist, musst du Gegenmaßnahmen ergreifen. Trenne dich in diesem Fall lieber von dem, was dich auf den falschen Weg bringt, von einer Gewohnheit, von deinem Beharren auf dein Recht, von einem liebgewonnen Gedanken, von einer falschen Lebensweise. Überwinde deinen Stolz und deine Versuchbarkeit.

Mir ist beim Wort vom Abtrennen einer Hand oder vom Herausnehmen eines Auges ein Bild in den Sinn gekommen, dass Papst Franziskus häufig verwendet hat. Er spricht von der Kirche als „Feldlazarett“. Dieses Lazarett ist eine mobile Krankenstation, wohin die Verwundeten des Krieges oder einer Katastrophe gebracht werden. Hier geht es um schnelle medizinische Entscheidungen, um eine Notversorgung, die nicht zimperlich ist, weil sie unter Zeitdruck stattfindet. Das Ziel ist es, die Verwundeten zu retten, auch wenn dafür drastische Sofortmaßnahmen notwendig wären. Der Papst sagt:

„Ein Feldlazarett, das ist das Bild, mit dem ich am liebsten diese ‚hinausgehende Kirche‘ beschreibe, denn es wird dort aufgeschlagen, wo die Kämpfe stattfinden. Es ist kein fest gemauertes Haus, in dem alles vorhanden ist und wo man hingeht, um seine großen und kleinen Wunden versorgen zu lassen. Es ist eine mobile Einrichtung der ersten Hilfe, die Notversorgung, die man braucht, damit die Kämpfenden nicht sterben.“[1]

Wieder ein drastisches Bild. Viele werden sich fragen, ob man unseren oft so unspektakulären Alltag wirklich als Kampf begreifen muss. Dass es aber die Verwundungen gibt, die versorgt werden müssen, daran sollte kein Zweifel bestehen. Wir kennen diese Verwundungen der Seele, der Beziehung, der Familie, des sozialen Gefüges: Feindschaft, Unversöhntheit, Untreue, Lüge und Betrug, Grenzüberschreitungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Gewalt, Missbrauch, aber auch Sucht oder Trauer. Wie sollen diese Wunden im Feldlazarett behandelt werden?

Werfen wir von diesem Gedanken aus noch einmal einen Blick auf die Bergpredigt. Zu Beginn der Bergpredigt heißt es, dass sich die Volksmengen um Jesus versammelt haben. Er hat den Blick auf die Menschen, die von ihm Heilung, Vergebung, Ermutigung und Weisheit verlangen. Angesichts der Volksmenge spricht Jesus aber nicht zu den „Menschen allgemein“, sondern er richtet seine Worte an seine Jünger. In seinen Lehrworten unterweist er also die Jünger. Sie sollen ja später sein Werk im Sinne des Reiches Gottes fortsetzen. Die Jünger werden also unterrichtet. Es ist, im Bild gesprochen, eine Vorlesung für die Ärzte und Pfleger des Feldlazaretts. Und der Grundduktus der Bergpredigt ist: „Wenn ihr verstanden habt, wie ihr mit den Wunden umgehen müsst, wenn ihr das für euch selbst eingeübt habt, eure eigenen inneren Kämpfe durchgekämpft habt, dann könnt ihr dies auch anderen beibringen. Ihr sollt Salz und Licht für die Welt sein, damit ihr dieses Salz und dieses Licht in die Welt tragen könnt, damit ihr die Wunden dieser Welt versorgen könnt und zur Heilung beitragt.“

Sehen wir es einmal ganz praktisch. Die Methode, die Jesus zur Heilung der Menschen anwendet und lehrt ist die Methode der Achtsamkeit und Selbstsorge, die Methode der Prävention, der Vorsorge. In diesem Sinn können, wir, glaube ich, die Bergpredigt leichter verstehen.

Mir geht ein Wort nach, dass ein prominenter Unternehmer in einem Interview geäußert hat. Er sagte sinngemäß: „Wenn mir ein Firmenchef erzählt, er habe in seiner Firma ein großes Problem, dann muss ich ihm sagen: Du hast versagt. Denn jedes große Problem war zuerst ein kleines Problem, gegen das du leicht hättest vorgehen können. Wenn du dich also um die kleinen Probleme nicht kümmerst, die später gefährlich werden können, dann wirst du später große Probleme haben.“ Jetzt wird sich ein solches Wort aus dem Wirtschaftsleben nicht einfach auf das menschliche Leben übertragen lassen. Ich glaube aber schon, dass es im Kern die Botschaft der Bergpredigt aus dem heutigen Evangelium durchaus trifft. „Kümmere dich nicht erst, wenn das große Problem, die große Übertretung, der große Schaden da ist. Der große Schaden beginnt damit, dass du nicht achtsam auf das gewesen ist, was in dir langsam gewachsen ist, in schlechten Gedanken, Gefühlen, Worten oder Haltungen.“ Wer lernt, in dieser Weise für sich zu sorgen, achtsam für sich zu sein, präventiv an sich zu handeln, auch wenn es ihn das eine oder andere zur Gewohnheit gewordene Angenehme kosten wird, wer so für sich sorgen kann, der kann seine Aufgabe der Heilung, Tröstung, Vergebung, Annahme und Versöhnung im großen Feldlazarett erfüllen. Die Kirche als Feldlazarett ist somit keine Angelegenheit professioneller Seelsorger. Ihre Zahl und ihre Möglichkeiten sind angesichts der Größe des Auftrags zu gering. Der Dienst im Feldlazarett ist eine Aufgabe aller, die bei Jesus in die Schule gehen, eine Aufgabe, die mit dem Wort „Apostolat“ theologisch umschrieben ist. Aus der vermeintlichen Moralpredigt wird so etwas ganz anderes. Es wird eine Schulstunde, eine Fortbildung, die mich aufbauen und achtsam machen soll. Es wird eine Qualifikation im moralischen Denken und Handeln, die für mich selbst, wie auch für meine Nächsten heilsam sein werden kann.

Beitragsbild: Kirchturm der katholischen Kirche St. Stephanus in Hamburg-Mümmelmannsberg (der Kirchenraum dort befindet sich in einem Wohnhaus).


[1] Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit, München 2016, 74f.

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