Vor einigen Jahren hatte ich die Möglichkeit, eine ganze Woche in Assisi, dem Wirkungsort des Heiligen Franziskus zu verbringen. Ich nutzte die Zeit, um die verschiedenen Orte in der italienischen Kleinstadt zu besuchen und an ihnen aus den Lebenserinnerungen des Heiligen zu lesen, die der Theologe Bonaventura aufgeschrieben hat. Ich tauchte also in die Welt des Mittelalters, in die Welt des Heiligen Franziskus ein. Mir begegnete eine Welt voller Wunder: Träume, Weissagungen, Heilungen und Visionen, eine Welt in der ein Mensch zu den Tieren spricht, mit vollem Einsatz trotz schwacher Gesundheit das Evangelium verkündet und sich um die Gemeinschaft seiner Brüder kümmert, die sich um ihn herum gebildet hat und schließlich sogar mit den Wunden Jesu gezeichnet wird.
Die Betrachtungen erweckten in mir einen Zwiespalt. Auf der einen Seite war mir das Leben des Heiligen allzu fern von unserer Wirklichkeit entfernt. Viele würden sagen: Wir haben es mit einem unaufgeklärten, theologisch wenig bedachten Christentum zu tun, mit einem blinden Glauben, der allzu sehr auf äußere Zeichen der Gnade, auf Wunder und Erscheinungen setzt. Zum anderen aber merkte ich bei mir auch eine Sehnsucht nach genau dieser Zeit. Wie wäre es, in einer Welt zu leben, die so vom Glauben, von der Unmittelbarkeit Gottes durchdrungen ist, in der Wunder als selbstverständlich angesehen werden, Visionen als Ausdruck der christlichen Mystik geachtet sind, die Menschen auf die Predigt des Heiligen so unmittelbar reagieren. Es wäre eine Welt, in der der Abstand zu Gott klein ist, die durchlässig für die Erfahrung seiner Gegenwart wird.
Im Evangelium des Sonntags (Lk 17,5-10) spricht Jesus von der Wirklichkeit einer solchen Welt, in der der Glaube buchstäblich Berge versetzen kann, oder den knorrigen Maulbeerbaum mit seinen tiefen Wurzeln aus dem Boden heben könnte. Es ist eine Welt, in der Wunder geschehen können. Das passt vielleicht auch zum Erntedankfest. Das Bild des Senfkorns, des Erstaunens darüber, dass aus einem kleinen Saatkorn eine so große Pflanze werden kann, bringt auch die Wunderdimension des Lebens zur Sprache. So wie das Korn in sich die Fähigkeit zur ungeahnten Entfaltung, zu einer „Explosion“ des Lebens in sich trägt, so könnte es auch mit dem Glauben sein. Franziskus ist dafür das beste Beispiel. Er erhält einen ersten Impuls durch eine Predigt. In ihr wird von der Aussendung der Jünger erzählt, die ohne Gepäck und Wanderstab von Jesus zur Verkündigung ausgesandt werden. Franziskus nimmt dieses Evangelium wörtlich und versucht, den Lebensstil der Jünger nachzuahmen. Von einem Moment auf den anderem „explodiert“ die Kraft des Evangeliums und lässt aus dem zunächst bescheidenen Vorhaben der Nachfolge ein riesiges Lebenszeugnis und andauerndes Werk wachsen, das bis heute die Menschen fasziniert und mit dem Glauben in Berührung bringt.
Der Glaube ermöglicht, dort wo er in einem Menschen Wurzeln schlagen kann ein Hineinwachsen in den „Raum der Gnade“, in den Bereich der Nähe Gottes und dieser Raum überschreitet durchaus auch die Grenzen, ist offen für Wunderbares: Er ist geprägt durch die vertiefte Beziehung mit Gott und mit den anderen Menschen, ist ein Ort, an dem das Gebet eine eigene und dynamische Kraft ist, an dem Hoffnung, Liebe und Freude über das Leid siegen können und in dem auch Wunder und Visionen Platz haben.
Noch einmal das Bild des Senfkorns:So, wie Jesus davon erzählt, ist es natürlich eine Provokation an seine Jünger. Er sagt im Grunde: So groß oder besser klein wie ein Senfkorn wird Euer Glaube ja wohl mindestens sein. Aber: Es braucht einen Acker auf den das Korn fallen und aufgehen kann.
Auf welchem Acker geht das Senfkorn ihres Glaubens auf, wie kann es sich entwickeln und auswachsen? Welche Geschichte können Sie erzählen? Wo haben Sie diese Erfahrung des Raumes der Gnade gemacht, der Wunderbarkeit und an welcher Erfahrung möchten Sie vielleicht wieder anknüpfen? Das erfordert ein intensives Hören auf Gott, auf sein Wort, das mir entgegenkommt, in der Schrift, in der Liturgie, in der Begegnung mit anderen, in der Stille meines Herzens. Das Erntedankfest, bei dem es darum geht, zurückzublicken, auf das was ich in meinem Leben in den vergangenen Monaten ernten konnte, wäre dazu ein Anlass. Was ist in mir gewachsen?
Aus Assisi kam ich damals wieder nach Hamburg zurück, in eine umtriebige moderne Großstadt, die nichts mehr mit der Heimeligkeit Mittelitaliens gemein hatte und in der das Mittelalter mit seinen Kirchen und Heiligen weit weg war. Doch genau hier war nun der Ort, an dem meine Glaubensgeschichte weitergehen sollte. Die Wunder und Visionen sind längst nicht so unmittelbar da, wie es Franziskus erlebte. Das sie aber nicht vorhanden wäre, daran glaube ich nicht.
Mein Opa sagte immer:“ der Mensch meint er könne alles, aber er vermag noch nicht einmal einen Grashalm zu konstruieren, der von sich aus wächst.“ Ich glaube, das die Beziehung zum „Heiland“ einen selber Wunder der Nächstenliebe vollbringen lässt.
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