So schön war’s noch nie

„Traumschön“! Wer über einen „Instagram“ oder „TikTok“- Zugang verfügt, wird mit Bildern und Videos zum Neidischwerden überhäuft. Perfekte Menschen lachen bei perfektem Wetter vor perfekten Landschaften in die Kameras: Blaues Meer, schroffe Felsen, glitzernde Eislandschaften, urbane Traumziele, Wüsten bei Sonnenaufgang. So schön wie hier war’s noch nie.

Auf der Jagd nach dem besten Moment und nach dem besten Foto ist eine neue Art von Tourismus entstanden. Ob in edlen Luxuseinsiedeleien mit riesigen Terrassen und langen Bootsstegen, spektakulären Hotels mit Riesenrutschen, Infinity-Pools und künstlichen Wasserfällen, oder Landschaften, die durch gläserne Aussichtsplattformen oder auf Schaukeln über den Abgründen erschlossen werden: Die Welt ist auf der Suche nach den ultimativen Ansichten fürs digitale Fotobuch. Dank moderner Technik ist das möglich geworden. Drohnen machen Aufnahmen aus der Luft, Handykameras liefern Profi-Qualität, vor allem aber besorgen die digitalen Hilfsmittel den ultimativen „Photo Shoot“. Mit den entsprechenden Filtern entsteht bei einem trüben Tag heller Sonnenschein, werden lästige Mitbesucher aus den Aufnahmen radiert, werden Menschen schlanker, bekommen eine makellose Haut, eine kleinere Nase oder funkelnde Augen. Alles ist geschönt. Aber nur so sieht es halt wirklich gut aus. Wir sehen die Wirklichkeit so, wie sie aus unserer Sicht sein sollte.

Nicht umsonst ist einer der großen Reisetrends: „Escapes“, also Orte aufzusuchen, die einfach nur schön sind. „To escape“ heißt „entfliehen“. Die Instagram-Welt ist in gewissem Sinn eine Flucht aus der Wirklichkeit. Es zählt nicht mehr das Erlebnis, sondern das, was die Betrachter der Videos und Fotos für das Erlebnis halten.

Die Realität sieht oft ganz anders aus. Die „Escapes“ haben längst ihre Traumschönheit verloren. Die Instagram-Fotopunkte haben sich zu ganz banalen Tourismusattraktionen entwickelt. Wer sich über den Kommerz und die Überfüllung auf dem Markusplatz in Venedig, am Taj Mahal oder bei den Niagarafällen geärgert hat, kann dies jetzt an ganz anderen Orten genauso erleben.

Ein schönes Beispiel liefert eine kleine, an sich unspektakuläre Hängebrücke in Österreich. Sie befindet sich in der Nähe der Olpererhütte, einer Wander- und Pausenstation in den Zillertaler Alpen. Von der Hütte aus hat man einen schönen Blick auf einen Stausee. Die besagte Hängebrücke führt über einen kleinen Gebirgsbach, der sich in den See ergießt. Aus dem richtigen Blickwinkel gesehen scheint es, als ob der Wanderer auf der Brücke Hunderte von Metern über dem See schweben würde. Auf dieses Foto kommt es nun an. Für das richtige Bild nehmen die Instagramer eine stundenlange Wanderung auf sich. Eine Besucherin beschreibt, was sich dort ereignet:

Eine Frau steht alleine auf der Brücke. Blickt in die Ferne und breitet die Arme beim Einatmen über dem Kopf auf. Sie legt den Kopf in den Nacken, genießt die Einsamkeit und die Aussicht. Die Frau scheint in sich zu ruhen. Aber nur, wenn man das Treiben rundherum ausblendet. Im Hintergrund klicken Kameras. Handys werden ausgerichtet und Fotografen wuseln auf der Suche nach der richtigen Perspektive hin und her. An der Brücke selbst hat sich eine Schlange gebildet. Kaum kehrt die posende Frau zurück, legt sich die nächste Person in der Mitte der Brücke beim Posen ins Zeug. Ob sie nur wegen des Fotos gekommen sei, will ich von der Frau wissen. Sie lacht: „Ja. Wegen der Brücke.“ Wie all die anderen wohl auch. Wir schauen uns um. Die Brücke ist nicht so groß, wie ich angenommen hatte. Auf etwa 10 Metern wird mithilfe der Hängebrücke ein steiler Wasserlauf überwunden. Sie hängt also nicht, so wie es auf manchen Fotos scheint, in schwindelerregender Höhe über dem Schlegeisspeicher. Dafür ist sie wackeliger als sie aussieht, wie ich mir strauchelnd eingestehen muss. Wir überwinden die Brücke. Checken die Perspektive von der anderen Seite. Vielleicht sehen die Fotos ja von hier noch viel besser aus. Nein. Die Masse hat recht: Auf der Seite der Olpererhütte, etwas erhöht: Das ist der perfekte Ort für den Fotografen.[1]

Die Überfüllung ist das eine. Mittlerweile klagt die Region zunehmend über Staus, weil zu viele die Brücke sehen möchten. Die Ranger kämpfen mit unvorsichtigen ungeübten Wanderern und den großen Müllmengen. Der perfekte Ort ist ein Fake – zumindest, wenn man den Fokus der Kamera aufzieht und das ganze Bild sieht.

Das ist das Problem des traumschönen Ortes: Er wirkt nur aus der richtigen Perspektive. Man muss große Anstrengungen, einschließlich monatelangem Fitness-Training, Sonnenbank und Makeup für das perfekte Bild auf sich nehmen. In Wirklichkeit reicht ein Wadenkrampf im Infinty-Pool, um das dargestellte Glück empfindlich zu stören oder die schlichte Tatsache, dass ich den Pool mit 100 anderen teilen muss oder, dass die Stadt auf die ich von dort schaue gerade unter einer Smog-Glocke liegt. Für mein Leben gibt es keinen Filter, der die Realität auf Knopfdruck aufhübscht. Selbst in den entferntesten „Escape“-Ort nehme ich dummerweise immer mich selbst mit.

Erstaunlicherweise endet die Bibel mit einem solchen Blick auf den definitiven „Escape“-Ort. Am Ende der Offenbarung steht die Beschreibung des himmlischen Jerusalem, der traumschönen Stadt. Sie ist mit aller Pracht und Größe kaum zu beschreiben, gebaut aus den wertvollsten Steinen, durchleuchtet, fest gefügt und federleicht zugleich (Offb 21). In dieser Form gab es Jerusalem nie. Es ist, als hätte man den Filter der Herrlichkeit über den Ort gelegt. Allerdings haben wir es hier nicht einfach bloß mit einem geschönten Bild zu tun. Denn der äußeren Herrlichkeit entspricht in der biblischen Vision eine innerliche. Nicht nur die Stadt selbst, sondern die Stadtgesellschaft hat sich gewandelt. Es ist die Stadt, deren äußere Schönheit eigentlich nur Ausdruck ihrer inneren ist. Es ist eine Stadt ohne Tränen, ohne Schmerz, ohne Mühsal und ohne Trauer. Dies alles entsteht durch die Einheit zwischen Gott und seinem Volk. Das Leben in der göttlichen Gegenwart ist ein Leben in Schönheit, Wahrheit und Liebe. So ist es kein Wunder, dass Jesus den Jüngern die Liebe als erste göttliche Bürgerpflicht mit auf den Weg gibt. „Bleibt in meiner Liebe und liebt einander, wie ich euch gelebt habe“ (Joh 13,34). Die wirkliche traumschöne Herrlichkeit beginnt mit einem innerlichen Prozess.

Vom Volk der Osage, einem indigenen Stamm in Nordamerika wird berichtet, dass es immer wieder seinen Standort und seine eigene Organisation in Frage stellte. Es verwendete den Ausdruck „Wir ziehen in ein neues Land“ offenbar nicht (nur) im Sinne eines Ortswechsels. Vielmehr war damit auch gemeint: „Wir geben uns eine neue Verfassung“. Der Ortswechsel ist also zugleich ein physischer wir ein ideologischer Prozess.[2] Von einem veränderten Denken und Handeln her erschließt sich die Welt noch einmal neu. „Ein neues Gebot gebe ich euch“ – das Wort Jesu kann als in dieser Form verfassungsstiftend verstanden werden. Es müsste so etwas wie ein Instagram der inneren Welt geben, in dem ich Menschen die „Orte“ eines glücklichen Gedankens, einer erhellenden Einsicht, einer lebensstiftenden Erfahrung vermitteln könnte. „Schaut einmal, wie glücklich ich hier bin.“ Traumschön.  


[1] https://marlenesleben.de/instagram-hotspot-olpererhuette-so-ist-es-wirklich/ Einen schönen Einblick gibt auch ein Tagesschau-Bericht: https://www.youtube.com/watch?v=7hKw20qjCRY

[2] Graeber / Wengrow, Anfänge, Stuttgart 2022, 500f.

Ein Kommentar zu „So schön war’s noch nie

  1. Man sollte erwähnen, dass hinter der von Jugendlichen gern genutzten Social-Media-Plattform TikTok das chinesische Unternehmen ByteDance steckt, welches seine Kunden via App ausspioniert. Fotos, Audios, sonstige Daten werden entsprechend „ausgewertet“. Die App besser löschen.

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