Auf dem Alten Garten wird hier in Schwerin gerade das ZDF-Wahlstudio aufgebaut. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass der lange Doppelwahlkampf für Bundesland und Staat nun auf die Zielgerade eingebogen ist. Man hat den Eindruck: Gerade ist alles Politik. Keine Zeitung, keine Fernsehsendung kommt derzeit ohne Berichte und Prognosen über Parteien und Spitzenkandidaten aus. Wer wird am Ende vorne liegen, wer wird für welches Amt und für welche Koalition zur Verfügung stehen?
Es ist daher ein vielleicht glücklicher Zufall, dass das Evangelium des heutigen Sonntags, der zugleich der Caritassonntag ist, die politische Frage adressiert (Mk 9,30-37). Das geschieht in einem Nebensatz. Während Jesus mit den Jüngern über seine messianische Sendung und über sein Leiden und Auferstehen spricht, wird unter den Jüngern bereits diskutiert. Wer wird von der neuen Ordnung des Gottesreiches die meisten Vorteile haben, wer wird an welcher Stelle stehen, wer wird welches Amt bekommen? Wie wird das Schattenkabinett Jesu aussehen, das Kompetenzteam, das er sich auswählt?
Das Evangelium benennt diese Frage, weist sie aber sofort zurück. Jesus verbietet den Jüngern die politischen Spekulationen und weist auf etwas viel Grundlegenderes hin. Der Text kritisiert das politische Denken scharf. In einer Zeit, wo nach meinem Geschmack auch die Kirche teilweise ausschließlich unter politischen Gesichtspunkten betrachtet wird, also ständig die Frage nach Macht und Einfluss, Geld und Gut, Meinungsbildung und Abstimmungsprozessen stellt, wird dieses Evangelium auch für die Kirche zu einem wichtigen Maßstab. Nicht, dass alle diese Fragen unnütz wären, dass sich nichts verändern dürfe, nicht Neues entstehen solle – die politische Frage steht allerdings in der Logik der Sendung Jesu an einer nachrangigen Stelle. Im Kern geht es um ganz anderes, um das Herzstück des Christentums.
Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewkij hat versucht, dieses Herzstück des Christentums in seinen Romanen herauszuarbeiten. Für ihn setzte gerade das Christentum einen Kontrapunkt zur Gesellschaft seiner Zeit, dem Russland des 19. Jahrhunderts. Dostojewskij versuchte, Personen zu erfinden, die nahe an das christliche Ideal, sogar an Christus selbst heranreichten und kam dabei auf ungewöhnliche Lösungen. Eine dieser Figuren ist „Der Idiot“. Dies ist der Titel seines Romans von 1868.[1] Die Hauptfigur ist Fürst Myschkin. Dieser ist in seiner Kindheit wegen einer psychischen Krankheit behandelt worden und kehrt nach einem langen Aufenthalt in der Schweiz in seine Heimat zurück. In St. Petersburg gerät er in die feine russische Gesellschaft, wird aufgerieben und umgetrieben von politischen und philosophischen Diskussionen und von einer komplizierten Liebesgeschichte, ein Umfeld von Agitation und Intrige. Myschkin, der „Idiot“ fällt dabei aus dem Rahmen. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er selbst in all das Treiben um ihn herum nicht eingreift, sondern wissentlich und willentlich keinen Widerstand leistet. Er macht sich nicht zur Partei, verweigert sich, in den Weltlauf einzugreifen. Er gilt schnell als arglos, lächerlich und naiv, wird von den anderen als „Lamm“ oder als „vollständig naiv“ bezeichnet. Die Zeichen seiner Krankheit bleiben ihm erhalten. Er selbst ist immer der Schwächere im Kontakt mit den anderen.
Dostojewkij wollte in dieser Figur einen „wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“ zeichnen[2], einen der die „positiv-schöne Gestalt“ Christi in unserer Zeit verkörpern kann. Der Autor findet diese Schönheit gerade in der Arglosigkeit, Parteilosigkeit, Unentschiedenheit seiner Hauptfigur. Er zeichnet keinen Prediger oder Weltverbesserer, sondern einen Dulder und schwachen Menschen. Diese Interpretation mag man merkwürdig finden. Dostojewskij verbindet mit ihr allerdings ein großes Wort, nämlich die „Liebe“. „Liebe“ versteht er als ein Aushalten an der Seite der Sünder, als eine tiefgehende Offenheit und Selbstlosigkeit dem anderen gegenüber, als eine Bereitschaft, für die eigene Friedfertigkeit Schmach und Spott zu ernten.
Als die Jünger über die Frage der Machtverteilung diskutieren, stellt Jesus einen solchen Menschen, ein Kind in ihre Mitte. Wer bereit ist, von diesem Kind zu lernen, es auf- und anzunehmen, der kann seine Sendung verstehen. Arglosigkeit, Vertrauen, Treue, Offenheit dem anderen gegenüber. Sie sind offenbar im Evangelium Kennzeichen des Gottesreiches unter dem Vorzeichen der „göttlichen Liebe“.
Ich glaube, das ist eine gute Botschaft auch zum heutigen Caritassonntag. Er stellt den Kernpunkt der christlichen Botschaft, die tiefe Sympathie und Entscheidung, bei den Benachteiligten, Rechtlosen und Gefährdeten zu stehen neu in den Mittelpunkt. Diese Botschaft verweist alle anderen Fragen auf den zweiten Platz. Wer Christus verstehen möchte, muss offenbar genau diese Botschaft verstehen. Sie bildet die Sendung Jesu ab: Das Mitgehen, Eingehen und Erlösen des sündigen Lebens aus den inneren und äußeren Verstrickungen in eine komplizierte und fehlerhafte Welt.
[1] Fjodor Dostojewksij, Der Idiot, Frankfurt 2009.
[2] S. zur Interpretation des Romans: Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit, Band III,1, Einsiedeln 2009 (1965), 535-548.