Können Bischöfe zurücktreten?

Verantwortung wird immer in abgestufter Form wahrgenommen. Das ist aus dem politischen Bereich gut bekannt. Ministerinnen, Ministerpräsidenten oder die Bundeskanzlerin tragen für das Regierungshandeln in einem bestimmten Bereich die Verantwortung. Treten dabei schwere Fehler auf, oder ist eine Person auf ihrem Posten aus persönlichen Gründen nicht mehr haltbar, kann der Rücktritt von einem Amt die mögliche, häufig letzte Konsequenz sein. Im gesellschaftlichen Bereich ist ein solcher Vorgang nicht ungewöhnlich. Zudem ist die Rücktrittsforderung von Seiten der Opposition ein häufiges Mittel, um Amtsträger unter Druck zu setzen.

Bei einer Pressekonferenz nach der Vorstellung der MHG-Studie, also dem gesamtdeutschen Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des Missbrauchs in Reihen der Kirche, stellte eine Journalistin dem damaligen Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, die Frage, ob in der Konsequenz der veröffentlichten Ergebnisse nun auch Bischöfe zurücktreten würden. Die Frage erschien logisch. Sie folgte den politischen Gepflogenheiten, dass Verantwortungsträger als Zeichen eines Schuldeingeständnisses ihr Amt aufgeben. In den letzten Monaten ist es tatsächlich zu Rücktrittsangeboten gekommen. In Folge der Missbrauchs-Studie im Erzbistum Köln boten sowohl die Weihbischöfe Dominik Schwaderlapp und Ansgar Puff als auch der Hamburger Erzbischof und frühere Kölner Generalvikar Stefan Heße ihren Amtsverzicht an. Einige Zeit später folgte auch der Münchner Erzbischof Reinhard Marx, der mit seinem Rücktritt trotz nicht nachgewiesener persönlicher Schuld bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ein Zeichen für einen personellen Neuanfang setzen wollte. Auch der Berliner Erzbischof Heiner Koch bekannte vor Kurzem, dass er über ein Ausscheiden aus dem Amt nachdenke. Bislang allerdings ist noch kein Rücktritt erfolgt. Wie kann das sein?

Der Grund ist ziemlich simpel: Bischöfe sind keine Politiker. Auch wenn sie von außen gerne als eine Art „Regierungschef“ eines Bistums wahrgenommen werden, ist ihr Amt von anderer Natur. Das Zweite Vatikanische Konzil erklärte: „Die Bischöfe sind vom Heiligen Geist eingesetzt und treten an die Stelle der Apostel als Hirten der Seelen. Gemeinsam mit dem Papst und unter seiner Autorität sind sie gesandt, das Werk Christi, des ewigen Hirten durch alle Zeiten fortzusetzen.“[1] Schon mit dieser kurzen Beschreibung wird deutlich, dass die Kirche die Bischöfe nicht als gewählte „Chefs“, sondern als berufene, sakramental eingesetzte Hirten der Bistümer versteht. Ihre Einsetzung ist im Kern nicht das Werk von Menschen, sondern Zeichen des Handelns Gottes an seiner Kirche. Zudem ist die gegenseitige Abhängigkeit der Bischöfe und des Papstes im gemeinsamen apostolischen Dienst ausgesagt. Bischöfe gelten als Garanten der kirchlichen Lehre und Seelsorge (CD 13), gerade auch dann, wenn die christliche Botschaft in Widerspruch zur öffentlichen Meinung gerät. Die kirchliche Sendung sichert sie gewissermaßen vor der politischen Vereinnahmung ab. Die Bischöfe „erfreuen sich […] der vollen und uneingeschränkten Freiheit und Unabhängigkeit von jeglicher weltlicher Macht“ (CD 19). Diese Passagen sind auf die Situation der Bedrängnis hin geschrieben, und waren zur Zeit des Konzils angesichts der damaligen staatlichen Repressionen gegen die Kirche in den sozialistischen Staaten hochaktuell. Im Kern wird damit ausgesagt, dass die Bischöfe sich in ihrem Handeln vor allem innerkirchlich verantworten müssen.

Die Beurteilung eines Bischofs richtet sich also nach den Kriterien, die im Kirchenrecht festgehalten wurden, oder in amtlichen Dokumenten, wie etwa dem Nachsynodalen Schreiben „Pastores gregis“ von 2003 niedergelegt sind. Das Kirchenrecht bestimmt den Dienst des Bischofs vornehmlich als Hirtendienst. Der Bischof habe sich zuerst um die Anliegen der Gläubigen zu kümmern, die Ökumene zu fördern, die Priester zu begleiten, für den geistlichen Nachwuchs zu sorgen, das Evangelium zu verkünden, die Lehre der Kirche zu wahren und selbst ein glaubhaftes Beispiel christlichen Lebens zu geben.[2] Hinzu kommen die Pflichten und Aufgaben bei der ordnungsgemäßen Verwaltung der Diözese und der Zusammenarbeit mit den anderen Bischöfen und dem Papst. Allein schon der Umfang der beschriebenen Aufgaben macht deutlich, dass das Amt des Diözesanbischofs auf Kontinuität angelegt ist. Anders als der CEO (Geschäftsführer) eines großen Unternehmens soll der Bischof gerade nicht in kurzer Zeit viele Dinge ändern und dann weiterziehen, sondern mit Behutsamkeit und in Kenntnis des Bistums über eine lange Zeit seinen Dienst versehen.

Der Rücktritt des Bischofs ist laut Kirchenrecht[3] vorgesehen, wenn die Altersgrenze von 75 Jahren erreicht ist. In diesem Fall ist er verpflichtet, dem Papst seinen Amtsverzicht anzubieten. Über die Annahme eines Amtsverzichts entscheidet in jedem Fall der Papst in seiner Verantwortung für Leitung der Gesamtkirche. Daneben sieht das Kirchenrecht vor (can. 401,2 CIC): „Ein Diözesanbischof, der wegen angegriffener Gesundheit oder aus einem anderen schwerwiegenden Grund nicht mehr recht in der Lage ist, seine Amtsgeschäfte wahrzunehmen, ist nachdrücklich gebeten, den Amtsverzicht anzubieten.“ Was ein „anderer schwerwiegender Grund“ ist, wird hier nicht weiter definiert. Im Fall der aktuellen Rücktrittsangebote deutscher Bischöfe könnte vielleicht von diesen geltend gemacht werden, dass sie im Falle des Missbrauchs die ordentliche Verwaltung und Bearbeitung der Fälle nicht durchgeführt haben und damit gegen administrative Pflichten in einem besonders heiklen Gebiet verstoßen haben. Sie könnten auch angeben, dass sie das Vertrauen der ihnen anvertrauten Gläubigen verloren haben und deswegen ihren Hirtendienst, der ja ein pastoraler Dienst sein soll, nicht mehr ausüben können. Ob dies tatsächlich so ist, wird sich schwer beweisen lassen, so dass die Prüfung der Rücktrittsgründe tatsächlich kompliziert sein dürfte. Ein nichtgerechtfertigter Rücktrittsgrund wären politischer oder gesellschaftlicher Druck von außen. Ob die angebotenen Rücktritte also angenommen werden, ist fraglich. Im Falle des Münchener Erzbischofs Marx hat der Papst den Amtsverzicht genau mit Hinweis auf die Hirtenpflicht zurückgewiesen. Gerade jetzt, in dieser bedrängenden Situation, brauche es Persönlichkeiten, die in der Aufarbeitung des Missbrauchs und in der Erneuerung der Kirche vorangehen. Der Rücktritt sei ihm, dem Papst, da kein guter Weg. Der Brief [4]endet:

Es ist wichtig, die Realität des Missbrauchs und der Weise, wie die Kirche damit umgegangen ist, zu „ventilieren“ und zuzulassen, dass der Geist uns in die Wüste der Trostlosigkeit führt, zum Kreuz und zur Auferstehung. Es ist der Weg des Geistes, dem wir folgen müssen, und der Ausganspunkt ist das demütige Bekenntnis: Wir haben Fehler gemacht, wir haben gesündigt. Es sind nicht die Untersuchungen, die uns retten werden, und auch nicht die Macht der Institutionen. Uns wird nicht das Prestige unserer Kirche retten, die dazu neigt, ihre Sünden zu verheimliche. Uns wird nicht die Macht des Geldes retten und auch nicht die Meinung der Medien (oft sind wir von ihnen allzu abhängig). Was uns retten wird, ist: die Tür zu öffnen für den Einen, der allein uns retten kann, und unsere Nacktheit zu bekennen: „ich habe gesündigt“, „wir haben gesündigt“ – und zu weinen, und zu stammeln, so gut wir können: „Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder“, ein Vermächtnis, das der erste Papst den Päpsten und Bischöfen der Kirche hinterlassen hat. Dann werden wir jene heilsame Scham empfinden, die die Türen öffnen wird zu jenem Mitleid und jener Zärtlichkeit des Herrn, die uns immer nah sind. Als Kirche müssen wir um die Gnade der Scham bitten, damit der Herr uns davor bewahrt, die schamlose Dirne aus Ezechiel 16 zu sein. Es gefällt mir, wie Du den Brief beendest: „Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen“. Und genau das ist meine Antwort, lieber Bruder. Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising. Und wenn Du versucht bist, zu denken dass dieser Bischof von Rom (Dein Bruder, der Dich liebt), indem er Deine Sendung bestätigt und Deinen Rücktritt nicht annimmt, Dich nicht versteht, dann denk an das, was Petrus im Angesicht des Herrn hörte, als er ihm auf seine Weise seinen Verzicht anbot: „Geh weg von mir, denn ich bin ein Sünder“ – und die Antwort hörte „Weide meine Schafe“.


[1] II. Vaticanum, Dekret „Christus Dominus“ (CD), Nr. 2.

[2] CIC can. 383-387.

[3] CIC can. 401.

[4] Der gesamte Text: https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2021/06/10/0372/00815.html#ted

3 Kommentare zu „Können Bischöfe zurücktreten?

  1. Das wird wohl alles kirchenrechtlich korrekt sein, aber …(es gibt immer ein Aber) sollte das der Kardinal Marx nicht gewusst haben, als er seinen Rücktritt anbot?
    Und da er ja mit dem Papst gesprochen hatte und der der Öffentlichmachung des Rücktrittsangebotes zugestimmt hatte, müsste doch -wenn es so wäre, wie Sie vermutlich richtig erklären- auch der Papst nicht so richtig Bescheid gewusst haben. Und ist nicht in Südamerika eine ganze Bischofskonferenz zurück getreten (ich bin nicht ganz sicher)?
    Und, dass, wenn man sich die Kirchengeschichte so anschaut, wirklich immer NUR der Heilige Geist der Impulsgeber war, wage ich dann doch zu bezweifeln.

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    1. Liebe Frau Klein, Sie haben Recht – die derzeitige Lage ist ziemlich unübersichtlich. Die schnelle Antwort des Papstes hat mich auch überrascht. Soweit ich weiß, hat die chilenische Bischofskonferenz damals komplett ihren Rücktritt angeboten, es sind aber nur einzelne Bischöfe aus dem Amt geschieden. Die Einzelfälle werden also genau geprüft. Es ist natürlich nie „nur“ der Heilige Geist, zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft immer eine Lücke…

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