Die schönste Beschreibung für das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen findet sich im Johannesevangelium. Jesus verwendet dafür das große Wort „Liebe“ (Joh 15, 9). Gott ist die Quelle der Liebe. Er liebt Jesus als seinen Sohn. In der Rede an seine Jünger dehnt Jesus diese Gemeinschaft in der Liebe aus: Auch ich liebe euch. Ihr seid meine Freunde. Dort, wo die Liebe auf Gegenliebe stößt entsteht etwas Besonderes. Die Gemeinschaft in der Liebe bindet Gott und Menschen aneinander. Es ist eine frohe, beglückende, schöne und bereichernde Verbindung. In der Liebe wird der riesige Abstand, der uns von Gott trennt überwunden. Wir sind füreinander da.
Ganz ohne Anspruch ist diese Liebe aber offenbar nicht. Jesus ermahnt die Jünger: „Bleibt in meiner Liebe“. Das ist so, als wollte er sagen: Die Liebe zu erfahren, sie aufzubauen ist das eine, in ihr zu bleiben, also sie durch die Zeit meines Lebens hindurchzutragen das andere. Im Anschluss an diese Ermahnung folgt daher noch eine zweite: Haltet meine Gebote. Wer die Gebote hält, bleibt in der Liebe. Das klingt eigenartig. Die Liebe ist in unserem Verständnis doch etwas anderes als ein Vertragswerk. Sie soll doch ohne Bedingungen sein.
Über die Liebe zu sprechen, bedeutet immer, die Erfahrungen menschlicher Liebe mitzudenken. Es geht gar nicht anders. Wenn Gottes Verhältnis zu uns Liebe ist, ist diese Liebe sicher anders als die Liebe zwischen Menschen, sie ist aber nicht etwas ganz anderes. Schließlich sagen wir ja, dass die Ehe als Sakrament die Liebe Gottes zu den Menschen abbildet. Was ist also für uns Menschen wichtig, um in der Liebe zu bleiben?
Ich erinnere mich an einen Ehevorbereitungskurs, den ich begleiten sollte. Er wurde von einer Frau und einem Mann geleitet, die selbst seit einigen Jahren jeweils verheiratet waren. Sie hatten sich in der Vorbereitung aus ihrer eigenen Erfahrung überlegt, welche Themen im Vorfeld der Hochzeit wohl für die Paare wichtig sein könnten. Was sind die Dinge, über die man zumindest einmal sprechen sollte? Der Ehekurs gab den Partnern zum Beispiel die Gelegenheit sich gegenseitig zu sagen, was sie aneinander besonders mögen. Dann aber kam ein Thema, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Es ging um Gebote. Die Frage war: Welche Regeln sind uns in der Partnerschaft wichtig? Das wunderte mich etwas, eben weil ich dachte, dass es in Fragen der Liebe eigentlich eher so etwas wie ein blindes Einverständnis gibt, das kein eigenes Regelwerk braucht. Im Gegenteil: Ist es nicht irgendwie spießig, die Partnerschaft an Geboten und Verboten zu orientieren? Vor meinem Auge erschienen die Plakate mit Klassenregeln, die in der Schule neben den Tafeln an der Wand hängen. Auf diesen stehen dann Dinge wie: „Bevor ich etwas sage, melde ich mich“ oder „Ich achte auf Ordnung im Klassenraum“. Ich stellte mir eine solche Tafel in einer Küche vor. Der Mann kommt morgens mürrisch zum Frühstück und sagt kein Wort. Die Frau deutet auf die Tafel und sagt: „Schatz, was hatten wir vereinbart? Regel Nummer 5: Morgens begrüßen wir uns freundlich“.
Beim Ehekurs gab es unter den Paaren erstaunlicherweise keinen Widerstand. Im Gegenteil. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich der Aufgabe, Regeln für ihre Ehe zu entwickeln, sehr bereitwillig und ernsthaft stellten. Es ging vielleicht darum, das ungeschriebene Regelwerk ihrer Partnerschaft, in dem sich ihre Erwartungen und Hoffnungen für das Zusammenleben spiegelten, einmal ausführlich miteinander zu besprechen. Im Nachhinein sagten einige, dieser Punkt sei ihnen im Kurs besonders wichtig gewesen.
Was waren das für Regeln? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern aber sinngemäß ging es um Sätze wie: „Wir erzählen uns offen und ehrlich, was uns bewegt und beschäftigt.“ „Wir müssen nicht die ganze Freizeit miteinander verbringen, aber wenn es möglich ist, tun wir es.“ „Wenn wir uns miteinander streiten, versuchen wir, uns so schnell wie möglich wieder zu versöhnen.“ „Wir interessieren uns für das, was der andere denkt.“ „Wenn es einem schlecht geht, ist der andere für ihn da.“ Es waren Dinge dieser Art. Sie sollten nicht auf ein Plakat geschrieben werden, sondern die Regeln galten den Partnern als Hinweis auf das, was sie als hilfreich und wichtig für eine gelingende Beziehung empfanden, damit die Liebe bleibt und mit der Zeit wachsen kann.
Um in Gottes Liebe zu bleiben, können wir vielleicht an ganz ähnliche Gebote denken. Versuchen Sie einmal, die Regeln der Partnerschaft auf die Gottesbeziehung zu übertragen. „Wir interessieren uns füreinander“, also wir versuchen Gott zu verstehen, so wie er uns versteht. „Wir verbringen Zeit miteinander“ – Beziehungspflege setzt voraus, dass man ihr Zeit einräumt. Ein Paar, dass sich nur ein oder zweimal im Jahr sieht, wird es schwer haben. „Wir suchen die Vergebung“ – auch der Streit und die Unzufriedenheit, die wir mit Gott haben und er vielleicht auch manchmal mit uns soll die grundsätzliche Beziehung nicht zerstören.
In der Liebe bleiben -.die Aufforderung Jesu an die Jünger ist also keineswegs banal. Beziehungen wachsen in der Zeit, sie sind manchmal intensiver, manchmal weniger intensiv. Die Liebe soll nicht bloß flüchtig sein, sondern ein fester Grund, auf dem mein Leben steht. Gott zumindest gibt uns dieses Versprechen.