Es waren unheilvolle Zeichen, die die Katastrophe ankündigten. Ein Komet war erschienen, merkwürdige Zeichen am Himmel, eine seltsame Häufigkeit von Regenbögen. Der Darmstädter Superintendent Heinrich Leuchter sah in ihnen die Vorausboten einer großen Katastrophe. Die Endzeit hatte begonnen, göttliche Strafen standen bevor, Krieg und Aufruhr in Deutschland. Die Natur war zum Sprachrohr Gottes geworden. Über dem Odenwald beobachtete man in Wolken und Licht himmlische Konstellationen, die auf Schlachten, Schwerter oder Kreuze hindeuteten. Man wollte sogar Drachen gesehen haben. Die entfesselte Macht des Bösen: War das nicht schon in der Bibel vorausgesagt worden? Wusste man nicht, dass das Böse in Gestalt von Hexen oder Geistern schon längst in die dörflichen Gemeinschaften eingegriffen hatte? So war es zu Missernten gekommen, zu merkwürdigen Krankheiten und Todesfällen. Sterndeuter, Magier oder Astrologen erlebten eine Hochzeit. Auf Flugblättern gedruckt verbreiteten sich die schlechten Neuigkeiten, die warnenden Prognosen und unheilvollen Botschaften. Es war der Anfang des 17. Jahrhunderts.[1] Offenbar befand sich die Zeit in einer Art apokalyptischem Fieber. Im Nachhinein wurden diese Vorzeichen dann auf den Dreißigjährigen Krieg bezogen, der 1618 ausbrach. Hatten sich die Unheilspropheten also doch nicht geirrt? Waren sie nicht wachsam gegenüber den Zeichen des Endgerichts gewesen, wie sie die Evangelien und die Offenbarung des Johannes beschreiben?
Ja, dunkle Zeiten damals, so könnte man meinen. Dabei war dies das Zeitalter der Renaissance, des Humanismus und der Reformation. Man wundert sich über soviel Unverstand in einer von uns doch als verständig gekennzeichneten Epoche. Zumindest vor ein paar Jahren hätte ich mich noch gewundert. Ich war es gewohnt, über die düsteren apokalyptischen Szenarien der Bibel elegant hinwegzulesen: Vergangene Zeiten. Heute zeigt sich: die Lust am Untergang ist keineswegs vorbei. Unser so rationales, technisches, angeblich fortschrittliches Zeitalter lässt die Apokalypse wieder auferstehen. Es hat lediglich ein kleines Virus gebraucht, um alle endzeitlichen Bilder wieder heraufzubeschwören. Die Medien und Protagonisten haben sich gewandelt. Die Flugblätter von damals sind heute youtube-Videos. Aber die Zeichen des großen Unheils werden genauso wieder entdeckt. Es sind vielleicht nicht mehr Hexen oder Dämonen, die den Kampf des Bösen führen. Heute heißen diese Gestalten anders. Es sind große Konzerne oder einflussreiche Persönlichkeiten, Verschwörergruppen der Mächtigen, Geheimdienste oder die Chinesen. Man rechnet nicht mit Drachen, dafür aber mit Außerirdischen, reinkarnierten Diktatoren oder humanoiden Roboterwesen. Es ist schon erstaunlich, dass sich auch heute in nicht unerheblicher Zahl Menschen finden, die sich als Erleuchtete im Krieg gegen das Böse sehen mit allen Mitteln und Bildern, welche die Apokalypse zur Verfügung stellt.
Gerade deshalb ist nötig, die Bibel und ihre endzeitlichen Schriften zu lesen. Sie sind vor allem eins: ein Gegenmittel.
Jesus sprach zu seinen Jüngern: In jenen Tagen, nach jener Drangsal, wird die Sonne verfinstert werden und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn in Wolken kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels. Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, erkennt ihr, dass der Sommer nahe ist. So erkennt auch ihr, wenn ihr das geschehen seht, dass er nahe vor der Tür ist. Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater. Gebt Acht und bleibt wach! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie mit einem Mann, der sein Haus verließ, um auf Reisen zu gehen: Er übertrug die Vollmacht seinen Knechten, jedem eine bestimmte Aufgabe; dem Türhüter befahl er, wachsam zu sein. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, wann der Hausherr kommt, ob am Abend oder um Mitternacht, ob beim Hahnenschrei oder erst am Morgen. Er soll euch, wenn er plötzlich kommt, nicht schlafend antreffen. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam! (Mk 13,24-37)
Die wunderbare San-Brizio Kapelle in Orvieto wurde im 16. Jahrhundert mit prächtigen Fresken ausgemalt. Sie zeigen die Geschehnisse der Endzeit. Auf einem Bild ist der Antichrist zu sehen, also einer, der in der Bibel als „falscher Prophet“ gekennzeichnet wird und die Menschen vom Glauben abbringen möchte. Er steht auf einem Podest und spricht zu den Menschen, die ihm mit erschreckten Gesichtern zuhören. Der Künstler hat dem Antichristen ein erschreckend realistisches Aussehen gegeben. Er sieht nicht aus, wie einer der Dämonen, sondern er sieht aus wie Christus selbst. Die Leute können ihn mit Jesus verwechseln. Aber seine Augen schauen böse und seine Rede ist vom Bösen. Er macht den Menschen Angst, er verunsichert sie, er verzerrt die christliche Lehre bis zur Unkenntlichkeit, verkehrt sie in ihr Gegenteil. Statt Heil predigt er Unheil, statt Hoffnung Verzweiflung, statt Vertrauen Misstrauen, statt Vergebung Rache, statt Liebe Hass. Er ruft nicht zur Umkehr und zur Einsicht in die eigene Schuld auf, sondern lenkt die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die Sündigkeit der Anderen. Erlösung heißt hier Vernichtung und Kampf.
Dabei hatte Jesus doch gesagt, dass seine Worte in Ewigkeit bestehen würden (Mk 13,31). Seine Worte sind die des Evangeliums. Man kann sie leicht nachlesen. Sie sind die Richtschnur im Umgang mit der Krise. Und ein weiteres sagt das Evangelium. Den Tag des Menschensohnes, den Tag der Apokalypse kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel (Mk 13,32). Es gibt niemanden, der uns über den Zeitpunkt etwas sagen könnte. Daher ruft das Evangelium zur Wachsamkeit. Und diese Wachsamkeit soll eine aktive Wachsamkeit sein. Im Gleichnis von den Dienern, denen die Verantwortung übertragen wird, ist das klar ausgesagt: Arbeitet und seid nicht untätig! Die Wachsamkeit ist Arbeit für das Evangelium, Arbeit am großen Versöhnungswerk Gottes. Die Zeichen der Zeit zu erkennen ist das eine. Die apokalyptischen Zeichen begleiten jede Generation auf ihre Weise. Entscheidend ist aber doch vielmehr, zu wissen, was angesichts der Zeichen zu tun ist. Sie sollen ein Ansporn zum Guten sein, zum Frieden und zur Versöhnung. Nicht den Mut verlieren, nicht den Kopf verlieren, nicht das Herz verlieren! Wachsam bleiben heißt: Im Guten standhaft sein.
[1] Ich verdanke diese Hinweise auf die apokalyptische Vorzeit des Dreißigjährigen Krieges Duchhart, Heinz, Der Weg der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, München 2017, 196-222.