Wer bist du?

Kaum ein Thema beschäftigt die Medien regelmäßig so wie der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf. Das ist auch kein Wunder: Der Wahlkampf wird schließlich für die Medien gemacht. Er ist eine Inszenierung, die darauf angelegt ist, möglichst große Öffentlichkeit zu bekommen. Jede Schlagzeile, jeder Fernsehbericht, jeder Tweet ist wichtig. So war der Wahlkampf auch in den letzten Tagen das beherrschende Thema, als die demokratische Partei ihren Nominierungsparteitag in Milwaukee abhielt. Die entscheidende Frage: Wie würde sich der Präsidentschaftskandidat Joe Biden präsentieren? Welche Botschaft würde er von sich in die Welt senden? Joe Biden nannte die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr eine Entscheidung zwischen Licht und Dunkelheit.[1] Er schilderte die Gegenwart der USA als eine Situation der Dunkelheit: Die massive Bedrohung durch das Corona-Virus, die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit, die außenpolitische Isolation, der Einfluss fremder Mächte auf die derzeitige Politik, das Wiedererstarken des Rassismus, die fehlende Antwort auf die Herausforderungen des Klimawandels. Wer sollte das alles ändern können? Auf dem Höhepunkt seiner Rede sagte Biden: „As president, I will make you this promise: I will protect America. I will defend us from every attack. Seen. And unseen. Always. Without exception. Every time.“ („Als Präsident werde ich Euch dieses Versprechen geben: Ich werde Amerika beschützen. Ich werde uns vor jedem Angriff verteidigen, von sichtbaren und unsichtbaren. Immer. Ohne Ausnahme. Jederzeit.“). Ein solches Versprechen ist völlig unrealistisch. Kein Präsident konnte so etwas in der Vergangenheit leisten und keiner wird es leisten können. Aber darum geht es nicht. Es geht um starke Worte und es geht um eine Rolle, die Biden einnehmen möchte. Er möchte der Beschützer, der Vereiner und der Lichtbringer sein. Das ist keine Beschreibung des Menschen Joe Biden, sondern ein Image, also ein Bild von sich, das er vermitteln möchte. Der Kandidat ist mehr als ein zu wählender Politiker. Er ist eine Projektionsfläche für Hoffnungen und Erwartungen zur Zukunft seines Landes. Wer er wirklich ist und was er wirklich kann, ist damit noch nicht gesagt.

Die Öffentlichkeit arbeitet so. Sie bestimmt die Wahrnehmung eines Menschen unter einem bestimmten Label, einer Rollenzuweisung. Als Jesus die Jünger fragt, was sie von ihm sagen, kommen genau solche Labels oder Rollen zur Sprache: Du bist Johannes der Täufer, also der Prophet, der die Umkehr und Endzeit verkündet hat und gegen das Königshaus des Herodes gepredigt hat. Du bist Elija, der Zeichen und Wunder getan hat und die fremden Götter bekämpfte. Du bist Jeremia, der für seine Predigt geschmäht und verachtet wurde und in Todesgefahr vor dem eigenen Volk lebte. Petrus schließlich nennt ihn den Messias, den Sohn des lebendigen Gottes. Jesus bestätigt ihm, dass Petrus damit den Kern seiner Sendung richtig getroffen hat. Zugleich verbietet er seinen Jüngern aber, ihn öffentlich so zu bezeichnen. Denn auch „Messias“ ist ein Rolle, an die bestimmte Erwartungen geknüpft werden, etwa die politische Befreiung oder die Wiedererrichtung des jüdischen Königshauses in der Tradition Davids. Jesus macht deutlich, dass alle diese Rollen zugleich passend aber nicht erschöpfend sind. Jesus ist anders. Er entzieht sich den gängigen Erwartungen, einem öffentlichen „Labeling“, weil er weiß, dass sein Wesen und seine Sendung sich auf ganz andere Weise erfüllen werden als es die Menschen denken. Zugleich überrascht er damit, dass er auch Petrus eine Rolle gibt: „Du bist Petrus der Fels und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“. Man darf dazu ruhig im Hinterkopf behalten, dass Petrus nur wenig vorher beim Versuch, Jesus auf dem See entgegenzugehen gescheitert war und unterging, weil sein Glaube nicht stark genug war. Die Zuschreibung, er sei der Garant und Fels des Glaubens ist also nicht von der Erfahrung gedeckt sondern geht über die Erfahrung hinaus. Ich glaube, man darf Jesus zutrauen, dass er einen tieferen und realistischeren Blick auf Petrus gehabt hat, als andere. Es ist also mehr als eine Rolle, die Petrus einnimmt, sondern in diesem Fall die Beschreibung seines Wesens, die sich erst viel später, nach der Auferstehung bewahrheiten soll.

Wer bist du? Wenn ich versuche, diese Frage mit Blick auf einen anderen Menschen zu beantworten, muss ich vorsichtig sein. Der Schein kann trügen, mein Eindruck falsch sein. Menschen sind vielschichtig. Sie sind mehr als ein Rolle, die man in ihnen sieht. In dieser Woche war ich bei einer beeindruckenden Trauerfeier für eine verdiente Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Ich hatte vorher mit der Witwe lange gesprochen und den Eindruck erhalten, ein gutes Bild des Verstorbenen bekommen zu haben. Nach meiner Ansprache folgten noch viele weitere. Jede schilderte des Verstorbenen aus einer anderen Perspektive. Bei allen Gemeinsamkeiten in der Beschreibung dieses Menschen, kam mit beim Zuhören eine zunehmende Unsicherheit. Alle Redner waren mit dem Verstorbenen eng verbunden gewesen. Sie sprachen mit großer Sympathie und Achtung von ihm. Und trotzdem: Bei all den vielen Worten spürte ich das Ungenügen der Beschreibung. Ich hatte am Schluss nicht den Eindruck, den Verstorbenen nun besser kennengelernt zu haben, sondern vielmehr den Eindruck, dass ich weniger wusste als zu Beginn. Es ist vielleicht eine Ahnung von der Unauslotbarkeit jedes Menschen, die hinter alle Beschreibungen, Perspektiven und Rollen zurückreicht. Und ich hatte bei der Trauerfeier den Eindruck: Ich hätte diesen Menschen gerne selbst gekannt, mein eigene Bild von ihm bekommen. In den Fragen des Glaubens ist es ähnlich. Bei allem, was ich von Jesus lesen und hören kann, ersetzt nichts die persönliche Begegnung mit ihm, zu der er immer wieder einlädt. Nichts ist wahrhaftiger, als die eigene Glaubenserfahrung. Nicht, dass sie besser oder wahrer wäre als andere Glaubenserfahrungen, aber sie ist tiefer, persönlicher und direkter. Die Wahrheit über einen Menschen kennen nur er selbst und Gott. Deshalb ist es bei der Trauerfeier wichtig, Gott das letzte Wort zu überlassen, ihn um Annahme und Aufnahme der Verstorbenen zu bitten. Am Ende der Feier steht das Schweigen als Ausdruck eines unsagbaren Restes, der bei jedem von uns bleibt. Unser Reden bleibt Stückwerk. Die Vollendung und Vollkommenheit des Erkennens, die letzte Wahrheit soll immer erst noch offenbar werden.


[1] Die Rede im Wortlaut: https://www.cbsnews.com/news/joe-biden-dnc-2020-speech-nomination-acceptance/

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