Schwer öffnet sich die massive Eichentür. Der Besucher, ein großgewachsener, hagerer Mann mittleren Alters betritt einen kleinen Vorraum, eine Art Durchgangs- und Empfangszimmer. Für einen Moment umfängt ihn die Dunkelheit des fast fensterlosen mittelalterlichen Gemäuers. Dann tut sich eine zweite Tür auf, dahinter ein halbschattiger Weg, eine gemauerte Fensterreihe (so hat es den Anschein) und das Sonnenlicht, das in seinen letzten Tagesstrahlen in den Garten fällt. Der Besucher tritt über die Schwelle. In dem Augenblick erfasst er den Ort zur Gänze. Er ist in einen Kreuzgang getreten. Mit einem leichten Lächeln, dem einzigen Anzeichen für ein Wiedererkennen des ehemals so vertrauten Ortes, mustert er die alten steinernen Wegplatten, die eleganten gotischen Säulen und Säulchen, die über ihm in einem Muster wiederkehrender Spitzbögen auslaufen. Er sieht den alten Baum in der Mitte des Gartens, den Giebel der auf der rechten Seite aufragenden Kirche, die am Ende der linken Seite des Ganges befindliche Tür, die den Weg in die ehemalige Klosterküche verschließt.
„Im Grunde ein Abbild des Lebens, so ein Kreuzgang“ – der Herr im Kreuzgang sinnt nach. „Ein in sich geschlossener Weg im Innern eines Klosters. Ein Rundgang der sich je nach Tageszeit in die ein oder andere Richtung öffnet: hier die Tür zum Speisesaal, dort die zum Versammlungsraum, dort der Gang zu den Schlafräumen und zur Bibliothek, die Pforte, die nach draußen auf die Felder und zu den Fischteichen führt und schließlich die Portale in die Kirche, eines zum Chorraum, ein weiteres in das Kirchenschiff. Das Leben ein Kreuzgang – zum Essen, zum Beten, zur Arbeit, zum Studium, zur Beratung, zur Besinnung immer durch den Kreuzgang, ein Rundweg durch den Tag und durch das Leben.“ Die Mönche sind schon lange nicht mehr da. Das Kloster ist ein Internat. Der Besucher erinnert sich. Hier ist er selbst als Schüler gewesen. Jeden Tag durch den Kreuzgang, Schule, Gebet, Freizeit, Essen, Schlafen. Ein Vierteljahrhundert ist das her. Er beginnt seinen Weg, links den Gang hinunter und dann zur Rechten auf der Mitte des Weges. Da steht das Brunnenhaus. In drei steinerne Schalen, die übereinander stehen, ergießt sich das Wasser, Tag und Nacht. „Merkwürdig“ – wieder so ein Gedanke – „der Kreuzgang, der Kreislauf des Lebens, immer wieder führt er am Brunnen vorbei, so als käme das Leben immer wieder zu seinem Ursprung zurück, in das beständige immer neue und doch immer gleiche Fließen des Wassers.“ Der Besucher bleibt lange vor dem Brunnen stehen. Er wird ein Gedicht über diesen Moment schreiben. Der Besucher ist Hermann Hesse, das Kloster Maulbronn. Es ist das Jahr 1914. 25 Jahre ist es her, seit Hesse Maulbronn damals fluchtartig verlassen hatte. Die strenge Erziehung des evangelischen Internats hatte ihm zugesetzt. Sein Roman „Unterm Rad“, in dem er seine Erlebnisse in Maulbronn verarbeitet, war sein erster großer Erfolg als Schriftsteller. Nun ist er noch einmal zurückgekehrt. In seinem Gedicht über diesen Besuch schreibt er:
Verzaubert in der Jugend grünem Tale
Steh ich am moosigen Säulenschaft gelehnt
Und horche, wie in seiner grünen Schale
Der Brunnen klingend die Gewölbe dehnt.
Und alles ist so schön und still geblieben.
Nur ich ward älter, und die Leidenschaft,
Der Seele dunkler Quell in Hass und Lieben,
Strömt nicht mehr in der alten wilden Kraft.
Vom Brunnen einmal ausgegangen ist der Besucher zum Brunnen zurückgekehrt. Alles ist geblieben wie es war, aber zugleich hat sich alles verändert. Der Kreuzgang, Sinnbild der Zeit, ist erneut durchschritten worden. Der Besucher ist als er selbst und zugleich als ein anderer wieder da.
Weit dehnt sich der Blick über die Wasserfläche. Diesmal ist es die Fläche des Sees, der tiefblau und friedlich vor uns liegt. Das Gewässer zwischen dem Golan und dem galiläischen Bergland, bekannt als See von Tiberias oder auch See Genezareth ist Ausgangspunkt der großen Wanderung, die das Evangelium beschreibt. Von Kafarnaum am Nordende hat man den besten Blick über den See. Der Ort ist nicht zufällig genannt. Hier im Norden siedelten die israelischen Familien, die sich von den Jakobssöhnen Sebulon und Naftali herleiteten. Und von hier sollte das Licht ausgehen, dass einmal als Zeichen der erneuerten Herrschaft Gottes über ganz Israel strahlen würde. Hier am Wasser, am See von dem der Jordan ausfließt in die Wüste, von wo der Weg nach Jerusalem seinen Ausgang nimmt, beginnt Jesus seine Sendung. Am Wasser liegt der Ursprung. Am See wandernd trifft Jesus die ersten Gefährten. Ihre Namen sind uns überliefert: Petrus, Andreas, Jakobus, Johannes. Es sind Namen von Menschen vergangener Zeiten. Es könnten auch unsere Namen sein. Denn wir können uns selber am See stehen sehen, den Blick auf das Wasser, die Hand an den Netzen, die unsere tägliche Arbeit bedeuten. Wir können sehen, wie der Wanderer uns erblickt und auf uns zukommt, hören, wie er uns anspricht. Er fragt uns, mit ihm zu gehen ins Unbekannte einer langen Wanderschaft, weg vom See. Wie die Jünger sehen wir unsere Netze abgelegt am Strand uns in den Booten. Ein letztes Umschauen, der See tiefblau hinter uns, so wie die Vergangenheit, ein Eindruck der lange Jahre her ist und doch nicht verblasst. Denn wie die Jünger werden wir wieder zurückkehren. Die Wanderschaft ist ein Rundweg. Nach allem, was die Jünger gesehen und gehört haben, nach Abschied, Tod und Auferstehung Jesu zeigt sie das Evangelium wieder am See stehen, wieder mit den Netzen in der Hand, das Boot zu Wasser lassend, hinausfahrend, die Tiefe unter sich, die Wellen am Bug, der Wind über dem Wasser (Joh 21). Und Jesus begegnet ihnen erneut. Alles ist gleich und doch alles anders. Der Ort, an dem sie weggerufen wurden, ist zugleich der Ort, an dem sie ihre Berufung wieder einholt. Das damals gegebene Versprechen, Jesus nachzufolgen, wird nun eingefordert. Es ist gut, zurückzukommen, nicht, um eine ferne Erinnerung zu pflegen, sondern, um sie zu erneuern. Wir sind wieder zurück am Wasser.
Ein letzter Blick auf den Brunnen. Der Besucher in Maulbronn wendet sich langsam um. Nur wenige Minuten später ist er wieder in der Gegenwart angekommen. Hesse dichtet im Rückblick:
Die Seele, die nach Ewigkeit begehrte,
Trägt nun Vergänglichkeit als liebe Last
Und ist auf der erspürten Jugendfährte
Noch einmal still und ohne Groll zu Gast.
Nun singet, Wasser, tief in eurer Schale.
Mir ward das Leben längst ein flüchtig Kleid.
Nun tummle, Jugend, dich in meinem Tale
und labe Dich am Traum der Ewigkeit!
Der Ort der Jugend war der Ort, der die Ewigkeit verhieß. Der Kreuzgang hatte den Kreislauf dieses Lebens bedeutet. Die Ewigkeit war ein Traum. Zu viel an gelebtem Leben ist über diesen Traum hinweggegangen. Und doch meldet sich die Sehnsucht wieder. Die Verheißung des Anfangs hat ihre Kraft nicht verloren. Der Besucher kann sie bei der Rückkehr zum Brunnen wieder spüren. Über seinem Leben liegt die Verheißung und liegt ein Versprechen.
Aus Galiläa nehmen die Jünger dieses Versprechen damals mit. „Wir werden mit dir gehen“. Und in diesem Versprechen liegt eine Verheißung. Der Ursprung der Wanderschaft trägt in sich eine bleibende Geltung, eine Ewigkeit aus Treue, die im Bund zwischen Gott und Mensch beschlossen liegt. Der See wird zum Erinnerungsort an das Versprechen. So wie es ein „damals“ gibt, wird es immer wieder ein „morgen“ geben. Die Sehnsucht kehrt mit dem Wind über den Wellen zu uns zurück.