Inständig bitten

Die gewohnte Einkaufsroutine auf der Hamburger Spitalerstraße wurde an diesem Samstag kurzfristig unterbrochen. Um die Mittagszeit tauchte eine lange Kette schwarzer Regenschirme über den Köpfen der Passanten auf. Sie wurden getragen von schwarzgekleideten Demonstranten. Diese marschierten im Gänsemarsch, einer hinter dem anderen, in einer wohl mehrere hundert Meter langen Schlange vom Hauptbahnhof auf das Rathaus zu. Diejenigen, die keine Schirme hatten, hielten Plakate in den Händen, deren Botschaft sie den Umstehenden entgegenhielten. Die Aktion nannte sich „Walk for freedom“. Die Demonstranten, zusammengerufen von einer Organisation die sich „A21“ nennt, machten auf moderne Formen der Sklaverei und des Menschenhandels aufmerksam. Die Aufmerksamkeit war ihnen gewiss. Das Band der dicht an dicht gehenden Menschen zerschnitt die Einkaufsstraße in zwei Spuren und machte deren Überqueren für eine Zeitlang unmöglich. Wer von der einen auf die andere Seite wollte, musste notgedrungen anhalten und bekam Gelegenheit, die Forderungen der Vorbeiziehenden zu lesen.

Es gehört zu den Zeichen einer informationsüberladenen Gesellschaft, dass Botschaften allein nicht mehr ausreichen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es braucht ungewöhnliche Formen und Formate, Aktion, Werbung und Medienpräsenz, um mit dem eigenen Anliegen aus der Masse hervorzustechen. Das „awarness raising“ ist in Kampagnen heute eine Strategie. Ungewöhnliches erzeugt Aufmerksamkeit. Zuweilen kann auch die bewusste Störung ein Mittel sein, selbst dann wenn sie negative Emotionen auslöst. Die Demonstranten, die ihren Protest gegen den Klimawandel als „extinction rebellion“ bezeichnen und im Namen des Klimas den Verkehr lahmlegen, spalten zwar in der Bewertung ihrer Aktionen die Meinungen, erzeugen aber einen so hohen Grad an Aufmerksamkeit, dass überall von ihnen gesprochen wird. Wer ein Anliegen hat, muss es nur laut und intensiv vortragen, um gehört zu werden. Leider gilt auch umgekehrt: Wer am lautesten und schrillsten ist, hat nicht deswegen schon das wichtigste Anliegen. Der Kampf der Kampagnen wird nicht zwischen ihren Inhalten geführt. Es gewinnt vielmehr meist einfach das auffälligste Kostüm.

Das Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter, das Jesus erzählt, scheint auf der gleichen Linie zu liegen. Es hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck:

In jener Zeit sagte Jesus den Jüngern durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange Zeit nicht. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht. Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern? Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden? (Lk 18, 1-8)

Im Gleichnis bekommt die Witwe Recht, weil sie ihr Anliegen am lautesten und hartnäckigsten vorgetragen hat. Jesus weist darauf hin, dass der Richter ungerecht und rücksichtlos ist. Es geht ihm offensichtlich nicht darum, Recht zu sprechen. Sonst hätte er im Gerichtsverfahren beide Seiten gegeneinander abgewogen und unabhängig von den Personen geurteilt. Hier aber lässt er sich einseitig beeinflussen. Er möchte im Wesentlichen seine Ruhe haben. Urteilt er zugunsten der Witwe, ist zwar der Rechtsstreit möglicherweise falsch entschieden. Dafür aber endet das Geschrei. Warum vergleicht Jesus Gott mit diesem ungerechten Richter? Wäre es nicht gerade an Gott, gerecht zu sein?

Vielleicht hilft es, sich ein anderes Beispiel anzuschauen: Wenn Eltern ihre Kinder nach ihren Geburtstagswünschen fragen, bekommen sie schnell eine ganze Liste an Wünschen zurück: Ein Fahrrad, ein Buch, ein Kuscheltier, ein Lego-Bausatz, ein Kino-Besuch, ein Computerspiel, neue Turnschuhe. Kinder formulieren Wünsche gerne aus dem Bauch heraus. Sie wünschen sich das, was sie im Spielzeugladen gerade gesehen haben, was ihre Freunde besitzen, wovon auf dem Schulhof geschwärmt wird. Welcher Wunsch ist der wichtigste? Kinder haben in der Regel Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten. Am besten, man gibt ihnen Zeit. Im Laufe von Tagen und Wochen verändern sich die Wünsche. Das gerade im Laden Gesehene ist wieder vergessen, das bei den Freunden Gespielte mit der Zeit langweilig geworden, neue Reize sind aufgetreten. Einige Wünsche werden gleich bleiben. Sie verfestige sich zu wirklichen Anliegen. Je häufiger Wünsche abgefragt werden, umso mehr stellt sich der wahre Wunsch heraus.

Das Beispiel zeigt zwei Dinge: Das Bitten hat eine eigene Dynamik. So sehr es viele Bitten und Wünsche gibt, die ich Gott im Gebet vortrage, so sehr werden sich doch die zentralen Anliegen mit der Zeit herausbilden. Mit der Zeit und der Übung treten die wirklichen Sehnsüchte des Menschen immer mehr hervor. Das inständige Bitten wird zum Erkenntnisprozess. Das zweite: Bitten und Wünschen sind ein Beziehungsgeschehen. Die Eltern möchten ihrem Kind Wünsche erfüllen, weil dies ein Weg ist, den Kindern Zuwendung und Liebe zu zeigen. Die Botschaft eines Geschenkes ist: Ich mag dich, ich vertraue dir, du bist wertvoll. Dabei wächst die Anerkennung nicht in dem Maße, in dem das Geschenk größer und teurer wird, sondern in dem Maße, wie es der Beziehung entspricht. Wer in der Lage ist, auf die tiefen Sehnsüchte und Wünsche zu reagieren, stärkt die Beziehung, ohne den Eindruck zu erwecken, sich diese kaufen zu können. Im Tiefsten steckt hinter dem Wunsch mehr als ein materielles Bedürfnis, sondern vielmehr ein Bedürfnis an Zuwendung, Annahme und Liebe.

Daher ist auch Gott in gewisser Weise parteiisch. Jesus spricht vom Verhältnis Gottes zu seinen Auserwählten, also zu den Menschen, die mit ihm besonders eng verbunden sind. Dazu gehören im Evangelium gerade die Schwachen, Kleinen und ungerecht Behandelten. Ihrer Bitte ist er in besonderer Weise zugänglich. Im Tiefsten ist auch hier das Bitten ein Beziehungsgeschehen. Nicht jeder Wunsch wird erhört, nicht jede Forderung umgesetzt. Das intensive Bitten stärkt aber die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, natürlich umso mehr, je mehr die Bitte auch erhört wird.          

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