„Io sono“ – „Ich bin“. Diesen Titel trägt ein Kunstwerk des italienischen Bildhauers Salvatore Garau. Das Werk wurde vor vier Jahren in Mailand versteigert, für einen Preis von 15 000 Euro. Das Besondere: Das Werk ist unsichtbar. Der Käufer erhielt nach dem Erwerb ein Zertifikat des Künstlers und eine Anweisung, wie das Werk auszustellen sei.[1] Was soll das sein: Ein schlechter Scherz? „Keineswegs“, sagt der Künstler. „Io sono“ ist wirklich ein Kunstwerk, aber eben eines das man nicht sehen könne. Die Erschaffung des Werkes habe ihn mehr Zeit gekostet als die Erstellung so mancher Skulptur. Es ist nicht nichts, sondern es ist etwas. Wer soll das glauben?
Ich habe im Herbst einen Roman gelesen, der ein ganz ähnliches Thema hatte. Er heißt „Die Flüchtigen“. Darin geht es um eine Gesellschaft der nahen Zukunft. Es ist eine Zeit der vollkommenen Überwachung. Kameras, Apps, Detektoren zeichnen unser Denken, Sprechen und Handeln auf. Durch einen Ring am Finger werden die persönlichen Daten weitergegeben, an Konzerne und Regierungen. Mitten in dieser Zukunft machen einige Menschen eine Entdeckung. Es gibt neben ihnen und unter ihnen Wesen, die man nicht sehen kann. Man nennt sie „Die Flüchtigen“.[2] Sie haben die Tarnung perfektioniert. Eine Spezialeinheit des Militärs versucht, diese Flüchtigen zu erforschen. Sie trainiert Spezialisten, die Wesen aufzuspüren und zu fangen. Mit einer ganzen Batterie an Spezialtechnik versuchen sie, ihnen auf die Spur zu kommen. In diese Einheit tritt ein Mann ein, Lorca. Er hat seine Tochter verloren. Er will nicht glauben, dass sie gestorben ist. Vielmehr nimmt er an, sie haben ihre Gestalt verändert und sei eine der unsichtbaren Flüchtigen geworden. Seine Frau Sahar und er haben sich über den Schmerz des Verlustes getrennt. Lorca versucht, Techniken zu erlernen, um in die Welt der Flüchtigen vorzudringen. Aber es gelingt zunächst nicht. Alle Versuche scheitern. Als er sich sein Scheitern eingesteht, unternimmt er mit seiner Frau eine Reise zu den Orten, an denen sie mit ihrer Tochter gewesen sind. Sie machen eine Wanderung durch die Berge. Hier haben sie damals zu dritt schöne Tage verbracht. Sahar und Lorca finden auf dieser Reise wieder zueinander. Sie entdecken ihre Liebe wieder. Und als sie sich so wieder nahekommen, ist auf einmal auch ihre Tochter da, unsichtbar, eine der Flüchtigen, verändert, aber doch ganz präsent. „Ich bin“, sagt sie. „Ich bin“ – für euch nicht sichtbar, aber dennoch da.
Ich bin der „Ich bin da“. Das ist im Alten Testament der Name Gottes. Was soll das sein? Ein Scherz, ein Gerücht? Wie soll man von Gott wissen, wenn man ihn nicht sehen kann. Der Gott Israels hat keine Gestalt. Er hat kein Bild. Die Menschen versuchen, mit ihm in Kontakt zu kommen. Er antwortet – aber wie? So, dass man immer bezweifeln kann, dass er antwortet.
Dann gehen zwei auf Wanderung. Davon erzählt das Lukasevangelium. Sie gehen zum Ursprungsort einer großen Verheißung zurück. Gott hat schon einmal in Betlehem gesprochen, damals, als er den Propheten Samuel zum alten Isai schickte, um einen König, einen Gesalbten, einen Messias zu suchen. David war der jüngste Sohn Isais, ein Hirtenjunge. Die Wurzel Isais schlägt wieder aus, so war die alte Weissagung. Der neue Messias, der Retter kommt. Josef war ein Nachkomme des David, einer, der geglaubt hat. Er glaubte an den verborgenen Gott. Und Maria hat von ihm gehört. Er wird unsichtbar an ihr wirken. Und an diesem Tag in Betlehem kommt alles zusammen. Die uralte Geschichte der Vergangenheit umarmt die Zukunft. Die Liebe trifft in zwei Dimensionen zusammen. Die irdische Liebe der glaubenden und liebenden Menschen und die vertikale Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Und in der Mitte ist ein Kind. Es ist sichtbar.
„Io sono“, „ich bin“. Das sagt Jesus gleich mehrfach. „Ich bin das Licht“ (Joh 8,12). „Ich bin der gute Hirt“ (Joh 10,14), „Ich bin das lebendige Brot“ (Joh 6, 22). Der Unsichtbare ist sichtbar. Und doch entzieht er sich wieder. Das Kind in der Krippe, das Bild Jesu – Erinnerungen an den sichtbaren Gott.
Wir sind unterwegs. Auf dem Weg zu den Orten, an denen wir Gott vermuten. Im Monet der Liebe macht er sich uns offenbar. 2ich bin es wirklich“ – glaubst du das?
[1] Kunst: Salvatore Garau und seine unsichtbare Skulptur – Gesellschaft – SZ.de
[2] Alain Damasio, Die Flüchtigen, Berlin 2021.
Frohe und gesegnete Weihnachten! Ich hoffe es geht Dir gut! Liebe Grüße MaresiM.- Th. Gräf
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Liebe Maresi,
Vielen Dank – herzliche Grüße zurück…
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das mit der unsichtbaren Kunst hat mich jetzt gerade ein wenig beschäftigt 🙂
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