Berg der Kreuze

Der Urlaub hat mich dieses Jahr einen sehr ungewöhnlichen Ort geführt, zum Nationalheiligtum Litauens. Bei diesem handelt es sich nicht um eine Wallfahrtskirche oder eine Kathedrale, sondern um einen kleinen, künstlich aufgeschütteten Hügel auf einem Feld. Dieser eigentlich unscheinbare Ort hat für die Litauer ihre nationale Geschichte bewahrt, die zugleich eine Geschichte des Glaubens ist.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Litauen dem russischen Zarenreich angegliedert. Es kam zu einem Aufstand gegen die neue Obrigkeit. In Gedenken an die Opfer des Aufstands wurden auf dem Hügel im Norden des Landes Kreuze für die Verstorbenen aufgestellt. Diesen Brauch behielt man bei. Als nach dem zweiten Weltkrieg zahlreiche Litauer in die sowjetischen Gulags deportiert wurden, stellte man für die dort Verstorbenen ebenfalls Kreuze auf. Aber auch für ihre persönlichen Anliegen und Nöte brachten Menschen ihr Kreuzt auf dem Hügel, so dass dort schnell einige Tausend Kreuze zu finden waren. Dieses sichtbare Zeichen des katholischen Glaubens, war den kommunistischen Machthabern ein Dorn im Auge. Im Juni 1959 beschloss man, den Berg zu räumen. Mit Bulldozern wurden die Kreuze niedergemäht und verbrannt. Doch über Nacht wurden neue Kreuze aufgestellt. Mehrere Räumungsaktionen folgten. Das Ergebnis war immer das gleiche: Die Menschen brachten ihre Kreuze weiter dorthin. So ist der Berg ein Zeichen des Glaubens und des Widerstandes inmitten einer diktatorischen Herrschaft geworden. Für die Machthaben war das Kreuz ein Ärgernis, nicht nur, weil sie den christlichen Glauben als überholt betrachteten. Sie hielten ja auch das Leiden für überholt. In der neuen Wirklichkeit des sozialistischen Menschen gab es ja kein Leid, weil der Kommunismus endlich den Frieden und die Gerechtigkeit für alle geschaffen hatte. Einen Ort, der an das Leid erinnert, sollte es nicht geben.

Bis heute bringen die Pilger und Besucher ihre Kreuze an diesen Ort, verbunden mit ihren persönlichen Anliegen. Sie stellen Kreuze für ihre Verstorbenen auf oder für ihre Kranken, als Gebetszeichen für den Frieden und gegen die Not in der Welt und in ihrem Umfeld. Wenn man durch die Reihen der aufgestellten Kreuze geht, sieht man Namen und Daten, die auf ihnen aufgeschrieben wurden. Man sieht auch die Namen derjenigen, die ihr Kreuz dorthin gebracht haben, als dauerndes Zeichen des Gebets und der Hoffnung.

Dass die Christen eine Gemeinschaft der Kreuzträger ist, sagt das heutige Evangelium. „Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14, 26). Dieses Wort ist auf der einen Seite eine Erinnerung an die christliche Hoffnung, dass Gott Sünde und Tod am Kreuz gebrochen hat. Es ist zugleich aber auch eine Warnung vor den falschen Versprechen derjenigen, die behaupten, das Leid aus der Welt zu schaffen, wenn man sie nur wählt. Wer eine problemlose Zukunft verspricht, lügt. Für ihn bleibt das Kreuz als Mahnmal des Leidens ein Ärgernis.

Bei seinem Besuch am Berg der Kreuze sagte Papst Johannes Paul II.: „Möge dieser Berg am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus ein Zeugnis bleiben und als Verkündigung des neuen Jahrtausends, des dritten Jahrtausends, der Erlösung und des Heils, das nirgendwo sonst nur im Kreuz und in der Auferstehung unseres Erlösers zu finden ist. Ich möchte allen sagen: Der Mensch ist schwach, wenn er ein Opfer ist, und vielleicht ist er noch schwächer, wenn er ein Unterdrücker ist. Der Mensch ist schwach, aber dieser schwache Mensch kann stark sein am Kreuz Christi, in seinem Tod und in seiner Auferstehung.“ Nach dem Besuch des Papstes wurde in unmittelbarer Nähe des Kreuzhügels ein Kloster der Franziskaner gebaut als Hoffnungszeichen für eine tätige, liebende und versöhnende Gemeinschaft mitten in einer manchmal sehr traurigen Welt.

„Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder wer begreift, was der Herr will?“ – so fragt es das Buch der Weisheit in der Lesung (Wsh 9,13). Ich selbst bin mit dieser Frage auch häufiger unterwegs. Wo ist der Sinn, in welche Richtung soll es gehen, was ist die Antwort Gottes auf meine Fragen. Das Kreuz drückt als Zeichen diese Unsicherheit aus. Es ist zugleich aber auch eine Antwort, eine Antwort, die Gott selbst gegeben hat. Im Kreuz liegt die Lösung. Es ist das Symbol eines Gottes, der dieses Leiden ernstnimmt und wandeln möchte, in Hoffnung und eine Zuversicht, die mir als Menschen neue Kraft geben möchte. In dieser Welt werde ich als Kreuzträger unterwegs sein.   

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