SESAM, öffne dich! – Das Erzbistum Hamburg sucht nach der Zukunft

Im Märchen von Ali Baba gelangt der titelgebende Held durch Zufall an den Eingang einer großen Höhle. Mit den Worten „Sesam, öffne dich!“ wird der Zugang zur Höhle freigegeben. Beim Eintreten bemerkt Ali Baba, dass ich im Inneren riesige Schätze häufen, die eine vierzigköpfige Räuberbande zusammengetragen hat. Die Höhle enthält also einen großen Reichtum. In der äußerst lustigen Semsamstraßen-Version des Märchens[1] berichtet Kermit der Frosch als Reporter live von der Höhle. Nachdem dem unglücklichen Ali Baba die Zauberworte zur Öffnung des Felsens nicht mehr einfallen, ist es Kermit, der durch einen dummen Zufall den Eingang freigibt. Als sich das Tor auftut, kommen die vierzig Räuber hinaus und rauben Kermit aus, der anschließend im Unterhemd seine Reportage beenden muss.

Das Erzbistum Hamburg hat sich für seine Vision der zukünftigen Bistumsstruktur das Stichwort „SESAM“ als Kurzfassung der Begriffe „Sendung und Sammlung“ gewählt. Am 24. Mai wurde die bisherige Planung einer breiteren Bistumsöffentlichkeit vorgestellt.[2] Es hieß also für die rund 250 Teilnehmer der Veranstaltung: „Sesam, öffne dich!“. Unklar war allerdings noch, ob hinter dieser Formel wohl große Reichtümer zu finden sein, oder die vierzig Räuber die letzten Habseligkeiten der Gemeinden entwenden würden.

SESAM hat einen Vorlauf. Der Prozess resultierte aus der besonders von den Pfarrern artikulierten Problemanzeige, dass die bisherige Struktur der ab 2010 geschaffen 28 Großpfarreien (Prozess „Pastorale Räume“) immer weniger tragfähig ist. Ein Indikator dafür war die abnehmende Zahl von ehrenamtlichen Gemeindemitgliedern, die sich bereit erklärten, in den derzeitigen Gremienstrukturen mitzuarbeiten. Die in den Gemeinden Engagierten werden weniger und älter. Noch größere Zukunftsängste löste allerdings die rapide sinkende Zahl von Priestern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Seelsorge aus. Bei aktuell weniger als 15 Diözesanpriestern unter 50 Jahren und abnehmendem Nachwuchs bei Gemeinde- und Pastoralreferentinnen kann eine aus dem Stellenplan resultierende Besetzung der freien Stellen in den Pfarreien nicht mehr auf Dauer gewährleistet werden. Hinzu kamen Probleme der Pfarrverwaltung und der finanziellen Ausstattung. Der vorherrschende Eindruck in den Sitzungen der Bistumsgremien war, dass das laufende Pfarreisystem in den kommenden Jahren an ein Ende kommen wird, zumal auch die Versuche alternativer Leitungsmodelle an einigen Orten die grundsätzlichen Probleme nicht beheben können.[3] Es schien also Zeit für etwas Neues zu sein.

Für eine Veränderung kamen zwei Grundvarianten ins Spiel: Entweder das bisherige System wird mit abnehmenden Kräften weiter erhalten und das verbliebene Personal wie bislang auf die Fläche verteilt, in der Hoffnung, dass sich im Laufe der Zeit schon neue Ansätze und Aufbrüche ergeben werden. Die zweite Option: Man konzentriert sich auf einige Standorte, baut sie zu Oberzentren aus und garantiert zumindest dort ein ansprechendendes kirchliches Angebot. Dies bedeutet in der Konsequenz, die seelsorgliche Präsenz in der weiten Fläche langsam auslaufen zu lassen und damit auch das bisherige Gemeindemodell (das in der heutigen Gestalt vor allem durch die Gemeindetheologie der Nachkonzilszeit geprägt wurde) aufzugeben oder zumindest zu modulieren.

Erzbischof Stefan Heße und die von ihm beauftragten Projektverantwortlichen haben sich für diese zweite Option entschieden. Wie beim SESAM-Tag im Mai vorgestellt, sollen lediglich fünf Orte als sogenannte „Basisstationen“ ausgebaut werden, als Zentren, an denen sich die kirchliche Aktivität konzentriert. Gleichzeitig sollen die Pfarreien bestehen bleiben, so dass eine längere Zeit des Übergangs möglich ist und Strukturen nicht gleich aufwendig verändert werden müssen. Die Basisstationen sind so etwas wie die „letzten Bastionen“ kirchlicher Präsenz, wenn der aktuelle Schrumpfungsprozess weiter geht. Dieser Ansatz ist so mutig wie umstritten. Es entstehen bei fünf „Basisstationen“ riesige formale Zuständigkeitsgebiete. Die Station „Kiel“ soll etwa für den gesamten Norden und Westen Schleswig-Holsteins zuständig sein. Die Basisstation „Hamburg“ umfasst die Stadt Hamburg und ihr Umland, ein Gebiet, in dem die Hälfte der Katholiken des Erzbistums wohnen. Dazu kommen die Stationen „Rostock“ für den Osten und „Schwerin“ für den Westen Mecklenburgs, sowie „Lübeck“ für den Osten Schleswig-Holsteins.

Die Frage „Schatz oder Räuber?“ aus dem Ali Baba-Märchen lässt sich mit Blick auf SESAM noch nicht klar beantworten. Der erste Blick geht sicher zunächst in die Fläche und die Pfarreien insgesamt, deren Wirksamkeit und Ausstattung beschnitten wird. Im Kern läuft das Modell unter den jetzigen Gegebenheiten auf ein Ende des gewohnten Gemeindewesens hinaus – oder eben auch nicht. Dies hängt nun an den weiteren Fragen der Ausgestaltung. Hier ist das bisherige Konzept noch unentschlossen. Es spiegelt derzeit noch ein entschiedenes „Sowohl, als auch“. Einerseits konzentriert sich die pastorale Wirksamkeit zunehmend auf die fünf genannten Zentren, andererseits möchte man die Idee der Pfarreien und Gemeinden nicht aufgeben. Vielleicht ist dies zum derzeitigen Zeitpunkt auch klug, um Luft für reale Entwicklungen zu lassen. Andererseits wird diese Unentschlossenheit noch eine Menge an Enttäuschungen kosten und den Prozess hemmen.

Weite Räume – Die Bistumskarte nach SESAM

Im Kern geht es doch um Folgendes: Wie kann die Katholischen Kirche ihre Aufgabe und Sendung unter den schwierigen Bedingungen der jetzigen und zukünftigen Zeit möglichst wirksam erfüllen? Die bisherige Antwort lautete: Durch eine Professionalisierung des Personals, verbesserte Strukturen und vor allem intensivierte ehrenamtliche Mitarbeit bis hin in die Leitung der Pfarreien. Wie der Pastoraltheologe Jan Loffeld in seinem Vortrag beim SESAM-Tag im Mai ausführte, bringt die liebgewonnene Gemeindestruktur nachkonziliarer Prägung einen großen Nachteil mit sich: Sie setzte auf die Stärkung der „Sammlung“ als kirchlichem Grundvollzug. Die Idee, dass sich in einer gefestigten und „aktiven“ Gemeinde die Ausstrahlungskraft für nicht aktive Katholiken oder gar Fernstehende von allein entwickelt, hat sich in der Wirklichkeit nicht auf Dauer bewährt.[4] Zunehmend hat sich die Kirche in ihrer bisherigen Struktur verkernt und nach innen orientiert. Der Prozess „Pastorale Räume“ hatte versucht, diese Dynamik ein wenig aufzubrechen. Zumindest war es gelungen, die anderen kirchlichen „Player“ wie die Caritas oder Bildungseinrichtungen stärker in ein pastorales Netzwerk zu integrieren. Das war ein nicht selbstverständlicher Schritt. Allerdings haben unter den veränderten Bedingungen die Anforderungen an die Koordination und Verwaltung der Großpfarreien zugenommen. Wie viel Zeit und wie viel Energie bleibt tatsächlich für den Sendungsauftrag, die „Mission“ übrig? Diese Frage ist nicht banal. Ein Freund aus einem anderen Bistum, das derzeit mit der Bildung von Großpfarreien beschäftigt ist, berichtete mir, dass er nach dem neuen Konzept als Pfarrer im Wesentlichen für Organisationsfragen bereitstehen und wichtige seelsorgliche Aufgaben, wie Beerdigungen oder Taufen künftig nicht mehr selbst übernehmen soll. In einem solchen Zusammenhang wird der Pfarrer immer mehr zum „Chef“ und „Funktionär“, Rollen, vor denen Papst Franziskus die Priester immer und immer wieder gewarnt hat.

Ähnliches kann auch bei SESAM geschehen, wenn dieser Prozess in den nächsten Monaten vor allem unter dem Stichwort der „Struktur“ und „Verwaltung“ ausbuchstabiert wird. Es ist ein typischer Zug gerade der Kirche in Deutschland, diese Fragen gerne vorrangig zu behandeln. Ein wenig zugespitzt könnte man von einer „ekklesiologischen Häresie“ sprechen, die auf den „Apparat“ mehr Vertrauen setzt als auf den Heiligen Geist. Daher gestatte ich mir, einige Ideen zu SESAM zu entwickeln, die von dem Auftrag der Mission oder „Evangelisierung“ als derzeitig angesagte Hauptaufgabe der Kirche ausgehen.

Dieser Akzent passt aus meiner Sicht in die Zeit. Schließlich war die Evangelisierung das pastorale Hauptanliegen der beiden letzten Päpste. Dieses Stichwort wurde in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gerne mit dem Begriff „niedrigschwellig“ verbunden. Die Idee war, durch einfache und unverbindliche Angebote die Zugänge zum kirchlichen Leben zu vereinfachen, meist in der Hoffnung, so „attraktiv“ für nicht-praktizierende Christen oder Nicht-Christen zu werden. Die Folge war allerdings auch, dass die Niedrigschwelligkeit einen neuen Standard der Pastoral setzte, also die katholische Substanz zunehmend verringert wurde, weil man sich nicht traute, die Kernbereiche des Glaubens in Katechese und Verkündigung akzentuiert und anspruchsvoll zu adressieren.

Die derzeitige Entwicklung zeigt allerdings eine andere Tendenz. Die Kirche wächst dort, wo sie genau dies nicht tut, sondern wieder anspruchsvoller wird. Diese Richtung deutet sich zumindest an. Zuletzt meldeten verschiedene europäische Länder, unter anderem Frankreich, Großbritannien oder die skandinavischen Länder Zuwächse der katholischen Kirche. Dies hat zum einen mit Migration zu tun, zum anderen aber auch mit einer wieder gestiegenen Partizipation junger Leute.[5] Die Träger der ALPHA-Glaubenskurse[6] meldeten in Großbritannien eine Steigerung bei jungen Leuten um fast unglaubliche 60% bei jetzt weltweit 250 000 Jugendlichen, die einen Alpha-Kurs besucht haben. Das deutschsprachige Loretto-Festival rechnet in diesem Jahr mit 12 000 jungen Teilnehmern.[7] Auch der Zustrom zu den Weltjugendtagen bleibt ungebrochen. 2023 nahmen daran in Lissabon 1,5 Millionen junge Katholiken aus der ganzen Welt teil. Dies sind nur Stichproben. Insgesamt muss man mit den Zahlen vorsichtig sein, weil z.B. Frankreich oder Großbritannien mangels Kirchensteuersystem keine Austrittszahlen erfassen. Aber ganz unbedeutend sind diese Entwicklungen nicht. Sie deuten an, dass die katholische Kirche durchaus Zukunft hat, auch wenn sie eine gesellschaftsprägende Kraft wie vor 40 bis 50 Jahren sicher nicht wieder erlangen wird. Allerdings findet das Wachstum jenseits der etablierten Gemeindestrukturen statt. Es füllen sich nicht die Gemeinden, sondern es bilden sich neue Gemeinschaften. Zulauf hat zudem nicht das niedrigschwellige, sondern das explizite und anspruchsvolle Christentum.[8] Dies deckt sich ein wenig mit dem Trend beim Priesternachwuchs, der europaweit weniger in den Diözesen als in Gemeinschaften und Orden zu finden ist.[9]

Noch wissen wir nicht, ob wir es hier mit einem dauerhaften Trend zu tun haben oder mit einem vorübergehenden Phänomen. Es wäre aus meiner Sicht mit Blick auf Kirchenentwicklungen wie SESAM richtig, diese Entwicklungen zu beachten. Konkret kann ich mir mit Blick auf die Entwicklung im Erzbistum Hamburg das Folgende vorstellen: Wir sollten uns auf zwei Bereiche konzentrieren, für die wir die hauptamtlichen personellen Ressourcen nutzen wollen.

Der erste Bereich betrifft die Sicherung kirchlicher Grunddienste. Dies bedeutet: Die Teilnahme an einer Heiligen Messe in zumutbarer Entfernung sollte solange es geht sichergestellt werden. Dazu kommen die Dienste der unmittelbaren Seelsorge, etwa des seelsorglichen Krisengesprächs (z.B. auch die Krankenhausseelsorge), der Krankensalbung und Beerdigung. Taufen und Trauungen können terminlich und örtlich koordiniert werden. Kindern und Jugendlichen sollte der Zugang zur Katechese etwa in Vorbereitung auf die Sakramente auch weiter möglich sein, ggf. zukünftig verstärkt auch digital gestützt oder in kompakten Formaten. Alle diese Dinge können auch unter Mitwirkung engagierter Ehrenamtlicher gedacht werden. Sie bleiben Kernbereich einer „flächendeckenden“ Seelsorge. Alles, was darüber hinaus geht und zur Zeit unter dem Titel „Gemeindeleben“ summiert werden kann, wird zunehmend in die Zuständigkeit von Gemeinden oder Pfarreien und damit je nach Kapazitäten und Möglichkeiten in die Hände der ehrenamtlich Engagierten gelegt. Dazu gehört auch die vorgeschriebene Mitwirkung an der laufenden Verwaltung der Pfarrei, die solange dies finanziell möglich ist, von hauptamtlichen Verwaltungskräften unterstützt wird. Dabei wird eine gründliche Entbürokratisierung nötig sein.

Der zweite Bereich betrifft die Aufgaben an den „Basisstationen“. Sie können als „Missionsstationen“ verstanden werden oder auch als „Geistliche Zentren“. Die zentralen Aufgaben der Basisstationen können in diesem Sinne sein: Die verlässliche Feier ansprechender Liturgien. Der Sonntag in einer zentralen Kirche könnte das feierliche Hochamt, einen Kindergottesdienst, einen nichteucharistischen Gottesdienst (z.B. Evensong, Worship-Gottesdienst) und ein lateinisches Amt umfassen. Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Kirchenmusik zu. Daneben gibt es ein ausgeweitetes Angebot an Glaubenskursen für unterschiedliche Altersstufen (z.B. auch als Teil der Firmvorbereitung), Kurse zur Vorbereitung auf Ehe und Taufe, unterschiedliche Gebets- und Liturgieformate. Daneben werden geistliche Tage, Exerzitien, Wallfahrten und Reisen organisiert, die zur geistlichen Vertiefung und zur Gemeinschaftsbildung beitragen können. Verschieden Formate können mit der Zeit (auch mit ehrenamtlicher Mitwirkung) auf andere Gemeindeorte im „weiten Raum“ verlagert werden. Ziel muss es sein: Suchenden die Möglichkeit zum spirituellen Andocken zu bieten und neue christliche Gemeinschaften zu schaffen.

Die beiden beschriebenen Bereich bezeichnen die sakramentale und die charismatische Struktur der Kirche. Zu integrieren ist dann noch (gemeinsam mit anderen kirchlichen Trägern und in ökumenischer Verbundenheit) eine diakonale Ebene, die aus der christlichen Motivation der Menschen vor Ort entstehen kann oder verstärkt wird.

Der mit SESAM angestoßene Weg der Kirchenentwicklung hat das Potential zu einem neuen Aufbruch, der tatsächlich Veränderungen bringen wird. Die Frage ist, ob es den Mut geben wird, einen solchen erneuernden Weg zu beschreiten. Es bleibt bei Ali Baba: Das Risiko besteht, am Ende reich beschenkt oder nackt dazustehen. Ich meine, man sollte dieses Risiko trotzdem eingehen.   

Beitragsbild: Bistumstag SESAM am 24. Mai 2025, Eröffnung in der Heilig Geist-Kirche in Hamburg-Farmsen        


[1] Sesame Street News Flash: Ali Baba and the 40 Thieves

[2] Zum Bistumstag: Erzbistum Hamburg – Das war das Forum SeSam – Katholisch im Norden

[3] Ausführlicher hierzu: Die kirchliche Statistik für 2024: Was lässt sich prognostizieren? – Sensus fidei

[4] Ich habe diesen Prozess einmal mit Blick auf meine eigene Heimatgemeinde reflektiert: 50 Jahre Heimatgemeinde – Sensus fidei

[5] S. z.B.: Frankreichs Kirche verzeichnet neuen Rekord bei Erwachsenentaufen – katholisch.de

[6] Alpha International announces its most successful year ever, reaching millions across the globe – Christian Today

[7] Über 12.000 junge Menschen bei Loretto-Pfingstfest. Damit hat diese weithin unbekannte Glaubensevent schon halb so viele Teilnehmer wie der Deutsche Katholikentag (2022 in Stuttgart 27 000 Teilnehmer, davon 19 000 Dauerteilehmer)

[8] Einen Überblick über die aktuelle Entwicklung gibt etwa die Theologin Maria Widl: Die Kirche der Zukunft gibt es bereits – pastoraltheologische Reflexionen zur Kirchenentwicklung | futur2 | Magazin

[9] Priesternachwuchs – Wie sich der Klerus aktuell verändert – Sensus fidei

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