Wenn ich an England denke, denke ich als erstes an „Brexit“, „Baked Beans“ und Nieselregen. Und dann denke ich an Musik. Mehr als einmal habe ich die anglikanische Kirche für ihre großartigen Hymnen bewundert. Die Königin dieser Hymnen ist dabei ein Stück, dass mit den Worten „And did those feet in ancient time“ beginnt. Ich vermute, Sie kennen es auch. Es wird bei allen großen Anlässen gespielt und gilt als inoffizielle Nationalhymne. (Sie können es hier hören).
Der Text stammt von William Blake. Blake war eine ziemlich interessante Persönlichkeit. Er wurde 1757 in London geboren. Schon als Kind soll er „das zweite Gesicht“ gehabt haben, also eine Fähigkeit zu Visionen und zum Erkennen von Erscheinungen. Für ihn war die Welt nie profan, sondern immer ein Ort voller göttlicher Präsenz, der von Engeln, aber auch Dämonen bevölkert war. Von Beginn seines künstlerischen Schaffens als Dichter und Maler an wandte er sich gegen den Rationalismus seiner Zeit, aber auch gegen die offizielle Verkündigung der Kirche, die aus seiner Sicht einen zu fernen, unnahbaren und unbarmherzigen Gott predigte. Für Blake war die Welt ein Gnadenort, voller geistlicher Entdeckungen und Geheimnisse.
Blake war das, was wir christlich einen Esoteriker nennen, weltlich einen Sonderling. Zu seinem Gedicht ließ er sich von einer Legende inspirieren, an die er fest glaubte. Es hieß, dass Jesus in seiner Kindheit zusammen mit Joseph von Arimathäa England besucht habe und im Ort Glastenbury gewesen sei. In der ersten Strophe seines Gedichts[1] fragt Blake sich, was das bedeutet, dass in alter Zeit die Füße Jesu den Boden Englands berührt haben und das Gotteslamm zwischen den grünen Hügeln gewandelt ist. Ist dann dieses Land nicht ein Heiliges Land. Wurde dann Jerusalem, die ewige Stadt (ideell gedacht), nicht hier gebaut? Ist hier ein Ort der Erlösung?
Die zweite Strophe des Liedes bemüht sich dann um eine praktische Ableitung aus dieser Einsicht: Wenn es so ist, sind wir dann nicht zu einem geistlichen Kampf gegen den Ungeist unserer Zeit aufgerufen? Blake schreibt:
Ich werde weder vom geistigen Kampf lassen / noch soll das Schwert in meiner Hand ruhen, / bis wir Jerusalem errichtet haben /auf Englands grünem und lieblichem Grund.
Der Text erscheint uns heute merkwürdig. Blake orientierte sich aber eng an der biblischen Botschaft. Das himmlische Jerusalem, von dem die Offenbarung des Johannes spricht, wird ja als Ort der Erlösung verstanden, als Ort des Friedens und der Gottunmittelbarkeit. Die ewige Stadt kommt von Gott her aus dem Himmel, nachdem der Teufel und das Böse in einem kosmischen Kampf besiegt worden sind. William Blake hatte diese Gottunmittelbarkeit in seinem Leben stets schon empfunden. Das zukünftige Jerusalem war schon präsent, wenn auch noch nicht vollendet. In einem entscheidenden Punkt allerdings weicht Blake in seinem Text von der Bibel ab: Es sind nach biblischem Zeugnis nicht die Menschen, die diese Stadt errichten, ihre Entstehung kann nicht von uns herbeigeführt werden.
Der Epheserbrief erklärt es so: Wir Menschen sind in einem Zwischenzustand. Christus hat durch Kreuz und Auferstehung den Grundstein zum neuen Leben in seiner Gemeinschaft gelegt. Es heißt dann:
„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde und ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes. Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Eckstein ist Christus Jesus selbst. In ihm wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn. Durch ihn werdet auch ihr zu einer Wohnung Gottes im Geist miterbaut“ (Eph 2,19-22).
In Christus sind wir bereits Bürger der himmlischen Jerusalems, einer Gemeinschaft, die langsam wächst. Als Bürger Jerusalems unterstehen wir gewissermaßen auch schon der dortigen Ordnung und sollen nach ihr handeln.
William Blake dachte an einen geistlichen Kampf zur Befreiung des Geistes aus den Verstrickungen der Welt. Sein Text wurde aber auch schnell anders gedeutet. War seine Hymne nicht ein Lobpreis Englands? Schließlich wird doch dieses Land als durch die göttliche Präsenz geheiligt dargestellt, gewissermaßen als „God’s own country“. Das Gedicht wurde schnell nationalistisch vereinnahmt. Aus einem geistlichen Kampf wird dann ein Kampf um die kulturelle und wirtschaftliche Vorherrschaft Englands. Später wurde das Lied sogar sozialistisch gedeutet, als eine Aufforderung zum Klassenkampf. Wenn das Kapital einmal besiegt ist, dann ist das himmlische Jerusalem da!
Leider hat das Sprechen von der endzeitlichen Hoffnung auf Gott in der Geschichte häufig diese Wendung genommen. Aber es sind nicht wir, die den Zustand des himmlischen Jerusalems herbeiführen. Wir sind zwar schon Bürger dieser Stadt und ihr gewissermaßen schon verpflichtet. Aber welche Verpflichtung ist das? Was ist denn dieses himmlische Jerusalem nach dem Zeugnis der Offenbarung. Was geschieht da? Der Text sagt:
„Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21, 3-5).
Jerusalem ist der Ort, an dem das Leiden überwunden wird und die Tränen abgewischt werden, an dem der Tod keine Bedrohung mehr ist, an dem die Mühen und Lasten von uns genommen werden, damit wieder alles neu werden kann. Wenn man so will, ist Jerusalem ein Krankenhaus, eine Heilanstalt, ein Hospiz, eine geistliche Oase, ein Therapiezentrum. Alles soll wieder neu werden. Das Leben wird wieder in seinen Zustand der Verheißung und Unbeschwertheit zurückversetzt. Als Bewohner Jerusalems sind die Christen beauftragt, an diesem Werk mitzuwirken, bis es einmal vollendet ist: Heilen, trösten, lieben, glauben, hoffen, aufbauen, stärken, motivieren, Orientierung geben.
In alter Zeit haben die Füße Jesu unsere Erde berührt – so das Bild am Anfang von Blakes Gedicht. Die Erde ist so ein heiliger Ort, der zur Erlösung strebt, die er allerdings auch so dringend nötig hat. Das neue Jerusalem ist noch nicht da, aber ein Teil seiner Bevölkerung schon. Wäre doch unglaublich wünschenswert, wenn dies unter uns sichtbar würde.
Beitragsbild: Blick auf Jerusalem
[1] Der Text mit Übersetzung: https://de.wikipedia.org/wiki/And_did_those_feet_in_ancient_time