Derzeit macht in kirchlichen Kreisen das Stichwort „Geistlicher Missbrauch“ die Runde. Der Begriff ist relativ neu und entstand in der Folge der Debatte um den „sexuellen Missbrauch“, also sexualisierte Gewalt in den Reihen der Kirche. Es wurde hier bereits deutlich, dass „Missbrauch“, also der Eingriff in die Autonomie eines Menschen nicht auf tätliche Handlungen begrenzt ist. Die zahlreichen Studien der vergangenen Jahre haben immer wieder deutlich gezeigt, dass Übergriffigkeit in den meisten Fällen aus Abhängigkeitsverhältnissen entsteht. Zum Täterverhalten gehörte häufig, zu den späteren „Opfern“ ein persönliches Verhältnis aufzubauen. Daher gilt in der Präventionsarbeit das Bestehen von persönlichen Abhängigkeiten, die auf exklusiven Vertrauensverhältnissen oder auf bestimmten Privilegien und Geschenken beruhen als Prüffall. Betroffene hatten davon berichtet, wie eng der Kontakt zu den späteren Tätern häufig gewesen ist. Dabei verschleierte das scheinbar so vertraute Verhältnis nicht selten die bestehende Asymmetrie, etwa zwischen Erwachsenen und Kindern, dem Pfarrer und dem Jugendleiter, den Seelsorgern und schutz- und nähebedürftigen Personen. Der „Missbrauch“ im Sinne einer tätlichen Übergriffigkeit hatte sich auf diese Weise nicht selten über längere Zeit angebahnt.
Der „Geistliche Missbrauch“ rückte insbesondere durch den Fall der Theologin Doris Reisinger in das Licht der Öffentlichkeit. Reisinger war Mitglied einer geistlichen Gemeinschaft gewesen und beschrieb ihre Zeit dort als eine Zeit der Unfreiheit. Sie berichtete von Praktiken einer geistlichen Führung durch Vorsteher, die darauf angelegt waren, den freien Willen der Mitglieder zu brechen und sie auf eine bestimmte Gebets- und Lebenspraxis zu verpflichten. Der Fall zeigte zugleich, wie schwierig es ist, „Geistlichen Missbrauch“ zu definieren. Es gehört zum Profil von Ordensgemeinschaften oder Geistlichen Gemeinschaften, eine bestimmte Form der christlichen Nachfolge zu pflegen. Menschen, die auf der Suche nach einer solchen Gemeinschaft sind, wissen das und prüfen, inwiefern das besondere Profil der Gemeinschaft ihnen entspricht. Dazu gehören auch der Gehorsam gegenüber den Oberen und die Einordnung in die Gemeinschaft. Zum „Missbrauch“ kann es offensichtlich kommen, wenn Einsprüche und Widerstände von Einzelnen nicht ernstgenommen und bearbeitet werden, wenn es keine Möglichkeit zur Beschwerde über das Handeln von Oberen gibt, wenn bestimmte Vorgaben gemacht werden, die die persönliche Freiheit der Einzelnen bewusst unterlaufen oder gar brechen, oder Mitglieder den Eindruck haben, einer „Gehirnwäsche“ unterzogen zu werden.
Solche Praktiken sind aus Sekten bekannt. Ich erinnere mich an Dokumentationen über verschiedene religiöse Gruppierungen. Die ehemaligen Mitglieder berichten immer ähnliches: 1. Es gibt eine geistliche Führungsfigur, deren Willen unbedingt gilt und zu beachten ist. 2. Dem Einzelnen wird eine klare Rolle in der Gemeinschaft zugewiesen. 3. Abweichungen von der Doktrin oder dem vorgegebenen Lebensstil werden bestraft. 4. Es gibt eine innergemeinschaftliche Zensur und Überwachung. 5. Die Gruppe lebt in der Gewissheit, den einzig wahren Weg zur Erlösung oder zum Heil zu besitzen, weswegen ein Ausscheiden zugleich auch mit dem Verlust des Seelenheils verbunden ist. 6. Es gibt eine klare Abgrenzung zur „Welt“, die als lasterhaft und verdorben wahrgenommen wird. 7. Innerhalb der Gemeinschaft gibt es nicht selten geheime Offenbarungen oder Lehren, die nicht nach außen weitergeben werden dürfen.
Die Grenzen zwischen Sekten und bestimmten Ausprägungen religiöser Gemeinschaften innerhalb der etablierten Religionen sind manchmal gar nicht so breit, wie man gemeinhin denkt. Auch innerhalb der katholischen Kirche, die eigentlich durch die stete Aufsicht der kirchlichen Obrigkeit immer eine Kontroll- und Beschwerdeinstanz hat, gibt es zuweilen bedenkliche Tendenzen. Ich kann hier aus meiner eigenen Erfahrung berichten. Einige Beispiele: Vor einigen Jahren begegnete mir ein junger Mann, der sich einer (mittlerweile aufgelösten) Gemeinschaft angeschlossen hatte. Er erzählte mir, dass er jeden Tag einem Oberen Rechenschaft über seinen Tag geben musste. Ein Mitstudent aus unserem Priesterseminar berichtete mir von einem geistlichen Begleiter, der sehr direktiv war und ihm konkrete Vorschriften für das Geistliche Leben machte. Ich kenne Pfarreien, in denen der Pfarrer eine so bestimmende Rolle einnahm, dass er einige ihm besonders verbundene Gemeindemitglieder von sich regelrecht abhängig machte, weil er vermittelte, dass nur bei ihm der wahre Weg innerhalb der Kirche zu finden sei (dies kann es sowohl bei konservativ-charismatischen, als auch bei liberalen Pfarrern geben). Ein Priester aus einer geistlichen Gemeinschaft berichtete mir davon, dass ihm die Lektüre bestimmter Bücher verboten worden sei. In solchen Zusammenhängen können geistliche Abhängigkeiten oder Bevormundungen entstehen, die zu einem „Geistlichen Missbrauch“ führen können. Pater Klaus Mertens hat einmal mit prägnanter Kürze gesagt, dass ein Geistlicher Missbrauch dort vorliegt, wo die Stimme der geistlichen Autorität mit der Stimme Gottes verwechselt wird.[1]
Die Frage bei solchen Tendenzen ist, ob es sich um Vorstufen oder gar direkten „Geistlichen Missbrauch“ handelt. Zudem ist zu unterscheiden: Handelt es sich um eine „persönliche“ übergriffige Handlung oder ist der evt. Missbrauch als „strukturell“ einzustufen? Solange die Gehorsams- oder Abhängigkeitsverhältnisse von Seiten der „Mitglieder“ bewusst und freiwillig mitgetragen werden, lässt sich eine solche Unterscheidung oft nur schwer treffen. Das wichtigste Kriterium ist, ob die persönliche Gewissensfreiheit gewährleistet ist (vgl. „Gaudium et Spes“ 16f.). Nicht jede mir unangenehme Predigt ist ein Geistlicher Missbrauch, solange ich die Möglichkeit habe, andere Predigten zu hören und mir ein eigenes Bild zu machen. Schwierig wird es dann, wenn der Prediger behauptet, dass er allein den Schlüssel zur Wahrheit besitzt. Gibt es die Möglichkeit, ohne Druck aus einer Gemeinschaft auszuscheiden? Kann ich mir meine Bezugspersonen frei wählen, habe ich die Freiheit, zu lesen und zu beten, was ich möchte?
Die Deutsche Bischofskonferenz hat im letzten Jahr eine Arbeitshilfe erstellt, um in dieser Richtung den „Geistlichen Missbrauch“ zu definieren. Sie stellt dezidierte Unterscheidungskriterien auf und definiert zudem Aufsichts- und Beschwerdewege für Menschen, die den Eindruck haben, Geistlichen Missbrauch erfahren zu haben.[2]
Die Definition ist notwendig. Denn der Begriff „Geistlicher Missbrauch“ ist so hilfreich wie er problematisch ist. Neben der Tatsache, dass allein das Wort „Missbrauch“ im öffentlichen Gebrauch immer mit „Sexuellem Missbrauch“ verbunden wird, gibt es eine schwierige Entwicklung. Der „Geistliche Missbrauch“ kann sehr weit verstanden werden. Der ihr zugrunde gelegte Freiheitsbegriff ist im Geiste der Zeit sehr individualistisch verstanden. Demzufolge kann ich persönlich bereits anstößige Äußerungen von kirchlichen Vertretern als „Missbrauch“ empfinden, weil sie meine Lebenseinstellungen und Überzeugungen in Frage stellen. Hier aber liegt ja genau das kritische Potential des Evangeliums und des Katechismus. Die christliche Verkündigung kann aus ihrem Wesen heraus nicht für alle angenehm und bestätigend sein. Sie enthält klare Vorstellungen über den Glauben und die Moral, die in der Gesellschaft häufig nicht konsensfähig sind. Allein ihr Bestehen ist allerdings kein Missbrauch, sondern Teil eines dialogischen Geschehens, das den einzelnen herausfordert. Des Weiteren gibt es schon jetzt in den Personalreferaten der Bistümer Beschwerden über Vorgesetzte, die im Rahmen ihrer Dienstaufsicht aus Sicht der Beschwerdeführer nicht richtig gehandelt haben. Ist der Vorgesetzte ein Priester, wird dabei gerne auf den „Geistlichen Missbrauch“ verwiesen, auch wenn Dienstverhältnis und Geistliche Autorität zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. Geistlicher Missbrauch ist etwas anderes als etwa Mobbing und muss auch anders behandelt werden.
Der Begriff „Geistlicher Missbrauch“ ist ein scharfes Schwert. So sinnvoll es ist, das Phänomen klar zu beschreiben und dagegen vorzugehen, so schwierig ist die Abgrenzung von missbräuchlichem Verhalten und kirchlicher Autorität insgesamt. Die Diskussion des Begriffes steht immer noch am Anfang. Es ist zu hoffen, dass sich im Interesse der Betroffenen vom „Missbrauch geistlicher Autorität“ bald ein differenziertes Verständnis herausbildet. Damit wäre der an sich guten Sache gedient.
[1] Deutsche Bischofskonferenz, In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche, Bonn 2022, 44.
[2] Die Arbeitshilfe ist hier abrufbar: Missbrauch geistlicher Autorität. Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch (dbk-shop.de)