Wenn ich in meinen Kindheitserinnerungen nach dem Advent suche, sehe ich vor meinen Augen einen kleinen gefalteten Christbaumschmuck aus Goldpapier. Er stammte aus einem Adventskalender, der damals in unserem Kindergarten aufgehängt wurde. Jeden Tag durfte ein anderes Kind ein Säckchen öffnen. Als ich an der Reihe war, bekam ich die kleine goldene Bastelei. Offenbar hat sich dieser Moment eingeprägt. Warum, kann ich eigentlich nicht sagen. Die Erinnerung ist zuweilen wie ein Karton, der unbeachtet auf dem Dachboden steht und beim Öffnen wahllos zusammengestellte Gegenstände preisgibt. Ich erinnere mich an das Treppenhaus der Grundschule, in dem ein großer Adventskranz aufgehängt war. Zu Beginn jeder Adventswoche versammelte sich dort die Schule. Die Kerzen wurden angezündet und wir sangen Lieder, „Wir sagen euch an den lieben Advent“ und „Es ist für uns eine Zeit angekommen“, ein Lied, das ich damals wohl wegen seiner schwungvollen Melodie gern hatte. Auch zu Hause zündeten wir am Sonntagmorgen die Kerzen des Adventskranzes an und sangen dazu. Ich erinnere mich an meine erste Krippenspielprobe in unserer Gemeinde, an das Keksebacken oder an die Lichterkette, die bei uns im Garten aufgehängt wurde. Mehr als die meisten anderen Zeiten des Jahres weckt der Advent das Aufsteigen solcher Bilder, Gerüche und Empfindungen aus der Vergangenheit. Ich vermute einmal, dass es nicht nur mir so geht.
Es geht mir hier nicht um das Heraufbeschwören adventlicher Besinnlichkeit, wie es in den Adventskalendertexten schon zur Genüge geschieht. Es geht mir um den Vorgang des Erinnerns. Augustinus hat diesen Vorgang einmal sehr poetisch beschrieben. Er sagte, beim Erinnern „gelange ich in die Gefilde der weiten Hallen meines Gedächtnisses, wo die Schätze ungezählter Bilder sich häufen, die mir die Sinne von vielfältigen Dingen zusammentrugen. Dort lagert auch alles, was wir denken, wobei das vom Empfinden Berührte entweder vergrößert oder verkleinert oder sonstwie verändert wird, auch alles sonst Geborgene und Verwahrte, das vom Vergessen noch nicht aufgezehrt und begraben ist.“[1]
Schon lange vor der modernen Psychologie beobachtet Augustinus das merkwürdige Wesen unseres Gedächtnisses. Es mag uns als eine Art Festplatte erscheinen, auf dem das abgelegte zuverlässig bewahrt wird. Aber so ist es nicht. Das Gedächtnis sortiert, verformt, arrangiert die Zeit neu. Die erinnerte Vergangenheit ist in einem historischen Sinn unzuverlässig. Wir können nur hoffen, dass das Wichtige bewahrt wird. Das Vergessen „zehrt auf und begräbt“, wie Augustinus es sagt. Das Spiel mit dem Bewahren und Vergessen hat etwa schriftstellerisch zwei Extreme gefunden. Auf der einen Seite steht Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, die versucht, die weiten Hallen des Gedächtnisses mit höchster Aufmerksamkeit zu durchschreiten und möglichst genau die untergegangen Welt in ihrem Personal, Geschehnissen und Empfindungen bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren. Auf der anderen Seite steht W.G. Sebald, der in seinen Romanen auf Archivmaterial zurückzugreift, um eine historisch nie dagewesene Geschichte zu erzählen. Dies tut er mit seinen angeblich authentischen Fotografien so überzeugend, dass die erfundene Geschichte dem Leser echt vorkommt. Erstaunt muss er sich während der Lektüre daran erinnern, dass hier tatsächlich alles Roman, Fiktion ist.
Die wichtigste Technik, das Vergessen zu vermeiden, ist die Wiederholung und Ritualisierung. Jan Assmann hat in seiner These zum „kulturellen Gedächtnis“ die Methoden des institutionalisierten Erinnerns erforscht, durch Rituale, Bauwerke und Schriftgut. Erst ein solchermaßen etabliertes Gedächtnis bietet die Chance, das Vergangene über Generationen zu bewahren. Solcherart ist auch die Erinnerung der christlichen Religion strukturiert, die durch die Feier des Jahreskreises mit seinen liturgischen und volkstümlichen Ritualen, das Verlesen der Heiligen Schrift, durch Katechese und christliche Lebensführung das Gedächtnis an den dreieinen Gott und sein Heilswerk bewahrt.
Der Advent ist dabei ein ganz besonderer Fall. Woran er erinnert, ist schwer zu greifen. Hinter den so gut memorierten Ritualen der nordeuropäischen Traditionen, die häufig nur rudimentär etwas mit der christlichen Botschaft zu tun haben, oder erst mit der Zeit christianisiert wurden, steckt eine vielfältige und diffuse Erinnerung, die sich zu einer ganzen Assoziationswolke zusammengeschoben hat. Die adventlichen Texte greifen zum einen auf die Prophetentexte des Alten Testaments zurück, zum anderen auf die Verheißungen der frühchristlichen Gemeinden. Im Kern geht es um die Hoffnung auf das Kommen des Messias, des Gottesreiches, der endzeitlichen Gerechtigkeit und des Friedens, eine Hoffnung die sich in der Geburt Christi schon vollzogen wurde und zugleich auch immer „noch nicht“ erfüllt ist. Die Texte durchstreifen die weiten Hallen der jüdisch-christlichen Memoria, betrachten die großen Wandgemälde, die die Wurzel Jesse, das Herabtauen des Messias oder die Heimkehr aus dem Exil zeigen, aber auch die Bilder des Endgerichts, der brennenden Lampen, die die Dunkelheit erhellen, der Waffenrüstungen, mit denen sich die Christen im Kampf gegen das Böse schützen sollen. Daneben liegen die Schriften und Spruchbänder der Mahnung und Warnung, der Ermutigung und Bestärkung, zusammengesetzt aus Zitaten der biblischen Schriften, die außerhalb ihres Zusammenhangs manchmal neue Bedeutungen angenommen haben und zur Projektionsfläche für den persönlichen Glauben wurden. Der Advent arrangiert das kollektive Gedächtnis zu neuen Tableaus, die erst von ihrem hermeneutischen Schlüssel, dem Christusereignis einen vereinenden Sinn erhalten können.
Wer den Advent im christlichen Sinn begehen möchte, muss sich auf das Durchstreifen der großen Hallen des biblischen Gedenkens einlassen. Sie öffnen den Raum für die eigene Reflexion, in der ich mein Leben in die ausgestellten Schaustücke hineinlege, einen Raum der Assoziation auf der Suche nach einem verlorenen (oder verborgenen Sinn). Insofern ist es richtig, den Advent ästhetisch, also mit den Sinnen wahrzunehmen. Er ist eine Zeit der Empfindungen, mehr als eine Zeit des rationalen Denkens. Man darf die Bilder auf sich wirken lassen, ohne sie gleich erklären zu wollen. Das Gedächtnis ist nicht akkurat, sondern wählerisch. Hoffnungen sind empfundene Erwartungen. Und der Advent soll eine Zeit der Hoffnung sein.
Und so erinnert mich der kleine goldene Christbaumschmuck aus dem Adventskalender zugleich an nichts Bedeutendes und dann auch wieder an sehr viel. Er beschwört die Zeit der kindlichen Empfindung herauf, die hinter jedem kleinen besonderen Geschehen des Alltags noch ein großes Geheimnis vermutete. In ihr streckte sich die Zeit der Erwartungen aus. Das kleine Goldpapier würde am Tannenbaum hängen. Es stand also schon vorausschauend für das große Fest, das auf mich wartete. In gleicher Weise ist das Stück Advent, das ich im Wort der Schrift empfange zugleich Vorausbote der Erfüllung einer großen Verheißung, die mir gegeben ist: Menschwerdung, Erlösung, Vergebung, Frieden – Gottes große Erzählung der Welt, in die ich eingebunden bin, nicht als Fiktion, sondern als echter und zählender Bestandteil einer großen Memoria, die anders als die unsere nicht irren kann.
Beitragsbild: Im Inneren der Kathedrale (Mezequita) von Cordoba
[1] Augustinus, Confessiones, X. Buch, VIII, 12 (Übersetzung von H.U. von Balthasar)
Erinnerung kommen
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