Grüße aus der Vergangenheit

Das Gleichnis von den Winzern im Weinberg (Mt 21,33-44) ist von politischer Brisanz. Jesus erzählt die Geschichte eines Weinbergbesitzers, der in alttestamentlicher Tradition als Gott identifiziert wird, der den Weinberg (das Volk Israel) im gelobten Land pflanzt (vgl. Jes 5, 1-7). Dieser Weinberg wird nun Pächtern übergeben, die den Weinberg bewirtschaften. Als der Besitzer seinen Anteil an den Erträgen einfordert und Knechte schickt, um den ihm zustehenden Betrag abzuholen, werden diese von den Winzern verjagt, verprügelt oder sogar umgebracht. Mit den Knechten sind die Propheten gemeint, die als Boten Gottes ausgesandt werden, um Israel an seine Gottestreue zu erinnern. Schließlich wird der Sohn des Weinbergbesitzers geschickt und auch er wird umgebracht. Damit spielt Jesus wohl auf sein eigenes Schicksal an. Die Botschaft ist: Der Weinberg ist in falschen Händen.

Ausdrücklich erwähnt das Matthäusevangelium, dass Jesus das Gleichnis den Hohepriestern und den Ältesten des Volkes erzählt (Mt 21,23). Diese sind die momentanen rechtlichen und religiösen Verantwortlichen des Volkes Israel. Unschwer ist zu erkennen, dass sie sich mit den bösen Winzern des Weinbergs identifizieren sollen. Denn die Lage zur Zeit Jesu war kompliziert. Israel war seit 66 v. Chr. von den Römern besetzt. Diese sicherten sich ihre Macht unter anderem dadurch, dass sie neben den Regionalkönigen der späteren Herodes-Linie, die aus Idumäa stammten, also gar keine Juden waren, auch das Amt des Hohepriesters mit romnahen Priestern besetzten. Das war gegen die Vorschrift, schließlich sah das jüdische Recht eine Erbfolge der Hohepriester vor. Die neue Linie der Hohepriester war also illegitim. Kein Wunder also, dass man den religiösen Führern, wie auch den Königen den Vorwurf machte, die „Früchte des Weinbergs“ nicht Gott abzuliefern, sondern sie in die eigenen Taschen und die der Besatzer umzuleiten. Sie folgten also in der Lesart des Gleichnisses in erster Linie nicht einer religiösen Ordnung, sondern einer politischen. Das Israel Gottes war fremden Mächten in die Hände gefallen. Das Schicksal eines Propheten, der wieder das Reich Gottes, oder die legitime Königsherrschaft in der Nachfolge Davids (Messias) einforderte, war also abzusehen und hatte sich so an Johannes dem Täufer auch erfüllt.  

Die Kritik, die das Gleichnis vom Weinberg erhebt, setzt sich in der Geschichte fort. Der Vorwurf, der „Weinberg“ befinde sich in falschen Händen, wird auch innerhalb der Kirche über die Jahrhunderte immer wieder erhoben. Das prophetische Element, das gegen sich gegen die aus seiner Sicht falschen Entwicklungen stellte, ist ebenfalls und zum Glück für die Kirche nie verstummt. Die Kirche wurde unglaubwürdig, sobald sie in ähnliche Fehler verfiel wie die Herrscher Israels. Ihren Führern wurde es angekreidet, wenn sie sich zu sehr der Politik verschrieben, in Abhängigkeit zu weltlichen Mächten gerieten, sich unchristlichem Gedankengut unterordneten. Kirchliche Reformen nahmen häufig von hier ihren Ausgang. Die „Propheten“ brachten vor allem eines mit, die unbequemen Grüße aus der Vergangenheit, indem sie die kirchlichen Führer und die Christen ihrer Zeit an die Grundlagen des Glaubens, das Evangelium und an frühere Traditionen erinnerten. Die Reform entsprang dem heilsamen Gedächtnis an einen lebendigen Glauben, der zum Gegenmittel einer entevangelisierenden Demenz werden konnte.  

Die Liste solcher Reformbestrebungen ist lang. Man könnte z.B. an Papst Gregor VII. (1025-1085) denken, der im Mittelalter für die Unabhängigkeit der Kirche von der weltlichen Dominanz des Kaisers stritt. Er selbst stammte aus den Reformklöstern der Gemeinschaft von Cluny, die sich um eine Re-Etablierung des Mönchstums als geistliche und Gebets-Gemeinschaft bemühte und damit die weltlich gewordenen Klöster der Zeit in Frage stellte.

Katharina von Siena (1347-1380) lebte zu einer Zeit, in der die Kirche und das Papsttum schwach geworden waren und unter den Interessen der damaligen Großmächte und durch innerkirchliche Spaltungen zerrieben wurde. Sie war eine mystische begabte Frau und widmete sich den Werken der Nächstenliebe. Aus diesem christlichen Grund (Gebet und Caritas) heraus trat sie öffentlich gegen die Missstände der Kirche auf und warb für eine erneute Einigung und Reform der Christenheit.

Martin Luther zog gegen eine aus seiner Sicht völlig verweltlichte Kirche zu Felde, die sich vor allem um politische Fragen, weltliche Macht und die Förderung der damals hochmodernen Renaissance-Kunst kümmerte und aus seiner Sicht die Predigt, die geistliche Bildung und die Seelsorge vernachlässigte. Auch sein Protest speiste sich aus den alten Quellen, einer Relecture der Heiligen Schrift, der Schriften des Kirchenvaters Augustinus und der mystischen Tradition des späten Mittelalters.

Ignatius von Loyola (1491-1556) brachte den Gedanken der persönlichen Christusbeziehung und der Nachfolge Christi wieder neu zur Entfaltung und fand so einen wirksamen Ansatz zur innerkatholischen Reform in einer Kirche, die reichlich geist- und hilflos nach neuen Perspektiven suchte. Diese Liste ließe sich noch deutlich erweitern (Benedikt, Franziskus, Dominikus, Teresa von Avila, Philip Neri).

Ein Beispiel für die prophetische Reform möchte ich noch erwähnen, weil es vielleicht auch für die heutige Zeit interessant ist. Ich möchte kurz auf das Wirken des Heiligen Vinzenz von Paul eingehen. Er wurde 1581 in Frankreich geboren, in eine Zeit, in der die katholische Kirche auf einem Tiefpunkt angekommen war. Es war die Zeit der nationalstaatlichen Vereinnahmungen. In England, Skandinavien und in Teilen Deutschlands hatten sich Herrscher von Rom losgesagt und die Kirchen unter ihre Aufsicht gestellt. Auch innerhalb der katholischen Kirche, besonders in Frankreich gab es solche Bestrebungen (sog. „Gallikanismus“). Der König trat als Schutzherr der Kirche auf, sicherte ihren Bestand und ihr Einkommen. In Sachen der Lehre, der Predigt, des Gebets und des kirchlichen Lebens war man weniger sorgfältig. So konnte Vinzenz, der aus einer armen Familie stammte, Priester werden, ohne dafür eine besondere Ausbildung zu absolvieren. Tatsächlich waren die Kirche und das Priestertum für den jungen Geistlichen wohl zunächst vor allem ein weltliches Karrieresprungbrett. Vinzenz bemühte sich um die Vergabe einer einträglichen Pfarrei und versuchte, gute Kontakte in obere Kirchen- und Gesellschaftskreise zu knüpfen. Der so gesehen eher weltlich orientierte Vinzenz erlebte allerdings mit Ende Zwanzig eine Lebenskrise, aus der er verändert hervorging. Zum einen knüpfte er Kontakte zu einem Pariser Oratorium, einer Art geistlichen Gemeinschaft von Frauen und Männern, die sich um ein persönliches Glaubensleben bemühten. Vor allem aber widmete er sich nun der tätigen Nächstliebe und wandte sich der übergroßen Zahl der Armen von Paris zu. Es entstand ein Netzwerk von christlichen Hilfsvereinigungen, die in diesem Geist der Nächstenliebe tätig wurden. Mit diesem urchristlichen Akzent setzte Vinzenz gemeinsam mit den Frauen und Männern seiner Zeit ein so wirksames Zeichen der Erneuerung der Kirche aus dem Geist der christlichen Caritas, dass es über die Jahrhunderte inspirierend für die neuen Aufbrüche der späteren Jahrhunderte blieb.

Vielleicht dürfen wir mit dem Gleichnis vom Weinberg einmal auf die Kirche unserer Tage schauen, deren Realität sowohl von großen Abbrüchen, als auch von großen Reformforderungen gekennzeichnet ist. Wir können, so meine ich, die Rollen nicht so klar verteilen. Die „Winzer“ der heutigen Zeit werden von den einen wieder in den Kirchenführern erkannt, die sich einer Erneuerung der Kirche entgegenstellen. Von den anderen werden die „Winzer“ in denen erkannt, die die Kirche in eine aus ihrer Sicht zunehmende Verweltlichung treiben möchten, sie also zur Anpassung an Gesellschaft, Staat und Lebensstil auffordern.

Ich möchte in diesem Streit nicht entscheiden, aber vom Gleichnis her einmal auf das prophetische Element schauen. Welcher prophetische Impuls könnte für die heutige Zeit wirksam sein? Wenn es so ist, dass die Propheten vor allem Grüße aus der Vergangenheit bringen, also versiegte Ströme des Evangeliums oder der Tradition wieder neu beleben: Kann eine wirkliche Reform der Kirche dann traditionslos sein? Es geht dabei nicht darum, die Kirche einer bestimmten Zeit (etwa der frühen Christen, des Mittelalters, des 19. Jahrhunderts, der 1970er Jahre) wieder genau so wiederherzustellen. Über diese Formen ist der Wind der Geschichte bereits hinweggegangen. Sie kommen nicht wieder. Es geht im Prophetischen vielmehr darum, die entscheidenden Elemente wieder neu zum Leben zu bringen, die der Kirche jetzt fehlen. Dabei kann es lehrreich sein, wenn wir konstatieren, dass vergangene Reformen ihre Wurzeln in der Mystik, dem Gebet, der Relecture des Evangeliums, der Evangelisierung und der Nächstenliebe ausgeprägt hatten. Einer Reform ohne vertieften Glauben dürfte nur wenig gelingen. Das Gleichnis von den Winzern im Weinberg hat seine Brisanz, die es zur Zeit Jesu hatte, nicht verloren. Es enthält eine Drohung an die schlechten Winzer und zugleich eine Verheißung. Über die Winzer sagt es: „Das Reich Gottes wird euch weggenommen, und einem Volk gegeben werden, das die erwarteten Früchte bringt.“ Es wird also darum gehen, Gott wieder etwas zurückgeben zu können und vor allem, den Sohn des Gleichnisses anzunehmen und von ihm zu lernen.

Beitragsbild: Harfenspieler (König David?) – Relief im Kloster Cluny (Burgund, Frankreich)

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