Am Karfreitag des Jahres 1520 starb in Rom Raffaello Sanzio da Urbino im Alter von 37 Jahren. Er war der am meisten verehrte Künstler seiner Zeit. Raffael wurde in seinem Atelier aufgebahrt. Am Kopfende stand sein letztes Gemälde, das gerade im Auftrag eines römischen Kardinals beendet hatte.[1] Raffaels letztes Gemälde zeigte die Verklärung Christi. In der Mitte ist der Berg zu sehen, hier ein kleines Plateau, auf dem die drei Jünger liegen. Über ihnen ist strahlendes Licht, vor dem sie ihre Augen verbergen und sich die Hand vor das Gesicht halten. In der Lichtwolke schwebt am oberen Bildrand der verklärte Christus, die Hände zum Segensgestus erhoben. Sein Gewand ist weiß und seine Gestalt verströmt eine große Leichtigkeit. Alle Erdenschwere ist von ihm genommen.
Doch die Szene der Verklärung ist nur der eine Teil des Bildes. Der Berg teilt das Gemälde in zwei Hälften. In die untere Hälfte malt Raffael eine andere biblische Szene, von der im Evangelium im Anschluss an die Verklärung berichtet (Mt 17,14-20). Eine große Menschenmenge, unter ihnen auch die anderen Jünger hat sich versammelt. Die Menschen haben einen kranken Jungen gebracht und die Jünger beraten über die Heilung.
Als Goethe auf seiner Italienischen Reise später das Bild betrachtete, ärgerte er sich über die Bildkomposition. Die Verschränkung der beiden Szenen schien ihm unangemessen. Oben ist die selige Schau, die Mystik, die himmlische Herrlichkeit zu sehen, unten die irdische Wirklichkeit, der seelsorgliche Notfall. Man hätte doch entweder das eine oder das andere malen können. Ich will nicht zu viel interpretieren, aber vielleicht vollzieht Goethe bereits eine Denkbewegung, die für den modernen Menschen dann typisch werden soll. Er möchte am liebsten einen Strich durch das Bild ziehen, die Sphären voneinander trennen: Was unten geschieht, ist doch entscheidend. Die Not und die Probleme, das irdische Dasein, das irdische Diskutieren und Feilschen um die richtige Lösung. Müssen wir nicht zuerst unsere irdischen Fragen lösen? Was hat hier noch die selige Schau, die Mystik zu suchen, diese Sonderwelt des Glaubens, die uns abhalten kann, die Erde ernst zu nehmen? Statt himmlischer Leichtigkeit ist Erdenschwere und das selige Schauen allenfalls eine ferne Hoffnung für die Zeit nach der Erde. Also, ist da noch etwas auf dem Berg? Wäre es im Sinne der menschlichen Bedürfnisse nicht vielleicht sogar besser, der Berg wäre leer, so dass er uns nicht vom Eigentlichen ablenken kann?
Kennen sie noch die alten Frauen? Ich meine diejenigen, die immer zur Kirche kamen. Die immer eine Kerze anzündeten und Weihwasser mit nach Hause nahmen? Diejenigen, die zu Hause den Rosenkranz beteten und aus den Gebetbüchern lasen? Sie sind selten geworden. Doch es gibt sie noch. Ich bin erst neulich einer von ihnen begegnet. Sie war keineswegs eine fromme Eiferin. Sie war bestimmt nicht weltfremd. Gut, sie hat sicher keine Petitionen gegen die Erderwärmung unterschrieben und konnte nicht sagen, welche Partei die Geschicke des Landes am besten führen wird. Sie hatte ein schweres Leben gehabt, hart gearbeitet, Krankheit, Trauer und Katastrophen überstanden. Sie hat sich intensiv um das Irdische gekümmert, ihre Familie versorgt, neben der Arbeit den Garten versorgt, Fremde aufgenommen, Kranke gepflegt, getröstet und ermahnt. Das Irdische war für sie sehr konkret. Aber daneben hat sie den anderen aus der Bibel vorgelesen, die Kirche aufgesucht, das Marienbild in ihrem Zimmer beim Betreten geküsst. Die Sphären waren nicht getrennt, sondern gingen ineinander über. Der Berg war voll Glanz. Ihre Angehörigen, so schien es mir, hatten viel von ihr übernommen, den Zusammenhalt, die gegenseitige Hilfe, die Sorge um das Wohlergehen der Familie, den Garten. Aber sie haben das andere scheinbar nicht weitergeführt. Der Berg war für sie schon leer. Eigentlich merkwürdig, wo sie doch gesagt hatten, dass diese Frau für sie immer so zufrieden und mit sich in Frieden zu sein schien.
Ich erlebe das hin und wieder: Angehörige bringen zu uns Kreuze, Heiligenbilder, Gebetbücher der Verstorbenen. Sie haben dafür keine Verwendung mehr. Sicher, nicht jedes Bild, nicht jede Schrift aus alter Zeit spricht uns heute ästhetisch oder sprachlich an. Ob aber dann das Alte durch etwas Neues ersetzt wurde? Ich habe meine Zweifel. Ist da also noch etwas auf dem Berg?
Ich traue mich kaum, es auszusprechen, aber ich erlebe diese Sphärentrennung häufig sogar in der Kirche. Ich sehe ganz viel untere Bildhälfte, intensive Beschäftigungen mit irdischen Fragen. Sind wir es, die die Kirche retten? Wie sollen wir das tun? Wir diskutieren und planen. Und was ist auf dem Berg? Ja, ja, natürlich ist da was. Aber es ist irgendwie etwas für schöne und feierliche Momente. Hin und wieder ein Aufstieg, ein wenig Glanz. Aber, dass uns das Licht unten erreichen würde, dass es in unsere irdische Wirklichkeit tatsächlich hineinleuchtete…?
Genau das malt Raffael in seinem Bild. Der schwebende Jesus in der leuchtenden Wolke ist die Lichtquelle. Das Strahlen trifft auf die Figur des kranken Jungen und leuchtet ihn wie auf einer Theaterbühne aus. Ohne das Geschehen auf dem Berg bliebe die Szene finster. Die Sphären verschränken sich eben doch und stehen nicht unverbunden nebeneinander. Ein wenig Verklärung, ein wenig Gott ist eben auch unten, so sehr wie dort mit irdischen Mitteln auch gerungen und diskutiert wird. Die Wirklichkeit offenbart eine zweite Ebene.
Schließen möchte ich mit einem Gedicht von Silja Walter. In ihm geht es um das Wahrnehmen des Lichtes bei dem, für den der Berg nicht leer ist:
Auch in
Anemonen und Nelken
ist das Reich und
die Herrlichkeit,
Herr,
für den, der es sieht,
der durch alles hindurchsieht
Auch in uns ist ein Lobgesang,
Preislied und Dankgebet,
Schweigen und
Staunen vor dir.
für den, der es sieht,
der durch alles hindurchsieht
Auch in uns ist Gleichnis
und Wahrheit
und Leben und Fest –
Schimmer und Skizze
des schönen Schöpfers und Herrn,
hier unter uns
Sein Wohlgeruch erfüllt alle Welt.
Beitragsbild: Verklärungskirche auf dem Berg Tabor (Israel)
[1] S. zu Raffaels Bild: Klemens Stock, Poetische Dogmatik, Christologie Bd. 3, 402-408.
Ich denke die Kirche bringt den Menschen nicht mehr den JHS( Jesus-Heiland-Seeligmacher) näher. Meine Großeltern sprachen immer vom “ Heiland“. Heiland ist jemand, der die Seele und das Leben heil macht. Das Evangelium gibt genug Beispiele, aber es ist wirklich so.
Das ist die frohe Botschaft!
Man kreist aber nur um sich, in Gremien, fern ab von den seelischen Anliegen der Menschen- oder hat man einmal unseren Bischof beim Gefangenenbesuch oder beim Rollstuhlschieben im Altenheim oder bei den Obdachlosen im Schanzenviertel in Hamburg gesehen? Ich nicht.
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