Die Wolke bewegt sich nicht. Während sich der Himmel über dem einsamen kalifornischen Tal in ständig seine Gestalt wechselt, bleibt die eine Wolke stehen. Die Langzeitaufnahmen einer Kamera beweisen es. In der Wolke, der „cloud“ lauert die Gefahr. Immer wieder bricht ein Ufo aus ihr heraus, zieht seine Runden über die Landschaft und verschlingt durch einen starken Sog scheinbar wahllos Gegenstände, Tiere und Menschen. Was hat die eigenartige Erscheinung zu bedeuten? Der Film „Nope“ des Regisseurs Jordan Peel gibt den Zuschauern Rätsel auf. Warum er als „Horrorfilm“ beworben wird, ist nicht ganz einsichtig. Im Grunde verhandelt er eher philosophisch eine der großen Fragen unserer Zeit. Es geht um das Sehen und Gesehen-Werden. Doch der Reihe nach. Auf einer Farm in der Nähe von Los Angeles bildet der Protagonist OJ zusammen mit seinem Vater und mit Jill Pferde für Filmproduktionen aus. Stolz erzählt Jill die Geschichte, dass ihre Familie bereits in einer langen Film-Tradition steht. Einer ihrer Ahnen war der erste Schwarze, der als Jockey auf einer sehr frühen Filmaufnahme zu sehen ist. Dieses scheinbar nebensächliche Detail bekommt im Laufe des Films eine wichtige Bedeutung. Der Beginn des Kino-Zeitalters markiert nämlich eine Zeitenwende. Von jetzt an sind es die Menschen gewohnt, die Wirklichkeit durch eine Kamera zu betrachten. „Nope“ erscheint als filmische Bearbeitung dessen, was Walter Benjamin in seinem berühmten Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ von 1936 vorausahnte. Die Kamera bewirkt mit ihrem Siegeszug eine Kulturbruch, die Ablösung des einmaligen Erlebnisses zugunsten des massenhaft verbreiteten Sehens reproduzierter Bilder. Dass darin Potential zur Veränderung der ganzen Menschheit lag, hatte Benjamin in seiner Zeit bloß ahnen können.
„Nope“ zeigt nun, wie weit diese Veränderung gegangen ist. Für die Protagonisten des Films ist klar: Wirklich ist erst, was im Film gebannt wurde. So handelt „Nope“ unter anderem vom verzweifelten Kampf der Protagonisten, das merkwürdige Phänomen des UFOs in irgendeiner Weise filmisch oder fotografisch zu bannen. Denn erst, was im Fernsehen und Internet zu sehen ist, hat Bestand. Beim UFO handelt es sich nicht um ein Raumschiff einer fremden außerirdischen Zivilisation, sondern im Grunde um eine große, alles verschlingende Kamera.[1] Es ähnelt in seiner Gestalt einer Linse, wie wir sie aus unseren allgegenwärtigen Handykameras kennen und verwandelt sich in der Schlussszene in eine amorphe Gestalt, eine Art Tuch, in dessen Mitte eine quadratische Öffnung pulsiert. Es dürfte kein Zufall sein, dass das Objekt so an eine verfremdete Kamera der frühen Fototechnik erinnert, bei der die Linse in einer viereckigen Vorrichtung aus ausziehbaren Lamellen saß, hinter der ein Tuch den Fotografen vor dem Außenlicht abschirmte. Die große Kamera aus der „Cloud“ verschluckt erbarmungslos alles, was sich ihr in den Weg stellt, vornehmlich alles, was sich bewegt und sich ihr zuwendet. Der beste Schutz vor dem UFO besteht darin, unbewegt zu bleiben und vor allem eins nicht zu tun: Nach oben in das Objekt zu blicken. Wer der Versuchung nicht widersteht, wird eingesogen und verdaut. Das UFO speit dann später die unverdaulichen Reste seines Raubzugs wieder aus. Und (auch dies macht die Deutung des UFOs als „Kamera“ wahrscheinlich) das fliegende Objekt „verschluckt“ sich an Gegenständen, die zu groß sind, wie eine Kamera eben auch nur Dinge bis zu einem gewissen Ausmaß getreu abbilden kann.
Der Himmel sieht uns. Die Cloud nimmt alles in sich auf. Die Spaß- und Mediengesellschaft wird durch die von ihr selbst etablierte allgegenwärtige Reproduktionstechnik aufgefressen. Die Wirklichkeit außerhalb der Abbildung verschwindet. In „Nope“ können sich nur zwei Gruppen dieser vernichtenden Gewalt entziehen. Zum einen sind das die Tiere, die gegen das beständige „Angeschaut-Werden“ rebellieren, zum anderen die Menschen, die den Mechanismus des UFOs durchschaut haben. Als OJ und Jill sich im „Endkampf“ gegen das UFO befinden, macht der Regisseur dies durch eine Geste deutlich. OJ und Jill müssen sich trennen. Das Ufo steht zwischen ihnen. OJ blickt zu Jill herüber und deutet mit zwei Fingern zunächst auf seine Augen, dann auf die Frau. Jill wiederholt die Geste. Sie besagt: „Wir müssen uns gegenseitig anschauen“ und „Wir müssen uns im Blick behalten“. Der zwischenmenschliche Blick besteht gegen die verschlingende Gegenwart der Kamera. Erst wo diese ignoriert wird und der Mensch sich auf die Realität des anderen besinnt, wird ihre Macht gebrochen.
Bewusst oder unbewusst berührt der Film jenseits der intendierten Medienkritik auch eine theologische Frage. Bei der riesigen Kamera aus der Wolke wird der christlich geschulte Betrachter unweigerlich an die Darstellungen des „Auges Gottes“ denke, in denen ein großes Auge in einem Dreieck (als Hinweis auf die Trinität) aus der Wolke (ein Hinweis auf die Gottesoffenbarung am Sinai) Welt und Menschen beobachtet. Dieses Motiv, dass volkstümlich moralisch gedeutet wird („Gott sieht alles“) hat in der klassischen Theologie noch eine andere Bedeutung. Es kann als Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie verstanden werden. Der Neuplatonismus ging davon aus, dass die Dinge und Lebewesen der Welt nur Erscheinungen der ihr zugrundeliegenden Ideen sind. Nicht die konkrete Gestalt ist also das „Eigentliche“ sondern dieses ist hinter den Gestalten verborgen. Gott sieht nun in den Werken der Schöpfung vor allem ihre eigentliche Bestimmung. Der Schöpfungsbericht drückt dies im beständig wiederholten „Und Gott sah, dass es gut war“ aus. Das Auge Gottes steht so für den alles erhaltenden Blick Gottes, denn nur in seinem Erkennen der Dinge, haben sie auch eine Wirklichkeit. Joseph Ratzinger und Johann Auer drücken es in ihrer Schöpfungslehre so aus: „Gott erkennt die Dinge in seinem eigenen Wesen und verwirklicht sie durch seinen freien Willen als Schöpfer; unser Erkennen ist rezeptiv und passiv und die Kreativität des Menschen ist eine konstruktive, nicht ursprünglich schöpferische: der Mensch verwertet für all seine neuen Gebilde vorhandene Wirklichkeiten, insoweit er sie kennt.“[2] Einfach gesagt: Der Blick Gottes durschaut die Wesen und Dinge bis auf ihren Grund, der Mensch kann sich ihrer tieferen Dimension nur unvollkommen annähern. Die Kamera als „externalisiertes menschliches Auge“ vergröbert diesen Prozess nur noch weiter. Sie zeigt nur noch das Äußere, verschlingt die Gestalt ohne ihren Gehalt zu verstehen. Deshalb macht es ihr im Film „Nope“ auch nichts aus, Gewalt anzuwenden. Alles Abbildbare ist nur noch Objekt und Oberfläche. In gewisser Weise ist das „UFO“ im Film die Perversion des göttlichen Blickes. Statt die Schöpfung durch den Blick zu erhalten, verschlingt es sie.
Allerdings hat der umfassende Blick Gottes zugleich etwas Bedrohliches. Er durschaut und durchdringt alles bis ins letzte Geheimnis, wie es etwa Psalm 139 ausdrückt. Zugleich wirkt dieser Blick erstaunlich distanziert. In Psalm 33 heißt es:
„Der HERR blickt herab vom Himmel, er sieht alle Menschen. Von seinem Thronsitz schaut er nieder auf alle Bewohner der Erde. Der ihre Herzen gebildet hat, er achtet auf all ihre Taten. Dem König hilft nicht seine große Stärke, der Held rettet sich nicht durch große Kraft. Trügerische Hilfe ist das Ross, es rettet nicht mit seiner großen Stärke. Siehe, das Auge des HERRN ruht auf denen, die ihn fürchten, die seine Huld erwarten, dass er ihre Seele dem Tod entreiße und, wenn sie hungern, sie am Leben erhalte.“
Auch hier wird deutlich, dass vor dem Blick Gottes das menschliche Mühen wenig Kraft besitzt. Der Blick wirkt gewaltig, übermächtig. Es braucht im Laufe der biblischen Überlieferung hier eine gewisse Korrektur, das liebende und rettende Sehen Gottes.
In der christlichen Bildtradition gibt es die Figur des „Allessehenden“, ein Christusbild, das Nikolaus Cusanus im 15. Jahrhundert ausdeutet.[3] Das Bild, das Cusanus in einem Kloster sieht zeigt einen Christus, der so gemalt ist, dass es dem Betrachter so scheint, als ob er persönlich von Christus angeschaut würde. Die visuelle Illusion besteht darin, dass dies für alle Betrachter unabhängig von ihrem Standort gilt. Der abgebildete Christus sieht also zugleich alles und jeden einzelnen persönlich und verweist auf die beiden trinitarisch bezeugten Sichtweisen Gottes, den allmächtigen Schöpfer und Erhalter und zugleich den persönlich heilenden, schützenden und berufenden Gott. Dem „Überblicken“ wird also ein „Anblicken“ zur Seite gestellt. Das „Allessehen“ ist nicht Ausdruck einer unpersönlichen Machtdemonstration, sondern mit dem Erkennen des Inneren Grundes des Menschen zugleich ein fürsorgliches und liebendes, geradezu zwischenmenschliches Anschauen. Die frühen christlichen Hymnen reflektieren dieses Verhältnis. So heißt es in einem: „Ein Auge schaut auf uns herab, / das über unsrem Leben wacht: / es sieht voll Güte unser Tun /vom frühen Morgen bis zur Nacht.“ Dem Schöpferauge, dem hier schon die „Güte“ und „Fürsorge“ zugeschrieben wird, steht der Blick Christi zur Seite, der in einem anderen Hymnus dann so angerufen wird: „Blick tief in unser Herz hinein, / sieh unser ganzes Leben an: / Noch manches Arge liegt in uns / was nur dein Licht erhellen kann.“ Mit dem Licht ist das Licht des Morgens assoziiert. Sich dem neuen Tag, der aufgehenden Sonne (des Auferstandenen) zu stellen, bedeutet, sich dem Blick Christi auszusetzen. Der Himmel sieht uns, allerdings nicht in einer bedrohlichen Weise, sondern als Zeichen der gelingenden Schöpfung, in der Angst und Schuld keinen Bestand haben. Der Film „Nope“ lässt daher die Vernichtung des UFOs vor dem aufgeklarten, sonnenbeschienen Himmel spielen. Das erste Mal ist er in dieser Weise im Film zu sehen. Die Wolken haben sich verzogen. Und so zerplatzt die vernichtende Kraft der Kamera zwischen dem Blick der Protagonisten, die ihr widerstanden haben und dem allumfassenden lebensspenden Blick des wahren Himmels, der über ihnen leuchtet.
Beitragsbild: Werbeschild in der Schweriner Altstadt
[1] Siehe dazu die sehr gute Analyse von Wolfgang M. Schmitt: NOPE – Jordan Peeles Filmrätsel (fast) entschlüsselt – YouTube
[2] Auer / Ratzinger, Kleine Katholische Dogmatik III, Regensburg 1983, 93.
[3] Alex Stock, Poetische Dogmatik, Christologie Bd. II, Paderborn 1996, 150ff.