Vor einigen Wochen erhielt ich eine Einladung zum Klassentreffen. Vor 25 Jahre habe ich Abitur gemacht. Dies soll nun der Anlass sein, einmal wieder im damaligen Abiturkurs zusammenzukommen. Ich werde wohl wegen des Termins nicht kommen können, habe mich aber an unser Zusammentreffen aus Anlass des 20. Jahrestages noch gut erinnert. Meine Erfahrung: Es ist war nicht so leicht, an alten Zeiten wieder anzuknüpfen. Ich hatte nur noch wenige Kontakte zu den Mitschülern von damals. Wir kamen in einem Lokal zusammen. Die Gesichter waren mit noch vertraut, die meisten Namen auch. Allerdings begann nach einer kurzen Begrüßungsrunde die etwas mühsame Suche nach Themen, über die wir miteinander sprechen konnten. Das Leben war schließlich für alle von uns weitergegangen und es hatte bei den Einzelnen sehr unterschiedliche Richtungen genommen. Außer der Tatsache, dass uns damals der Zufall zu einem Kurs zusammengeführt hatte, gab nur wenige Gemeinsamkeiten. Ein wenig Erinnerung und Nostalgie, dann ein kurzes Nachfragen nach dem Lebenslauf, aber dann kamen wir notgedrungen auf ganz allgemeine Themen. Die Verbundenheit von einst war zumindest nicht mehr da. Wen wundert das? Der Lauf der Zeit hatte uns fast notwendigerweise auseinandergebracht. Wir alle hatten unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Berufe, unterschiedliche Lebensauffassungen, unterschiedliche politische Einstellungen, unterschiedliche Stile. Eine Gemeinschaft kam so nicht mehr zusammen.
Ich habe das Evangelium des Sonntags einmal vor diesem Hintergrund gelesen. Es kommt in sehr markigen und leicht verstörenden Worten daher:
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen! Ich muss mit einer Taufe getauft werden, und ich bin sehr bedrückt, solange sie noch nicht vollzogen ist. Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, nicht Frieden, sondern Spaltung. Denn von nun an wird es so sein: Wenn fünf Menschen im gleichen Haus leben, wird Zwietracht herrschen: Drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei, der Vater gegen den Sohn und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter, die Schwiegermutter gegen ihre Schwiegertochter und die Schwiegertochter gegen die Schwiegermutter (Lk 12, 49-53).
Das zentrale Wort des Textes ist die „Spaltung“. Im Matthäusevangelium steht an dieser Stelle „Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert“. Das klingt so, als ob Jesus Krieg und Kämpfe ankündigen wollte. Im Lukasevangelium ist es etwas anders. Das hier im griechischen Text stehende Wort bedeutet übersetzt „Spaltung“ oder auch „Entzweiung“. Was wäre also, wenn wir nicht von einer kämpferischen Auseinandersetzung ausgehen würden, sondern die Spaltung oder auch Entzweiung etwas weniger spektakulären Prozess des Auseinanderlebens ansehen? Aus meiner Sicht macht das durchaus Sinn, denn die zitierte Stelle aus dem Lukasevangelium steht in einem Zusammenhang mit anderen Worten Jesu, in denen es immer um Entscheidungen geht, für oder gegen die Nachfolge, für oder gegen die Werte des Reiches Gottes, für oder gegen einen bestimmten Lebensstil. Die Lebensgeschichte eines Menschen können wir immer als Ergebnis von bestimmten Entscheidungen lesen, die uns auf sehr unterschiedliche Wege bringen.
Ich habe mich erinnert an eine Ausstellung im Kölner Diözesanmuseum. Dort hatte man in einem Raum zwei Figuren einander gegenübergestellt. Die eine Figur zeigte einen Christus an der Rast, eine nachdenkliche Jesusgestalt, sitzend, den Kopf auf die Hände gestützt. Ihm gegenüber stand eine Figurengruppe um einen griechischen Held, Herakles. Die Gruppe zeigte die Sage, in der dieser Herakles an einen Scheideweg kommt. Ihm begegnen an einer Kreuzung zwei Frauen. Die eine Frau ist hübsch, aber unauffällig, die andere ist reich geschmückt und prächtig anzusehen. Die erste ist die Tugend, die zweite die Lust. Herakles soll sich nun entscheiden, welchen Weg er einschlagen soll. Er entscheidet sich für den schwereren Weg der Tugend. Dieser Christus und der Herakles passten gut zusammen. Denn auch Jesus steht an einem Scheideweg. Er wird sich dafür entscheiden, den Weg des Leidens und Sterbens zu gehen. Statt des Herakles kann ich mich selbst einsetzen. In Anbetracht der Entscheidung, des Lebensweges Christi, welchen Weg möchte ich einschlagen? Welchen Idealen, welchen Werten, welchem Lebensentwurf soll ich folgen? Natürlich geht es damit auch um die Frage der Nachfolge und in ihr um die verschiedenen Wege der Nachfolge.
Das Evangelium spitzt die Frage der Entscheidung zu. Noch ist eben nicht alles klar, noch ist, im Bild des Evangeliums gesprochen, die letzte Taufe oder auch das klärenden Feuer nicht da. Noch gibt es eine Vielzahl von Wegen und Entscheidungen. Und diese setzen ein Ringen in Gang, eine Auseinandersetzung über den richtigen Weg, auch ein Geschichte, die nie frei von Sackgassen und Irrwegen ist. Die Entzweiungen sind nicht zu vermeiden, die Spaltungen müssen so fast notwendig kommen. Die Geschichte des Christentums zeigt das sehr eindringlich. Intensiv, teilweise sogar kämpferisch oder kriegerisch wurde um den richtigen Weg der Nachfolge gerungen. Den Abiturabend rettete damals die Erinnerung. Wir haben uns über die gemeinsame Vergangenheit wiedergefunden, auch wenn wir wussten, dass es größtenteils keine gemeinsame Zukunft gibt. Es wurde trotzdem ein schöner und auch versöhnlicher Abend. Das zumindest sollte doch möglich sein. Bei aller Unterschiedlichkeit kann ich doch im Anderen einen Menschen mit gleichem Ursprung erkennen, einen Menschen, der so wie ich, immer wieder grübelnd an den Scheidewegen des Lebens gesessen hat, der mit mir die gleiche Erfahrung des Nachdenkens und der Suche nach dem guten Leben geteilt hat, auch wenn wir uns über das Ergebnis vielleicht nicht einig werden.