Kirchenbild im Übergang [Zum Abschluss des Prozesses „Pastorale Räume“]

Neben all den öffentlich derzeit heiß diskutierten kirchlichen Ereignissen und Themen vollzog sich im Erzbistum Hamburg eher unbeobachtet ein dennoch wichtiges Ereignis. Am 23. Januar wurde die neue Pfarrei „Josefina Bakhita“ im Hamburger Nordwesten gegründet, ein Zusammenschluss von ehemals vier eigenständigen Pfarreien. Damit kam der seit 2009 laufenden Prozess der Bildung „Pastoralen Räume“ zum Abschluss. In den letzten 10 Jahren wurden die Gemeinden in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg zu 28 neuen Pfarreien zusammengefasst. Diese Art der Strukturreform ist in vielen Bistümern zu finden und wird in erster Linie durch die prognostizierten Zahlen an zur Verfügung stehenden Priestern verursacht. Allerdings lohnt es sich, nach Abschluss des Projektes in Hamburg noch einmal genauer hinzusehen. Das Projekt der „Pastoralen Räume“, das stilbildend auch für andere Diözesen geworden ist, brach mit einigen gängigen Vorgehensweisen bei der Zusammenlegung von Pfarreien. So wurde etwa kein Plan zum Zuschnitt der neuen Pfarreien vorgelegt, auch nicht eine feste Anzahl für die neuen Einheiten. Vielmehr entstanden die Verbindungen zwischen den bisherigen Pfarreien in Gesprächen vor Ort. Ebenso gab der Ablauf des Prozesses zur Bildung der Pfarreien nur ein ungefähres Muster vor und plante zudem Zeit ein. An einigen Stellen hat der Prozess zur Bildung des Pastoralen Raums fünf Jahre gedauert. Mindestens ebenso wichtig wie der offene Prozess zur Strukturbildung war der doppelte inhaltliche Prozess, der auf Ebene des „Pastoralen Raums“ die Reflexion der eigenen pastoralen Arbeit und schließlich das Erstellen eines „Pastoralkonzepts“ vorsah und auf der Bistumsebene zur Reformulierung und Anpassung der inhaltlichen Bestimmung einer Pfarrei führte. Auf dieses damals „Neue“ möchte ich im Folgenden eingehen.

Ende 2011 wurden die „Pastoralen Leitlinien“ für den Prozess der „Pastoralen Räume“ im Erzbistum Hamburg vom damaligen Erzbischof Werner Thissen veröffentlicht.[1] Das achtseitige Papier beschrieb die Idee der neuen Pfarreien und versuchte, den beschlossenen Strukturprozess auf verlässlichen theologischen Grund zu stellen. Mit Abstand von 10 Jahren gelesen, erscheint Vieles von dem, was damals gedacht wurde, heute selbstverständlich. Das war es 2011 noch nicht. Die „Pastoralen Leitlinien“ boten tatsächlich etwas Neues. Tatsächlich erzeugte die Vorstellung einer Großpfarrei mit mehr als 20 000 Katholiken oder einer Fläche von mehr als 2000 km² großes Unbehagen. Noch um das Jahr 2000 galt eine Pfarrei mit 5000 Katholiken als „groß“ und Zusammenlegungen im Zuge der ersten „Fusionsprozesse“ waren bei weitem nicht immer gelungen.

Wie sollte man sich die neu entstehenden Großpfarreien praktisch vorstellen? Vor dieser Frage standen neben den Bistumsverantwortlichen auch die engagierten Gemeindemitglieder. Mit der Ausdehnung der Pfarrei wurde schließlich das traditionelle Gemeindebild der 1970er Jahre endgültig an seine Grenzen geführt. Die „Gemeindetheologie“ war von einem überschaubaren Territorium ausgegangen, in dem sich die Gläubigen als familiäre Gemeinschaft oder auch „lebendige Gemeinde“ unter der Leitung eines Pfarrers zusammenfanden. Die vorhergehenden Zusammenlegungen von Gemeinden, die im Erzbistum Hamburg seit Ende der 90er Jahre stattfanden, führten zunehmend zu Schwierigkeiten. Wie konnten die Gläubigen auf weiterem Raum in unterschiedlichen Kirchen zu „einer Gemeinde“ werden? Die Tendenz zur Zentralisierung des gemeindlichen Geschehens erzeugte vor Ort häufig Unmut. Die für mehrere Gemeinden zuständigen Geistlichen, aber auch hauptamtlichen Miterbeiterinnen und Mitarbeiter konnten den noch vielfach geäußerten Wunsch nach „dem eigenen Pfarrer“ oder „der eigenen Gemeindereferentin“ immer weniger erfüllen. Für die neuen, noch größeren Pfarreien konnte das alte Kirchenbild nicht mehr tragend sein.

Zwei weitere Bewegungen kamen hinzu. Zum einen hatte Anfang der 2000er Jahre die „Sinus-Milieustudie“ für einen gewissen pastoralen Schock gesorgt. Sie offenbarte, was eigentlich schon bekannt war: Das kirchliche Kerngeschäft der Pfarreien erreichte nur noch wenige soziale Milieus. Aus Gemeindesicht lebten damit weite Teile der katholischen Bevölkerung in „pastoralem Brachland“, sprachen also nicht auf das kirchliche Angebot an. Es galt daher, den Blick auf kirchliche Aktivitäten zu weiten, die etwa in der Caritas und im Bildungswesen andere Personengruppen erreichten und darüber hinaus auf außerkatholische Anbieter und Institutionen zuzugehen. Dieser Gedanke der Weitung des pastoralen Blickwinkels traf in eine Zeit, in der kirchliche Einrichtungen und Aktivitäten an vielen Stellen schlicht nebeneinander existierten. Die Idee des „Netzwerks“, von der heute so selbstverständlich gesprochen wird, stellte damals eine wirkliche denkerische Herausforderung dar. Die kirchliche Aktivität innerhalb eines pastoralen Raums wurde nun weniger allein aus der Binnenlogik der festen Einheiten (Pfarrei, Schule, soziale Einrichtung) betrachtet, sondern legte Wert auf die zwischen diesen Einheiten bestehenden oder zu bildenden Kooperationen, sowie die Interaktion in den Sozialraum, der vorher eher als „weltliches Außen“ verstanden wurde. Das Netzwerk bot zudem die Herausforderung, die neue Pfarrei ohne festen Mittelpunkt zu denken. Bis dahin hätte man in der grafischen Darstellung der Pfarrei einen Kreis rund um die Pfarrkirche gezogen. Diese zentrale Pfarrkirche gab es nun nicht mehr. Vielmehr bilden die verschiedenen Pfarrkirchen des Netzwerks „Pastoraler Raum“ lediglich einige der vielen Knotenpunkte.

Als zweite Bewegung können außerdem die pastoraltheologischen Ideen des „weltkirchlichen Lernens“ hinzugenommen werden, die in den 2010er Jahren die kirchliche Weiterbildungsszene beherrschten. Im Kern ging es darum, die „Gemeinde“ als Gemeinschaft gläubiger Christen neu zu verstehen. Aus der bisherigen Pfarrei sollte nach kirchlichen Vorbildern aus Asien oder Afrika eine Gemeinschaft von lebendigen Kernzellen christlichen Lebens werden. Die Offenheit für eine solche Entwicklung sollte zumindest auch im neuen Modell der Pfarrei im Pastoralen Raum gegeben sein. Die Idee war, kirchliche Gemeinschaftsbildung stärker aus ihrer inhaltlichen, vor allem geistlichen Grundlage zu verstehen. Als Kriterium für die „Gemeinde“ als Netzwerkpunkt der neuen Pfarrei wurde daher die Eucharistiefeier bestimmt und damit die Sammlung um den sakramentalen Kernvollzug der katholischen Kirche. Das Kriterium der territorialen Zugehörigkeit trat in seiner Bedeutung deutlich zurück. Auch andere, bislang strukturell wichtige Faktoren, wie die Unterscheidung von Pfarr- und Filialkirchen wurden im Laufe der Zeit aufgegeben. Die „Gemeinden“ innerhalb des Pastoralen Raums sind durch ihr geistliches und apostolisches Tun bestimmte Gemeinschaften und werden nicht mehr durch rechtliche Kriterien oder vorhandene kirchliche Immobilien strukturell gesetzt. Dies macht ekklesiologisch Sinn. Die „Volk Gottes“-Theologie, die sich gerade in den 1970er Jahren großer Beliebtheit erfreute, behauptete zwar die Kirche als dynamisches Geschehen (wie Israel auf der Wüstenwanderung), konnte aber dieses dynamische Geschehen aber nur bedingt einholen, weil es die Gläubigen als Gemeinschaft noch stärker als vor dem Konzil auf bestimmte Orte, die Kirche oder auch das Gemeindehaus band. Der im neuen Modell gegebene Spielraum ist bereits an einigen Stellen genutzt worden, birgt aber gerade unter den Vorgaben der anstehenden Immobilienreform weiteres Potential. Die Herausforderung bleibt, die kirchliche Aktivität nicht in erster Linie von Orten, sondern von Gemeinschaften her zu definieren. In neueren pastoraltheologischen Ansätzen wird in der konsequenten Weiterentwicklung sogar davon gesprochen, die Kirche nur noch von den Individuen zu definieren. Die „Gemeinde“ würde sich als Objekt der Seelsorgsstruktur dann auflösen. Wie auch immer es kommen wird: Die Grundstruktur der Pastoralen Räume bleibt auf verschiedene Entwicklungen hin offen und ist weiter formbar.

Zur Netzwerk-Idee der Pfarrei gehörte auch das Bemühen, die pastoralen Verantwortlichkeiten in Gremien und Konferenzen auf die gegebene Situation vor Ort hin variabel anpassen zu können. Zu dem Kern eines vergleichsweise kleinen „Gemeindeteams“ vor Ort können sich so je nach inhaltlicher Schwerpunktsetzung verschiedene Themengebiete hinzugesellen, die durch benannte Verantwortliche oder Konferenzen bearbeitet werden. Aus „Mandatsträgern“ sollten Engagierte werden, die die Anwaltschaft für bestimmte Anliegen und Schwerpunkte der pastoralen Arbeit übernehmen. Der Pfarrpastoralrat als zentrales Gremium hat in diesem System lediglich eine koordinierende, zuweilen auch aufsichtliche Funktion.

Die Entwicklung hat gezeigt, dass die paradigmatische Wende, die der Prozess der Pastoralen Räume für das Kirchenbild anstoßen wollte, durchaus auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Die nichtpfarrlichen kirchlichen Einrichtungen haben in der Zusammenarbeit mit den Gemeinden deutlich an Gewicht gewonnen. Die Ideen der Arbeitsteilung, Regionalisierung und Spezifizierung pastoraler Arbeit sind in die Gremienarbeit und die Stellenbesetzung hauptamtlicher Kräfte aufgenommen worden. Schwierigkeiten bereitet allerdings der Mentalitätswechsel von der mandats- zur aufgabenbezogenen Verantwortlichkeit in den Gremien. Der Versuch, die gegebene Freiheit in der Ausgestaltung pastoraler Gremienarbeit in Satzungen zu fassen, erzeugt in den Pfarreien eher das Gefühl einer Überforderung und Überregulierung. Hier muss in den nächsten Jahren deutlich nachgearbeitet werden. Vielleicht wirken aber auch hier noch die Schatten der „Volkskirche“ und „Gemeindekirche“ deutlich nach. Sie zeichneten sich in Deutschland durch eine unbezähmbare Lust an struktureller Überfrachtung aus, weil man meinte, Mitbestimmung und Beteiligung lediglich über die Schaffung möglichst großer Zahlen von Gremien zu ermöglichen. Nach meinem kritischen Dafürhalten ist dieses Modell grundlegend gescheitert, weil es dazu geführt hat,.die gemeindlichen Aktivitäten zunehmend vom praktischen Tun auf das theoretische Diskutieren zu verlagern. Gerade mit Blick auf die Zukunft und auf die abnehmende Zahl gemeindlich gebundener und engagierter Mitglieder scheint es dringend geboten, den Gremienüberbau der Pfarreien so klein wie nötig zu halten und angesichts der knapperen personellen Ressourcen, zu versuchen, mehr Energie in das apostolische Tun einzuspeisen. Die Forderungen aus dem „Synodalen Weg“, noch mehr Gremien zu installieren, folgen einem veralteten Kirchenbild. Die 1970er Jahre sollten heute nicht mehr Maßstab für das kirchliche Handeln sein. Mit Blick auf die absehbare gesamtkirchliche Entwicklung kann man die Pastoralen Räume als Übergangsform im Prozess der Transformation der kirchlichen Organisation begreifen, die auf Abbau von Strukturen ausgerichtet sein muss, um eine wirklich dynamische Kirchenentwicklung zu ermöglichen.

Beitragsbild: Inneraum von St. Ulrich, St. Peter-Ording.


[1] https://www.erzbistum-hamburg.de/ebhh/pdf/Pastorale_Raume/Pastorale_Leitlinien_Web2011.pdf?m=1476047776&.

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