Intuitiv [zu Mariä Himmelfahrt]

In meinem Urlaub ereignete sich die folgende kleine Situation: Ich fuhr mit dem Auto auf einer schmalen Landstraße. In etwas größerer Entfernung kam mir auf gerader Strecke ein Kleinwagen mit hoher Geschwindigkeit entgegen. Ich weiß nicht genau, warum es passierte, aber ich nahm in diesem Augenblick den Fuß vom Gaspedal und verlangsamte mein Tempo. Kurz bevor sich die beiden Wagen begegneten, beschleunigte mein Gegenüber, schnitt auf einmal meine Fahrbahn und zog nach links und schoss in eine einmündende Straße. Offenbar hatte der Fahrer mein Auto übersehen. Wäre dies eine Sekunde später geschehen, wäre es zu einem schweren Unfall gekommen. Der Wagen hätte mich seitlich gerammt. Wahrscheinlich hat meine kurze Tempoverzögerung den Zusammenstoß verhindert. Ich habe einen guten Schutzengel gehabt. Naturwissenschaftlich müsste man sagen, ich habe intuitiv richtig gehandelt. Ohne, dass ich groß darüber nachgedacht hatte, hatte mein Gehirn die Situation offenbar als gefährlich erkannt und meinem Körper das richtige Signal gegeben: Runter vom Gas. Hätte ich zu viel nachgedacht, wäre die Situation klar gewesen: Eine gerade Straße, an der die beiden Autos aneinander vorbeifahren können. Der andere Fahrer wäre nach den Verkehrsregeln verpflichtet gewesen, anzuhalten und zu blinken.

Es gibt also einen Unterschied zwischen intuitivem und reflektiertem Handeln. Entscheidungen können aus dem Bauch heraus oder durch Nachdenken getroffen werden. Der Naturforscher James Lovelock hat mich kürzlich in einem seiner Bücher darauf aufmerksam gemacht.[1] Er sagt: Entwicklungsbiologisch gesehen, haben wir Menschen das intuitive, also „unbewusste“ Handeln viel früher gelernt als das reflektierte. Bevor es Sprache oder Schrift gab, war es die gängigere Form, Entscheidungen zu treffen. Und er sagt, dass es gut wäre, die Bedeutung instinktiver Entscheidungen nicht gering zu achten. Lovelock zitiert Albert Einstein mit dem Satz: „Der intuitive Geist ist ein Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“ Man könnte es so übersetzen: Wir leben in einer Zeit in der wir meinen, alle Probleme durch Nachdenken lösen zu können. Wir stellen für alles Regeln und Theorien auf und vergessen dabei, dass wir in Vielem in der Lage sind, aus unserem Gefühl heraus richtige Entscheidungen zu treffen.

Ich erzähle das, weil ich glaube, dass das Fest Mariä Himmelfahrt ein ganz intuitives Fest ist. Der Glaube, dass Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, ist erst 1950 in einem feierlichen Dogma von Papst Pius XII. verkündet worden. Die theoretische und argumentative Feststellung dieses Glaubenssatzes erfolgte also erst vor 70 Jahren und wir seitdem in ihrer Begründung immer wieder angefragt. In der Tat, so sagen Kritiker, ist es ja eigenartig, dass etwas ein Glaubenssatz sein kann, das so noch nicht einmal in der Bibel steht. Tatsächlich findet sich über die Himmelfahrt Mariens in der Heiligen Schrift kein Wort. Wie kann es sein, dass dieses Ereignis im Glauben der Menschen über Jahrhunderte trotzdem schon eine Rolle gespielt hat? Das hohe Mittelalter zeigt in unzähligen Bildvariationen die Entschlafung Mariens und sie selbst in den Armen des Auferstandenen. Die hochmittelalterlichen Schnitzaltäre haben als Mittelbild häufig Jesus, der Maria in der himmlischen Herrlichkeit begegnet. Die Barockkunst hat die Himmelfahrt der Gottesmutter mit zu ihrem beliebtesten Sujet gemacht. Offensichtlich hatten die Gläubigen die Wahrheit der Himmelfahrt Mariens schon intuitiv längst erfasst, bevor sie offiziell ausgesprochen und argumentativ begründet wurde.

Das ist eigentlich kein Wunder. Wer an die Auferstehung Jesu glaubt, hat die Hoffnung, dass diese Auferstehung auch für uns Menschen zu erhoffen ist. Auch für uns kann die Macht des Todes gebrochen werden, trägt unser Leben bereits die Ahnung auf die himmlische Herrlichkeit in sich. Wenn aber Menschen vom Tod in diese Herrlichkeit gelangen können, dann als erstes doch mit Sicherheit Maria. In ihr spiegeln sich die Hoffnungen auf Erlösung und Befreiung. Maria selbst drückt das bereits aus. Sie war sicher keine Theologin oder Philosophin. Sie war ein gläubiger Mensch. In ihrem Gesang, dem Magnifikat bekennt sie ihren Glauben an die rettende Kraft Gottes. In diesem Lied drückt sich ihre Zuversicht auf die Überwindung des Leides und der Ungerechtigkeit aus. „Er [Gott] stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ Maria selbst versteht sich im Magnifikat als „niedrige Magd“ des Herrn. Aber die Niedrigkeit vor den Menschen soll durch die Hoheit Gottes überwunden werden. Die Erhöhung ist zugleich Annahme und Aufnahme bei ihm, im Leben und über den Tod hinaus.

Nehmen wir daher dieses Fest einfach so auf, als Bild der Hoffnung, der Sehnsucht und der Erwartung. Ein solches Gefühl in Worten auszudrücken oder vor anderen zu begründen ist schwer. Es selbst als Intuition in sich zu tragen ist aber leicht möglich. Wenn Gott ein Gott des Lebens ist, gilt seine Zusage an uns, auch uns dieses Leben zu schenken. Maria macht diese Hoffnung sichtbar, in der Freude über die rettende Kraft Gottes.

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[1] Lovelock, James, Novozän, München 2020, 36.

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