Kirchen besichtigen [im Urlaub]

„Ich schaue mir keine Reise-Dokus mehr an.“ Mit diesem Entschluss wartete neulich ein Freund auf. „Ich habe mir einen Bericht aus dem Burgenland angesehen. Da wurde der Besuch bei einer Bio-Winzerin gezeigt, anschließend eine Wanderroute vorgestellt, dann ging es zu irgendeinem Schloss, von wo man einen schönen Ausblick hat, dann kam ein Handwerker, der irgendwas landestypisches herstellt und schließlich noch der Blick in eine Restaurantküche mit heimischen Spezialitäten. Anschließend sah ich eine Doku aus Baden-Württemberg. Man besuchte eine Bio-Winzerin, zeigte dann den Handwerker, dann das Schloss, schließlich die Wanderroute und dann die Restaurantküche. Man fragt sich: Gibt es eigentlich noch irgendwie ein Interesse an Geschichte oder Kultur eines Landes?“ Meine These dazu ist die folgende: Es gibt zur Zeit zwei dominierende Arten des Massentourismus. Die erste Art ist der universalistische. Man fährt irgendwo hin (wo ist eigentlich egal) und macht dann das, was es überall gibt: Hotel, Strand, Wasserrutsche, Tierpark, Shopping. Die zweite Art ist die regionale. Man fährt in eine Gegend zum Wandern oder Fahrradfahren, besucht Märkte und isst und trinkt regional. Dazu kommt bei beiden noch ein Abstecher zu einigen Sightseeing-Highlights, bei denen man wegen Überfüllung froh ist, wenn man ihnen wieder entkommen kann. Mir ist das egal. Es muss jeder selbst wissen, was er im Urlaub gerne macht.

Der klassische „Kultururlaub“ der informierten Bildungsbürger ist in jedem Fall stark auf dem Rückmarsch. Diese leicht anstrengende Art, den Urlaub zugleich als ästhetische und geschichtliche Schule zu nutzen, ist aus der Mode gekommen. Wer heute noch auf den Spuren des „umbrischen Lichtes“ in Mittelitalien konsequent alle Giotto-Fresken besuchen möchte, auf den Spuren der deutschen Klassik durch Thüringen fährt oder den spezifischen Stil der Mauren in Andalusien erkundet, gehört zu einer seltenen Spezies. Das Interesse an geschichtlichen, künstlerischen oder philosophischen Zusammenhängen nimmt doch stark ab. Davon betroffen sind auch die Kirchen. Gerade an den Sakralgebäuden lässt sich eigentlich eine ideengeschichtliche und architektonische Entwicklungsgeschichte Europas am besten ablesen. Wer dafür ein Interesse hat, kann viel entdecken. Der Schriftsteller Joris Huysmanns hat in seinem „Roman“ „Die Kathedrale“ 500 Seiten auf die Besuche eines einzigen Bauwerks, der Kathedrale von Chartres verwendet. Huysmanns erwies sich dabei als Bildungsbürger ersten Ranges, indem er ausschweifend die Besonderheiten und Absonderlichkeiten mittelalterlicher Baukunst und Symbolik zusammentrug. Darüber hinaus interessierte ihn der religiöse Gehalt des Bauwerks. Er beschrieb das alltägliche Treiben der Pilger in der Kathedrale, berichtete von den Gebeten und Gottesdiensten, von Prozessionen und stiller Andacht, die er in Chartres erlebte. Was mache ich aber, wenn mir sowohl das architektonische als auch das religiöse Wissen fehlt?

Kirchen leben zur Zeit eher von ihrem Schauwert. Für Besucher attraktiv ist, was besonders ins Auge fällt. Auf dem youtube-Kanal eines amerikanischen Studenten, der ein paar Semester in Deutschland verbringt und darüber per Videokolumne berichtet, fand ich eine Episode über den Besuch des Kölner Doms. „Wow, this building is so old“. Das war die erste Info. Die zweite (im Innenraum): „Wow, this is huge!“ Die dritte Info war angesichts des Drei-Königs-Schreins: „This must have been very expensive“. Ich wusste nun über den Kölner Dom: Er ist alt, groß und es gibt einen kostbaren Gegenstand in ihm. Der Besuch der „Katakomben“ war dafür eher „disappointing“. Ehrlich gesagt, der Informationswert von Reiseführern ist häufig nicht viel höher. Wir erfahren, wie eine Kirche heißt, wie alt sie ist, wann sie geöffnet hat, was der Eintritt kostet und was auf dem Altarbild zu sehen ist. Daneben sucht man noch nach ein paar Superlativen, also Dingen wie den ältesten spätgotischen Flügelaltar, das größte Grabmal, das Chorgestühl mit den meisten Sitzen, das erste Auftragswerk von Michelangelo. Auch ausgewiesene Kunstführer bieten häufig nicht viel mehr. Sie sind meist so geschrieben, als ob die Besucher vorher noch nie eine Kirche gesehen haben. So wird auf Grundrissen verzeichnet, wo der Altar, das Taufbecken oder die Seitenkapellen zu finden sind. Das ist jetzt ein wenig polemisch. Natürlich gibt es auch immer noch ein paar Hinweise zur Baugeschichte und auf einige besondere Kunstwerke. Ich vermute einmal, dass Reiseführer so geschrieben sind, wie das Publikum es verlangt. Sie versuchen, die Reisenden nicht zu überfrachten, sondern ihnen gezielt ein paar wissenswerte Informationen und Sehhilfen zu geben. Für den Experten ist das natürlich zu wenig. Wer sich für Architektur interessiert, möchte mehr zu Baustoffen, Konstruktionen und zur spezifischen Formsprache der Entwerfer wissen. Wer es mehr mit der Geschichte hat, den interessiert, wie und warum der Bau entstand, vor welchem Hintergrund ein bestimmtes Patrozinium gewählt wurde oder welche zeitbedingten Umbauten und Überformungen des Baukörpers vorgenommen wurden. Wer Kunst liebt, freut sich über Detailstudien der besichtigten Kunstwerke, Hintergründe zu Malern und Stilen.

Nehmen wir einmal an, Sie gehören nicht zu dieser Art von Spezialisten, möchten aber eine Kirche nicht nur als Hintergrund für Ihren neuesten Instagram-Post verwenden – hier ein paar Hinweise zur Besichtigung von Kirchen.

Im Grunde brauchen Sie keinen Reiseführer. Die wichtigsten Informationen finden Sie bei historisch bedeutsamen Kirchen eigentlich immer auf Tafeln oder in ausliegenden Besucherflyern. Mit ein wenig Übung können Sie sich den Kirchenraum leicht selbst erschließen. Sie folgen den Stilmustern der großen Bauepochen. Es ist also ganz hilfreich zu wissen, ob man es mit einem im Kern romanischen, gotischen, barocken, klassizistischen, neo-gotischen, modernen oder postmodernen Gebäude zu tun hat. Das ist manchmal nicht so einfach zu erkennen. Gerade alte Kirchen sind im Laufe der Zeit immer wieder nach dem Geschmack der jeweiligen Zeit umgestaltet worden. Viele wurden erweitert und renoviert. Meist treffen die Besucher auf Mischformen. Der Dom von Trier zum Beispiel gehört zu den ältesten Bauwerken Deutschlands. Sein Kern stammt noch aus römischer Zeit, wurde aber ab dem 10. Jahrhundert nach romanischer Bauweise umgebaut. Die Osttürme sind im 14. Jahrhundert in gotischer Bauweise hinzugebaut worden, ebenso der Kreuzgang. Im 17. Jahrhundert wurde eine barocke Erweiterung, die sogenannte „Heiligtumskammer“ ergänzt. Auf die barocke Phase folgte im 19. Jahrhundert eine Grundrenovierung nach neugotischem Geschmack. Bis zuletzt sind immer wieder Umgestaltungen erfolgt. Die Altarinsel, also der Platz des freistehenden Volksaltars wurde 1974 geschaffen. Dieser Teil ist in eigentlich allen katholischen Kirchen, die später als 1968 gebaut wurden immer eine moderne Ergänzung.

Das erste, was ich häufig tue, wenn ich eine Kirche betrete, ist, dass ich einen Eindruck vom Gesamtraum gewinne. Ich stelle oder setze mich an das Ende der Kirche und lasse den Raum auf mich wirken. Dann beginnt eine erste Orientierung. Ich versuche, die verschiedenen Baustile zu identifizieren und mir eine Vorstellung vom Alter der Kirche, von ihren Umgestaltungen und Erweiterungen zu machen. Dann gehe ich langsam zum Altarraum vor. Ich bleibe an Stellen mit ansprechenden Sichtachsen stehen. Das zentrale Altarbild gibt bei katholischen Kirchen häufig Aufschluss über das Patrozinium (also die Widmung der Kirche). Anschließend geht es an die Einzelheiten. Ich versuche die wichtigen Kunstwerke zu identifizieren. Das können einzelne Glasfenster sein, Mosaiken oder Fresken, das Chorgestühl, manchmal auch einzelne Gemälde oder Figuren. Ich schaue mir nie alles an. Gerade die reich ausgestatteten Kirchen in Italien oder Spanien verfügen über eine nicht selten erdrückende Fülle an Altären, Bildern, Ornamenten, Grabmäler, Ausstattungsgegenständen, Mosaiken oder Malereien. Ich sehe mir natürlich besonders berühmte Dinge an, sofern es sie gibt, suche mir darüber hinaus aber auch immer ein persönliches Lieblingsstück, das mir ins Auge fällt. Vor diesen ausgewählten Bildern, Bauelementen oder Gegenständen bleibe ich dann gerne stehen. Wenn ich eine Kamera bei mir habe, suche ich nach besonderen Perspektiven, insbesondere des Lichteinfalls. Das ist gerade bei Buntglasfenstern eine schöne Übung.

Zu meinen persönlichen Lieblingsbeschäftigungen gehört darüber hinaus die Entschlüsselung von Bildprogrammen. Gerade die Mosaik- oder Freskenzyklen alter Kirchen verfolgen in der Regel eine bestimmte Aussageabsicht. Am gängigsten ist das Schema „Sündenfall und Erlösung“, das etwa am frühmittelalterlichen Portal des Hildesheimer Doms zu finden ist, an dem die Szenen des Paradieses und der Passion und Auferstehung Jesu einander gegenübergestellt werden. In mittelalterlichen Fenstern findet sich gerne ein Durchgang durch die biblischen Erzählungen. Zentral sind dabei meist die Szenen der Menschwerdung (und des Marienlebens), sowie der Erlösung (Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt, Pfingsten). Auch die Endzeit fließt in das Bildprogramm ein. Ein eindrucksvolles Beispiel ist die Kathedrale von Orvieto, die den gesamten Portalbereich mit Bildtafeln zum Endgericht ausstattet und dieses Thema in der „Capella di San Brizio“ in prächtigen Renaissance-Fresken noch einmal wiederholt. Es finden sich aber auch Zyklen mit alttestamentlichen Erzählungen, etwa ein Mose- oder Prophetenzyklus. Bildprogramme erzählen gerne Heiligenlegenden wie etwa der Zyklus mit dem Leben des Heiligen Franziskus in der Basilika von Assisi. Es finden sich aber auch ungewöhnliche Motive. Die Krypta des Doms von Anagni in Mittelitalien wartet z.B. mit einer merkwürdigen Darstellungen alttestamentlicher Kriegs- und Kampfszenen auf. An der bemalten Decke der Heilig-Geist-Kirche in Wismar befinden sich eher ungewöhnliche Erzvätererzählungen. Der aus der Römerzeit stammende Mosaikfußboden der Kathedrale von Aquileia enthält römische Motive, die allegorisch auf das Christentum ausgedeutet werden. Im Hamburger Mariendom findet sich ein Zyklus moderner Glasfenster zu Prophetenworten. Auch moderne Kirchen enthalten oft mehr an programmatischen Aussagen, als man es manchmal auf den ersten Blick für möglich hält.

Der zweite Aspekt, der mich interessiert, ist der religiöse. Ich versuche, die geistliche Aussage des Ortes zu verstehen oder mir zu erschließen. Viele Kirchen wurden zu bestimmten Zwecken errichtet. Neben den Bischofskirchen gibt es viele Klosterkirchen oder Gotteshäuser, die religiösen Orden als sprechende Evangelien für die Verkündigung dienten. Einige sind Grablegen regionaler Heiliger, andere Privatkapellen. In Rom etwa ließen häufig reiche Familien Seitenkapellen als Grablegen für die Angehörigen ausbauen. In anderen Kirchen spiegelt sich die Stadtgesellschaft. In den Fenstern des Freiburger Münsters z.B. haben sich die Handwerkszünfte verewigt. Sie spendeten häufig auch Altäre oder Bilder, in denen sie ihre Schutzheiligen oder bestimmte biblische Szenen darstellten, die mit ihrer Gemeinschaft assoziiert wurden. Andere Kirchen wurden aufgrund eines Gelübdes errichtet oder wollten eine bestimmte religiöse Idee propagieren. Ein bekanntes Beispiel ist die „Sagrada Familia“ in Barcelona, die ursprünglich eine Votivkirche (also „Ideenkirche“) zur Förderung der Verehrung der Heiligen Familie sein sollte und zudem den Charakter eines katalanischen Heiligtums trägt, also von nationalen Ideen beeinflusst ist. Diese Ideengeschichte lässt sich in vielen Kirchen verfolgen. Viele sind aber auch einfache Pfarrkirchen, errichtet, um einer vor Ort entstandenen Gemeinde in einem Viertel ein Gotteshaus zur Verfügung zu stellen. Mich interessieren die Spuren der vergangenen, aber auch der gegenwärtigen Frömmigkeit. Nicht jede religiöse Idee bleibt erhalten. Die Ordensleute sind häufig nicht mehr zu finden, Riten und Gebräuche haben sich verändert. Wo schlägt in einer Kirche das „geistliche Herz“? In Assisi lässt sich das gut beobachten. So kunsthistorisch bedeutend die Fresken der Basilica di San Francesco sein mögen, das geistliche Zentrum ist die Grabkapelle des Heiligen in der zweiten Unterkirche, die erst im 19. Jahrhundert errichtet wurde und kunsthistorisch eher unbedeutend ist. Der beste Ort zum Gebet muss nicht durch den Kirchenraum vorgegeben sein. Es kann eine Seitenkapelle sein, ein Gnadenbild, eine Krypta, ein Heiligengrab, manchmal auch der Kreuzgang oder ein Ort im Außenbereich. Mich zieht es zu diesen Orten hin. Ich bleibe zum Gebet, manchmal aber auch nur zur Stille dort stehen oder sitzen.

Zum dritten, aber das ist eher so etwas wie ein berufliches Interesse, schaue ich mir immer noch die Plakate und Auslagen an. Eine Gottesdienstordnung sagt häufig schon viel über die heutige Bedeutung einer Kirche aus. Noch mehr sagt die Teilnahme an einem Gottesdienst. Aber auch sonst interessiert mich, welche Gebete auf Zetteln vorgeschlagen, welche Bücher oder Schriften angeboten werden, wer die Mitarbeiter einer Gemeinde sind, auf welche Veranstaltungen aufmerksam gemacht wird. Dieser Blick in das Leben vor Ort schließt in der Regel meinen Kirchbesuch ab. Was haben Sie also nach dem Besuch einer Kirche gesehen? Einen großen, prächtigen Raum, durch den man schnell mit dem Handy in der Hand für ein paar Aufnahmen hindurchgegangen ist? Manchmal ist es nicht mehr. Nicht jede Kirche spricht mich an. Nicht jede Kirche ist interessant. Sie müssen von bestimmten bedeutenden Kathedralen nicht unbedingt begeistert sein, auch wenn die Reiseführer auf diese die meisten Seiten verwenden. Manchmal ist die kleine Pfarrkirche in der Seitengasse viel gewinnbringender. Für mich ist der Besuch von Kirchen nicht so sehr eine Frage des Kopfes. Ich freue mich, wenn ich angeregt und erbaut aus einem solchen Gebäude gehen kann. In der Rückschau ist es weniger ein Gesamtbild, als ein Detail, das in meinem Gedächtnis haften bleibt. Ein bestimmter Blickwinkel, ein einzelnes Kunstwerk, ein guter religiöser Moment, ein Nebenraum oder der Blick in das Gewölbe. Anhand solcher „Marker“ identifiziere ich später, wo ich gewesen bin. Wegen dieser Dinge kehre ich gerne wieder dorthin zurück – und entdecke manchmal Neues.

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