In der Nähe waren Höhlen. Die kleine Reisegesellschaft, zu der ein junger Dichter gehörte, machte Rast in einem Dorf. Dort traf sie auf mehrere Bergmänner. Einer von ihnen, reich an Erfahrung und Alter bot sich ihnen an, die Höhlen zu zeigen. Man willigte fröhlich ein, teils aus Neugier, teils aus Interesse, mehr über das Leben der Bergarbeiter zu erfahren und von ihrer verborgenen Arbeit unter Tage. So marschierten die Gefährten am nächsten Tag langsam auf das Bergmassiv zu, das sich steil vor ihnen erhob. Zwischen schroffen Felsen entdeckten sie den Eingang in das Innere des Berges.
Friedrich von Hardenberg, der sich den Künstlernamen „Novalis“ gegeben hatte, schildert diese Begebenheit in seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“. Als die Reisegesellschaft die Höhlen erreicht, wird sie auf eine frische menschliche Spur aufmerksam, die in den Berg hineinführt. Die Männer folgen ihr. Sie betreten die erste Grotte und vernehmen einen leisen Gesang, der tiefer aus dem Inneren des Berges kommt. Ein zartes, leises Gedicht ist es, das ihnen zuschwebt, ein Gedicht über die Vergänglichkeit des Lebens. Hier, tief im Felsen finden sie im Halbdunkel einer Grotte einen Schreibtisch. Eine Ritterrüstung hängt an der Wand, ein Grabmal ist aufgerichtet, auf dem Boden stapeln sich Bücher. Ein Mann unbestimmten Alters sitzt dort und nimmt sie freudig in Empfang. Einst habe er, so sagt er, ein abenteuerliches Leben geführt, als Ritter manchen Kampf gefochten, doch nunmehr seinem alten Leben entsagt. Er sei Einsiedler hier im Schoß der Felsen geworden. Seine Aufgabe sei es, die Geschichte zu erforschen und sie neu aufzuschreiben. Als junger Mann habe er in der Geschichte eine lose Folge von Ereignissen gesehen. Als alter Mann sei er nun in der Lage, ihren Sinn zu begreifen. Die Höhle sei wie ein Heiligtum, in der ein Schein göttlichen Lichtes ihn zu neuer Erkenntnis treibe, so dass der Geist, wie zu Beginn der Schöpfung, gleichsam neu über den Wassern schwebe. Als Heinrich, der junge Dichter aus der Reisegruppe eines der alten Bücher des Einsiedlers zur Hand nimmt, erkennt in ihm seine eigene Geschichte, in fremder Sprache geschrieben, aber mit Bildern, die seinen Lebensweg nachzeichnen. Sein Leben wird hier in die große Weltgeschichte eingeschrieben. Die letzten Seiten des Werkes allerdings sind leer.
Der Fels trägt das Geheimnis des Lebens. Hier in der häufig so unzugänglichen Tiefe der Erde, wo der bunte Edelstein wächst, ist der Hort der göttlichen Weisheit (vgl. Hiob 38). Das Geheimnis der Schöpfung liegt im Felsen verborgen. Die Tiefen der Erde werden im Buch der Psalmen zum Ursprungsort meiner eigenen Geschichte: „Dir waren meine Glieder nicht verborgen, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewirkt in den Tiefen der Erde. Als ich noch gestaltlos war, sahen mich bereits deine Augen. In deinem Buch sind sie alle verzeichnet: die Tage, die schon geformt waren, als noch keiner von ihnen da war“ (Ps 139,15f.). Der Felsen und das Buch: Mein Leben in Gottes Hand vom Anfang bis zum Ende.
Am Ende seines Lebens wird Jesus vom Kreuz abgenommen und in den Felsen gelegt. Ein schwerer Stein versiegelt die Grabhöhle. Die Tiefen der Erde umschließen Jesus. Gott, der in der Bibel selbst immer wieder „Fels“ genannt wird, nimmt ihn zu sich (vgl. Dtn 5,32, 2Sam 22,3, Ps 31,3). Der Kampf ist gekämpft, die Rüstung abgelegt. Aus den vielen Ereignissen des Lebens Jesu wird Geschichte. Erfüllt vom Strahl des göttlichen Lichtes schwebt der Geist erneut über dem Wasser und wird neu schaffen was war, neu beginnen, neu erzählen. Die Geschichte erneuert sich. Alte Osterbilder zeigen den Auferstehenden, wie er aus dem Grab steigt. Im Fels hat sich eine Lücke aufgetan. An seiner Hand führt Christus Adam und Eva. Die große Zahl der Verstorbenen folgt ihnen. Die Unterwelt ist geschmolzen. Der Fels gibt das Leben wieder frei. Die Geschichte der Schuld wird zu einer Geschichte des Heilung. Die Geschichte des Todes wird zu einer Geschichte des Lebens. Gewoben in den Tiefen der Erde ersteht das Leben neu.
Gingen wir in die Höhle, fänden wir dort das Buch unseres Lebens. Es ist da, als Teil der neuen Geschichte. Wir blättern zurück und sehen den Lauf unserer Zeit. Wir schauen auf unsere Wanderungen und Kämpfe, unser Glück und unsere Enttäuschungen, auf das eigene Versagen, wie auf das eigene Gelingen. Das ist mehr als eine Ansammlung von Begebenheiten, sondern eine Geschichte. Wir können sie vielleicht noch nicht lesen, aber sie liegt hier vor uns. Die letzten Seiten des Buches sind leer. Aber hier, am Ostertag, weiß ich, dass all dies zum Guten führen soll, all dies getragen wird von der liebenden Kraft Gottes, die mich umfängt. Der Stein ist weggerückt, der Weg frei, das zu sehen und zu begreifen. Die Höhle ist ein Ort der Weisheit und Erkenntnis. Aus ihr treten wir hinaus in das Licht des neuen Tages.