Spontane Entscheidungen sind manchmal die besten. So hatte ich an einem Nachmittag vor einigen Jahren eine solche Entscheidung getroffen. Es war zu der Zeit, als ich im Rheinland wohnte. Nach mehreren Tagen, die ich im wesentlichen an meinem Schreibtisch verbracht hatte, überkam mich der dringende Wunsch, etwas Schönes zu unternehmen. Da entdeckte ich, dass gerade an diesem Abend in der Bonner Oper eine Aufführung der „Zauberflöte“ gezeigt wurde. Der kurze Blick auf die Uhr verriet mir, dass es zeitlich eigentlich schon etwas zu knapp war, um noch rechtzeitig in Bonn zu sein. Trotzdem entschied ich mich spontan, kaufte eine Karte und machte mich auf den Weg. Alles lief gut und ich hoffte, etwa 10 Minuten vor Beginn an der Oper zu sein. Von Süden führt ein große vierspurige Straße in die Stadt hinein. Als ich diese erreicht hatte, geschah es: Vor mir bog ein Hochzeitskonvoi auf die Hauptstraße ein. So etwas hatte ich noch nie erlebt. In langsamer Fahrt setzten sich die Autos nebeneinander und blockierten alle Spuren der Hauptstraße. Aus den heruntergelassenen Fenstern der Autos kam dröhnend laute Musik. Ausgelassene Hochzeitsgäste lehnten sich aus den Fenstern, johlten und hielten Sektflaschen in die Luft. Es gab keinen Weg an ihnen vorbei. Die Zeit saß mit im Nacken. „Bleib ganz ruhig“, dachte ich. Aber die Wut ließ sich nicht mehr bremsen. Ich wurde aggressiv, schimpfte, fuhr dicht auf die Hochzeitsautos vor mir auf, hupte und drängelte. Die Leute vor mir nahmen davon keine Kenntnis. Sie machten die Straße nicht frei. Das machte mich noch wütender. Zum Glück trennten sich unsere Wege. Ich kam sogar noch rechtzeitig an. Im Nachhinein habe ich mich gefragt: „Was ist da in dich gefahren?“, „Warum konntest du nicht gelassen bleiben?“, „Warum hast du dich dazu hinreißen lassen, dich so unbeherrscht zu benehmen?“. Ich hätte das nicht tun sollen!
Das kennen Sie wahrscheinlich auch. Dieser Gedanke „Ich hätte das nicht tun sollen“ verursacht ein schlechtes Gefühl. Es ist das Gefühl einer Niederlage. Dieses „Sollen“ ist eigenartig.[1] Es formuliert einen Anspruch einer höheren Instanz. Es ist anders als „Müssen“. Beim „Müssen, bin ich gezwungen, etwas zu tun. Es ist etwas anderes als „Wollen“. „Sollen“ ist der Moment der Entscheidung. Zu wissen, was ich tun soll, heißt noch nicht, es auch zu tun. „Sollen“ sagt mir, was eigentlich gut wäre. Das „Gesollte“ zu machen, heißt, sich in diesen Anspruch des Guten zu fügen. Das „Gesollte“ nicht zu tun, ist ein Akt des Widerstands, meist ein Widerstand gegen das Gute. Kein gutes Gefühl.
Peter Fox hat zu diesem Gefühl einen Songtext gemacht[2]:
„Du guckst dir zu und hörst dich reden.
Du bist grad sensationell daneben.
Versuchst vom Gas zu gehen, dein Fuß ist grad gelähmt.
Du siehst die Wand und fährst dagegen.“
Du sollst etwas nicht tun und machst es doch. Du lässt dich hinreißen von deiner Wut, von deiner Traurigkeit, von deiner Aggression. Du hast dich nicht mehr im Griff. Der Sänger findet für diesen Zustand ein Bild:
Ein Biest lebt in deinem Haus
Du schließt es ein, es bricht aus
Das gleiche Spiel jeden Tag
Vom Laufstall bis ins Grab
Denn es steckt mit dir unter einer Haut
Und du weißt, es will raus ans Licht
Die Käfigtür geht langsam auf und da zeigt es sich:
Das zweite Gesicht.
Ein Biest wohnt in meinem Haus – „Das bin doch nicht ich, der da gerade handelt“. Dieses „Biest“ ist eine Schattenseite, ein verborgenes Wesen, ein falsches „Ich“, ein Widergeist, der über mich Macht hat. In antiker Sprache heißt so etwas „Dämon“.
Als Jesus in der Synagoge von Kafarnaum predigt, sind die Menschen von seiner Lehre betroffen (Mk 1,21-28). Er lehrt sie mit göttlicher Vollmacht. Das bedeutet: Er überzeugt sie. Sie wissen, dass sie ihm eigentlich folgen sollten. Sie wissen instinktiv, dass er die Wahrheit sagt. Sie wissen, was sie tun sollen: Ihm weiter zuhören, seine Lehre annehmen, ihn als Autorität akzeptieren, ihm sein Leben anvertrauen. Was das Richtige, was das Gute wäre, wissen sie. Aber werden sie das „Gesollte“ auch tun? Es ist der Punkt der Entscheidung. Kein Wunder, dass sich gerade hier der Widergeist regt. „Was haben wir mit dir zu tun?“ „Bist du gekommen, um uns ins Verderben zu stürzen?“ Der widerständige Geist weiß, was ihm blüht. Er wird keine Macht mehr haben. Der Widerstand wird gebrochen. Der böse Geist ausgetrieben. Das Biest verschwindet. Das Gute soll die Oberhand haben.
Was gesollt ist, ist bei Jesus zugleich das, was gut für uns ist. Darin liegt die göttliche Vollmacht. Es ist auch zu wollen. Darin liegt die Herausforderung. Es trifft mich der Anruf des Guten – wie werde ich mich entscheiden? Der Kampf mit den inneren Widerständen bleibt. Es braucht Übung im Umgang mit ihnen. Es braucht eine klare Vorstellung vom Guten. Wer erkannt hat, welcher Stimme er vertraut, wer ihn verlässlich zu einem guten Leben führen will, der wird handlungssicher. Meine schwankenden Gefühle bleiben. Sie fordern mich heraus. Aber ich mache die gute Erfahrung, ihnen nicht nachgeben zu müssen. Der Zorn, die Aggression, die Verzweiflung, die Trauer sollen keine Macht über mich gewinnen, sie sollen sich nicht in meinem Innern einnisten. Sie sollen durch das Gute überwunden werden.
[1] Eine kurze Phänomenologie des Sollens bei: Jörg Splett, Der Mensch ist Person, Frankfurt 1978, 42-61.
[2] Peter Fox, Das zweite Gesicht: https://www.youtube.com/watch?v=1QFl0mDF-Zw&list=OLAK5uy_lusirbBTWVkQ6qpY1xQljqfxhb-tnOqo0&index=5.