Hier wohnst du also?

Das Privatleben eines Menschen liegt meist außerhalb des Sichtfeldes. Es erregt daher Neugier. Geben Sie den Namen eines Stars in ihre google-Suchmaske ein, zeigt diese ihnen die häufigsten Anfragen, die zu diesem Namen gestellt werden. Schreiben Sie z.B. „Lionel Messi“ würden Sie vielleicht erwarten „Lionel Messi Barcelona“, „Lionel Messi Nationalmannschaft“ oder „Lionel Messi Champions League“. Stattdessen sind die top-Anfragen: „Lionel Messi Vermögen“, „Lionel Messi Größe“, „Lionel Messi Frau“, „Lionel Messi Haus“. Die User interessiert offensichtlich der Blick hinter die Kulissen. Wer ist Lionel Messi, vor allem, wie ist er privat? Deshalb überrascht es nicht, dass bald unter den Top-Anfragen auftaucht: „Lionel Messi Instagram“. Instagram? Wer von uns über 30 ist, wird mit „Instagram“ wenig anfangen können. Instagram ist eine Internetplattform. Vielleicht kann man sagen, es ist der zur Zeit meistgenutzte Kanal zur Selbstvermarktung. Mehr oder weniger bekannte Menschen nehmen uns in ihr Privatleben mit oder zumindest in das, was sie davon präsentieren möchten. Es ist ziemlich normal geworden, die ganze Welt am eigenen Leben teilhaben zu lassen, vormals geschützte Bereiche sichtbar zu machen. Der Normalbürger als Darsteller in seinem eigenen Leben. Menschen präsentieren, was sie heute gemacht haben, filmen sich beim Training, beim Spazierengehen, beim Reisen, beim Aufstehen am Morgen, beim Kochen, bei der Party mit Freunden, in der U-Bahn, beim Shoppen, erzählen von ihren Partnern, von Freunden, von ihren Hunden, ihren Hobbies, ihren Krankheiten, ihren Lieblingswitzen, ihrem Intimleben, ihren Ansichten, ihren Familien. Das ist in der Regel sehr indiskret, bringt aber Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeit bringt Werbung und Werbung bringt Geld. Je mehr Geld es bringt, desto inszenierter die Performance. Je besser die Performance, desto größer die Aufmerksamkeit. Der Instagram-Account ist ein Theater. Das Stück: Mein Leben, die Hauptperson: Ich. Das Versprechen ist: Ich zeige dir mein Leben, ich bin interessant, ich bin nachahmenswert. Ich vermute, dass sich eifrige User in den Wohnungen ihrer Stars, in deren Gedankenwelt und Familie manchmal besser auskennen, als im Leben ihrer Großeltern.

Die Frage „Wo wohnst du?“ aus dem Evangelium kann leicht so verstanden werden: Wo wohnst du, wie lebst du, wer bist du, was machst du so privat? „Kommt und seht“ – hier ist mein Instagram-Kanal. „Kommt und seht“, oder social-media mäßig besser: „I show you, guys“ – und schon hatte Jesus seine ersten Follower, also Leute, die ihm nachfolgten. Es kann gut sein, dass hinter der Frage „Wo wohnst du?“ durchaus eine Neugierde steckt, oder zumindest ein Interesse. Die späteren Jünger, die zu Jesus kommen, interessieren sich für ihn und wollen mehr von ihm erfahren. Zugleich darf man diese Frage sicher nicht mit einem „Instagram“-Programm vergleichen. Es geht hier immer noch um Ereignisse in der wirklichen Welt. Und es geht um mehr als ein bloßes Interesse. In der Frage „Wo wohnst du?“ steckt ein Risiko, das die Jünger offenbar bereit sind einzugehen.

Die Stelle im Ganzen:

In jener Zeit stand Johannes wieder am Jordan, wo er taufte, und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus. Jesus aber wandte sich um, und als er sah, dass sie ihm folgten, fragte er sie: Was wollt ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht! Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde. Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Messias heißt übersetzt: der Gesalbte – Christus. Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels – Petrus. (Joh 1,35-42)

Stellen wir uns eine andere Begegnung vor. Denken wir an eine Familie. Der Sohn ist vor Kurzem zu Hause ausgezogen und lebt in einer WG in einer anderen Stadt. Seine Mutter kommt ihn das erste Mal besuchen. Sie freut sich auf die Begegnung und ist neugierig, wie sich der Junge in der Ferne so macht. Sie kennt ihn ja von zu Hause gut genug. Das wird bestimmt eine interessante Erfahrung: „Junge, ich bin gespannt, wie du so lebst“. Sie fährt in die fremde Stadt, wird freundlich empfangen. Es ist fast wie immer. Nur zum Friseur könnte der Sohn mal gehen, denkt sie, als sie ihn wiedersieht. Sie gehen in ein etwas heruntergekommenes Viertel. Altbauwohnung, vierter Stock. „Na, dann komm mal rein, Mama!“ Hinter der Tür zur Wohnung laute Musik. Schuhe stapeln sich am Eingang. Im Flur: Zigarettenrauch, Poster an den Wänden, eine nackte Glühbirne hängt von der Decke. „Wir haben extra aufgeräumt“. In der Küche eine Mitbewohnerin, offenbar gerade aufgestanden. Ein Junge mit Kippe im Mund dreht sich zu ihr um. Benutzte Kaffeetassen auf dem Tisch, angebrochene Nudelpakete, in der Schüssel Salat von gestern oder vorgestern. „Leute, das ist meine Mutter“. Eine kurze Begrüßung, dann schnell ein paar Worte über das, was irgendwer irgendwem gestern in der Mensa gesagt hat. „Schönen Besuch!“ – und die Truppe zieht sich zurück. „Schön habt ihr’s hier“, sagt die Mutter und gleichzeitig denkt sie: „Wo bin ich hier nur hingeraten?“.

Den Rest des Besuches können Sie sich vorstellen. „Wo wohnst du?“ – das war ein Risiko. Hinter dieser Begegnung steht ein Schmerz, ein Abschiedsschmerz. Es wird Tränen geben. Der Sohn wohnt nicht nur woanders, er ist auch anders geworden und vor allem, es wird nicht mehr sein wie vorher. Der Sohn von früher wird langsam Geschichte. Es ist schmerzhaft, das wahrzunehmen, das zuzulassen. Die Schwelle zur Wohnung war der Eingang in eine neue Erfahrung, in eine irritierende dazu.

„Wo wohnst du“; „Kommt und seht“; „Da gingen sie und sahen, wo er wohnte“. Drei kurze Sätze, um einen großen Schritt zu tun, der das Leben verändert. Das Mitgehen, das Schauen, Hineingenommen zu werden in das Leben Jesu verändert den Menschen, der sich darauf einlässt. Von den Jüngern heißt es, sie blieben an diesem Tag bei ihm. Sie haben ihren Wohnort, ihr Leben gewechselt. Es ist ein Schritt in das Leben Jesu, der ihr Leben von einem auf den anderen Tag verändert, verwandelt, der Abschied von dem was war. Es ist bis heute die Erfahrung von Menschen, die diesen Schritt des Glaubens gehen oder gegangen sind. Ihr eigenes Leben sortiert sich neu, sie nehmen die Welt anders wahr, deuten sie anders. Und doch ist es offenbar ein guter Schritt. Wer traut sich, das Risiko einzugehen?

4 Kommentare zu „Hier wohnst du also?

  1. Google bietet an, was es meint vorher bei dem Googelnden an Interessen wahrgenommen zu haben. Zum Vergleich: Bei mir erschien unter Lionel Messi: Barcelona, F.A.Z., Wikipedia, Weltfussball, News …
    Das ist das für mich so Unheimliche …wie weit wir schon durchleuchtet sind …

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      1. Nun, das glaube ich sofort. Es soll. so sein, dass Google aus dem Surfverhalten bestimmte Schlüsse zieht, die natürlich vollkommen daneben liegen können. Algorithmen eben .😯

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