„Werden Sie alt – es lohnt sich!“ Mit diesem Appell überraschte Heinz Rühmann die Zuschauer der Sendung „Wetten dass“ Anfang der 90er Jahre. Es war ein ungewöhnlicher Fernsehauftritt. Der damals neunzigjährige Schauspieler gab sich keine Mühe, sein Alter zu verbergen. Er lief mit einem Gehstock, machte aus seiner Schwerhörigkeit kein Geheimnis und hatte auch darauf verzichtet, sich die Altersspuren aus seinem Gesicht schminken zu lassen. Vielleicht sah er es als seine Aufgabe, Werbung für das Altern zu machen. Er galt damals als Vorbild für ein Altern in Würde, strahlte Ruhe, Gelassenheit und Zufriedenheit aus. So alt werden wie Rühmann – das konnte man sich tatsächlich vorstellen. Ob das Bild, dass von Rühmann vermittelt wurde mit seinem wirklichen Lebensgefühl übereinstimmte, wissen wir nicht. Bei einem Mann, der sein Leben lang vor der Kamera gestanden hat, darf man zumindest vermuten, dass ein solcher Auftritt in der damals größten Fernsehsendung Deutschlands nicht ohne Planung und Inszenierung erfolgt. Wenn es so war, dann war es zumindest eine gute Inszenierung. Im Gegensatz zum anderen Fernsehgreis der damaligen Zeit, Johannes Heesters, verkörperte Rühmann die Würde des Alters glaubhaft. Heesters hingegen wollte den Eindruck erwecken, auch als Hundertjähriger immer noch in der Blüte seiner Jahre zu stehen. Er versuchte, seine große Zeit als Operettenstar bis zum Tod zu kultivieren, stand noch mit 102 Jahren im „Weißen Rössel“ auf der Bühne und verkündete, weiterhin ein Frauenschwarm zu sein. Die Wirklichkeit sah wohl etwas anders aus. Ein Fernsehmoderator (ich glaube, es war Thomas Gottschalk) erzählte einmal in einem Interview, er habe in einer großen Gala, in der Heesters für sein Lebenswerk geehrt wurde, die Aufgabe gehabt, dafür zu sorgen, dass dieser zwar seinen großen Auftritt bekomme, aber nach Möglichkeit nicht selber sprechen solle. Offenbar wussten die Fernsehmacher nur zu gut, dass der scheinfitte Greis in Wahrheit schon nicht mehr ganz Herr seiner Sinne war. Eine spontane Rede wäre womöglich peinlich geworden.
In gewisser Weise stehen die beiden eben erwähnten Schauspieler für zwei Idealbilder des Alterns. Rühmann verkörperte den würdigen, weisen und gelassenen Alten, der als Ratgeber gefragt ist und durch seine Lebenserfahrung mit Abstand und Güte auf die Welt schaut. Heesters erfüllte eine andere Hoffnung, nämlich die , einigermaßen unbeschadet durch das Leben zu kommen und bis uns hohe Alter noch fit, viril, unternehmenslustig und gesund zu bleiben. Seine implizite Botschaft war: „Ich lasse mir doch vom lästigen Alter das Leben nicht vermiesen.“ Beide Ideale des Alterns gelten auch heute sicher als erstrebenswert. Aber man muss vorsichtig sein, nicht allzu idealisierend vom Alter zu sprechen. Ideale lassen sich so gut wie nie erreichen. Die Versuchung alter Menschen, in die ein oder andere Rolle zu schlüpfen, verdrängt, so mein Eindruck, auf der anderen Seite den teuren Preis, um den solche Rollenbilder erkauft werden müssen. Ich erinnere mich noch gut an ein langes Gespräch mit einer Verwandten. Sie hatte die 80 bereits überschritten und galt uns in gewisser Weise als „vorbildliche“ Alte. Sie war lebenslustig, charmant und aktiv und zugleich eine gute Gesprächspartnerin und Ratgeberin. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie mir: „Täusche dich nicht. Das Alter ist furchtbar. Spätestens mit 70 fangen die Zipperlein an. Du merkst, dass du längst nicht mehr das leisten kannst, was du früher mit Leichtigkeit geschafft hat. Immer zwickt es irgendwo. Eigentlich tut es dir im Körper immer an der einen oder anderen Stelle weh. Wenn du noch voll am Leben teilhaben möchtest, erfordert das eine hohe Selbstdisziplin. Das Aufstehen dauert bei mir häufig eine Stunde. Ich muss meinen Körper mit starkem Willen dazu bewegen, die liegende Position zu verlassen, schleppe mich in winzigen Trippelschritten zum Badezimmer und es dauert lange, bis mein äußerer Mensch akzeptiert hat, die normalen Bewegungsabläufe und Arbeiten zu vollziehen.“ Ich weiß nicht, ob das eine typische Erfahrung ist. Ich glaube aber, dass die aufgezwungene Langsamkeit, verbunden mit dem hohen Energieaufwand zur Aktivierung der geistigen und körperlichen Kräfte zu den größten Herausforderungen zählt, die das Alter mit sich bringt, selbst dort, wo es von schweren Krankheiten verschont bleibt.
Biblisches Altwerden
Ich habe den Eindruck, die Bibel wirft insgesamt ein idealisierendes Bild auf das Alter. Das ist auch nicht verwunderlich. Sie entsteht in einer Zeit, in der das Alter selten ist. Anders als in unserer Gesellschaft ist das hohe Alter, also Menschen, die über 80 Jahre erreichen, ein Ausnahmefall und gilt als ein besonderer Gunsterweis Gottes. Wer gottesfürchtig lebt, so die Verheißung, darf die Früchte seines Lebens genießen: Eine große Familie, ein Leben in wirtschaftlicher Sicherheit, eine Zunahme an Weisheit und Lebensfreude (vgl. z.B. Ps 1, Spr 17,6). Die Alten sind „Weise“, die man aufsuchen soll, um von ihnen zu lernen (Sir 6,35; 25,5-8). Es ist daher nicht verwunderlich, dass den großen Gottesfürchtigen der Vorzeit, etwa einem Noah, Abraham oder Isaak ein geradezu fantastisches Alter nachgesagt wird. Besonders die Geschichte Jakobs ist berührend. Er durchlebt bereits reich an Jahren eine große Krise, als kurz hintereinander sein Sohn Josef vermeintlich zu Tode kommt (dies ist zumindest die Version der Josef-Brüder, nachdem sie sich des kleinen Bruders in der Zisterne entledigt hatten) und seine Lieblingsfrau Rahel bei der Geburt des jüngsten Sohnes Benjamin stirbt. Das Leben des Gerechten nimmt allerdings dann eine unerwartete Wendung. Jakob bekommt nach Jahren seinen Sohn Josef wieder zurückgeschenkt, der ihm und der ganzen Familie zudem ein Leben in Sicherheit und Wohlstand verschafft. Nach vielen Jahren in Ägypten versammelt Jakob seine Söhne an seinem Totenbett, gibt jedem vom ihnen seinen Segen und eine Verheißung auf den Weg und entschläft dann, reich an Jahren im Kreis seiner Familie. So stellte man sich das Ideal eines alten Mannes vor. Die Bibel ist allerdings realistisch genug, das Alter nicht nur an einem Ideal zu messen. Das Buch Jesus Sirach etwa enthält einen Abschnitt über die Liebe zu Vater und Mutter. Der Ermahnung an die Kinder, für die Eltern auch im Alter zu sorgen, folgt eine ganz und gar nicht idealistische Einschätzung der Schwächen des Alters: „Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an und kränke ihn nicht, solange er lebt! Wenn er an Verstand nachlässt, übe Nachsicht und verachte ihn nicht in deiner ganzen Kraft!“ (Sir 3,12f.). So gilt: „Behandle einen Menschen in seinem Alter nicht verächtlich, denn auch manche von uns werden altersschwach!“ (Sir 8,6).
Das Buch Kohelet enthält ein deutliches „carpe diem“, in dem es die Jugend dazu ermahnt, ihre Kräfte zu nutzen und zu leben „nach dem, was sein Herz wünscht“, bevor die „Tage des Übels“ kommen, die Tage in denen es auf den Tod zugeht. Die Passage ist von großer dichterischer Schönheit:
Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!, ehe Sonne und Licht und Mond und Sterne erlöschen und auch nach dem Regen wieder Wolken aufziehen: am Tag, da die Wächter des Hauses zittern, die starken Männer sich krümmen, die Müllerinnen ihre Arbeit einstellen, weil sie zu wenige sind, es dunkel wird bei den Frauen, die aus den Fenstern blicken, und das Tor zur Straße verschlossen wird; wenn das Geräusch der Mühle verstummt, steht man auf beim Zwitschern der Vögel, doch alle Töchter des Liedes ducken sich; selbst vor der Anhöhe fürchtet man sich und vor den Schrecken am Weg; der Mandelbaum blüht, die Heuschrecke schleppt sich dahin, die Frucht der Kaper platzt, doch ein Mensch geht zu seinem ewigen Haus und die Klagenden ziehen durch die Straßen – ja, ehe die silberne Schnur zerreißt, die goldene Schale bricht, der Krug an der Quelle zerschmettert wird, das Rad zerbrochen in die Grube fällt, der Staub auf die Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat. (Koh 12,1-7)
In diesem Abschnitt wird eine realistische Angst vor dem Alter zum Ausdruck gebracht. Denn gerade das Alter bringt die Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens in besonderer Weise zum Vorschein. In die biblische Mainstream-Linie, nach der das Alter als erstrebenswert gilt und die Alten als „Weise“ geehrt werden, mischen sich also in den späten Schriften des Alten Testaments auch skeptische Stimmen. Die Ehrfurcht vor dem Alter bleibt erhalten, aber die Gleichsetzung von Alter und Weisheit wird nicht mehr widerspruchslos akzeptiert. Das Buch der Weisheit widmet sich der Frage der früh verstorbenen Gerechten und konstatiert: „Ehrenvolles Alter besteht nicht in einem langen Leben und wird nicht an der Zahl der Jahre gemessen“ (Wsh 4,8). Würdevolles Altern ist kein Automatismus sondern kann unabhängig von Jahreszahlen vielmehr an einer inneren Reifung und Entwicklung gemessen werden. Hohes Alter allein ist kein Garant für ein ideales Altwerden.
Diese Diskrepanz kommt auch im Neuen Testament zum Ausdruck. Die „Alten“ dort gelten als Wahrer der Tradition, sicher auch als Weise. Idealtypisch erscheinen sie in der Erzählung über die Darstellung Jesu im Tempel (Lk 2, 22-40). Als Maria und Josef ihren neugeborenen Sohn in den Tempel bringen, um das Dankesopfer für ihn zu halten, erscheinen zwei Greise, Simeon und Hannah. Sie sind nicht nur alt an Jahren, sondern durch ihren Lebensstil als „Weise“ und „Gottesfürchtige“ ausgewiesen. Da sie die Verheißungen Gottes durch ein langes frommes Leben internalisiert haben, erkennen sie in dem Neugeborenen den versprochenen Messias. Simeon, der auf den Neuanfang Gottes mit seinem Volk gewartet hat, nimmt das Kind in die Hände und preist Gott für seine Treue. Weil er das erleben durfte, so sagt er, kann er jetzt „in Frieden scheiden“, also sterben. Das Altern war hier die lange Zeit eines Wartens und Hoffens. Zugleich darf diese Form der Traditionswahrung durch die Alten auch nicht idealisiert werden. Jesus äußert sich mehrfach kritisch über die „Alten“ (Mt 5,21;33), also die Traditionsträger, die das Gesetz bis hierhin weitergegeben haben. Es kann nicht alles beim „Alten“ bleiben. Die Tradition verweigert sich dem Neuen, was in Jesus anbricht. Das häufig missverstandene Wort vom „neuen Wein in neuen Schläuchen“ (Lk 5, 38ff.) ist in Wirklichkeit eine scharfe Polemik. Der alte Wein ist „bekömmlicher“ (wie es die neue Einheitsübersetzung sagt). Das bedeutet: Die herkömmliche Form der Weitergabe der Tradition ist eingeübt und verträglich, die neue, jesuanische Auslegung, findet dagegen keine Akzeptanz. Jesus liegt im Clinch mit den „Alten“, die das Neue gerade nicht mehr akzeptieren können. Ein klassischer Konflikt, der bis heute als Generationenkonflikt auch im ganz weltlichen Bereich zu finden ist.
Was lässt sich aus dem Gesagten vielleicht für ein gelingendes Altwerden lernen? Ich denke, es ist deutlich geworden, die Ambivalenzen des Alterns zu sehen und es weder einseitig zum Schreckensbild zu machen, noch in Überschwang zum Ideal zu erheben. Ich sehe hier vier Felder: 1. Erfahrung und Weisheit, 2. Gestaltung des Generationenkonflikts, 3. Weglassen und Abgeben, 4. Umgang mit der Endlichkeit.
Erfahrung und Weisheit
Mitte der 90er Jahre zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit wurde in der Presse immer einmal wieder über ein gegenläufiges Phänomen berichtet. Während in Deutschland die Betriebe ihre Belegschaften ausdünnten und ältere Fachkräfte in die Frühpension schickten, hieß es, dass gerade ältere Arbeitskräfte in Dänemark gute Chancen hätten, Arbeit zu finden. Die Welle von Frühverrentungen trug deutliche Anzeichen von Altersdiskriminierung. Wirtschaftlich waren ältere Arbeitskräfte ein Problem. Sie verdienten oft besser als ihre jüngeren Kollegen, waren aber nicht mehr so „leistungsstrak“. Darunter verstand man, dass sie eine geringere Arbeitseffektivität besaßen, also aufgrund des langsamen Nachlassens ihrer körperlichen Kräfte mehr Erholungszeiten brauchten und gerade in physisch anstrengenden Berufen nicht mehr die gleiche Arbeitsleistung bringen konnten, wie jüngere Mitarbeiter. Zudem sagte man ihnen eine mangelnde Innovationsfähigkeit nach. Bei Lehrerinnen oder Lehrern zum Beispiel schaute man mit Skepsis auf ihre „veraltete“ Form des Unterrichts, die angesichts der sich jedes Jahrzehnt ändernden Lehrmethoden nicht mehr akzeptabel seien. Es hatte sich schlicht gesellschaftlich das Bildungsideal verändert. Dazu kam in vielen Bereichen eine zunehmende Technisierung, die es notwendig machte, beständig nachzuschulen. In Dänemark, so hieß es, setze man die Prioritäten anders. Besonders in handwerklichen Berufen würden die altersbedingten Nachteile durch die langjährige Berufserfahrung aufgewogen. Das Arbeiten in Teams benötige gerade Arbeitskräfte, die über Jahrzehnte gelernt hätten, mit Spezialfragen ihres Berufs umzugehen und die es auch beherrschten, Dinge auf „hergebrachte“, das heißt traditionelle Weise zu bearbeiten. Dies schien besonders dort wichtig, wo die neue Technik noch keine zufriedenstellenden Lösungen bot.
Diese Form der Berufserfahrung ist eine untergeordnete Form der „Weisheit“, ein Teilbereich. „Weisheit“ im biblischen Sinn ist natürlich umfassender. Sie ist eine Art Lebenskunst, die sich aus Bildung und Erfahrung speist. Das beginnt beim sozialen Verhalten, bei der Erziehung der Kinder, geht über den gewandten Umgang innerhalb der Gesellschaft bis hin zur Lebensweisheit, also der Entwicklung einer eigenen Lebensphilosophie, die sich im Laufe der Jahrzehnte ausbildet. Diese Philosophie ist kein theoretischer Diskurs, sondern eine praktische Lebensdisziplin. Sie spiegelt sich in den vielen vertrauten Sinnsprüchen der Großeltern, in ihrer Fähigkeit, Situationen einzuschätzen, weil sie sie häufig selbst schon durchlebt haben, aus eigenen Fehlern zu lernen und Verhaltensweisen, die sich bewährt haben, weiterzugeben. Die Lebenserfahrenen, also die Alten, werden so zu Gesprächspartnern, in vielen Dingen aber auch zu moralischen Instanzen. Da das Alter, wie das Weisheitsbuch deutlich gemacht hat, nicht nur eine Frage der schieren Lebensdauer ist, sondern vor allem den Prozess einer inneren Reifung beschreibt, besteht ein wichtiger Teil des Alterns sicher in der Entwicklung der Lebensweisheit. Das allerdings setzt Konstanz voraus. Erfahrung besagt ja gerade, dass ich mich auf meinem Gebiet, etwa in meinem Beruf, in der Ehe, in meiner Familie, in einem Fachbereich (etwa dem Gärtnern, Kochen, Sport, meinem Heimatort, der Literatur u.ä.) schon sehr lange bewege. Wer die Sprunghaftigkeit kultiviert und sein Leben als ewiges Experiment versteht, wird diesen Reifungsprozess nicht durchmachen können. Die Sprunghaftigkeit, heute das eine zu sagen und nächstes Jahr unter dem Einfluss anderer Personen oder Lektüren das Gegenteil, ist eigentlich ein Privileg der Jugend. Auch heute lässt sich die Attraktivität eines in diesem Sinne jugendlichen Stils auch im Alter hin und wieder beobachten, wenn behauptet wird, man könne ständig sein Leben neu beginnen, auch im Alter noch einmal eben den Freundeskreis, den Beruf, die Familie wechseln. Wer so lebt schreibt in seinem Leben Kurzgeschichten, aber wahrscheinlich keine zusammenhängende Erzählung. Das ist auch kein großes Problem, wenn ein solcher Lebensentwurf im Alter nicht zum lamoryanten Beweinung der vergebenen Chancen führt. Das Ideal der Weisheit ist im Modus der Beständigkeit deutlich glaubhafter.
Gestaltung des Generationenkonflikts
So sehr Weisheit und Erfahrung ein entscheidender Beitrag der Alten in der Gesellschaft und der Familie sind und als Wunsch zu einem guten Altern dazugehören, sie haben doch auch eine problematische Seite. Ich grusele mich bei Besuchen in Seniorenheimen, wenn ich Aufenthaltsräume sehe, die in häufig sehr modernen Häusern im Stil piefiger Wohnzimmer der 50er Jahre eingerichtet sind, mit Spitzendeckchen, Kunstblumen und Fransen an den Lampenschirmen. Dazu tönen aus dem Lautsprecher in Dauerschleife Volkslieder oder deren vulgäre Verunstaltungen, die unter dem Schimpfwort „Volkstümlicher Schlager“ vermarktet werden. Auf die Frage, warum es hier so aussehe, heißt es, die alten Leute sollten sich wie zu Hause fühlen. Was soll das für ein zu Hause sein? Im Grunde kann man der älteren Generation nicht sinnfälliger sagen, dass man ihr nichts mehr zutraut. In der Puppenstube einer verflossenen Ästhetik kann kein neuer Gedanke mehr gedeihen. Wenn das Altern nur in der mühsamen Kultivierung verflossener Erfahrungen möglich ist, in einer künstlichen Verstetigung des Zeitflusses, die behauptet, alles bleibe so wie es war, frage ich mich, wie ein Altern in Würde gelingen soll. Schon der kurze Blick in das Neue Testament hatte offenbart, dass die Traditionswahrung, die natürlicherweise ein Privileg der älteren Generation ist, Konflikte heraufbeschwört. So sinnvoll Tradition auch als Gegenpol zu falschen zeitgenössischen Entwicklungen sein kann – wo sie absolut wird, ist sie unerträglich und raubt den Jüngeren die Luft zum Atmen. Das ist das Milieu, in dem Generationskonflikte unausweichlich werden. Nicht umsonst ist die Literatur voll von starrsinnigen Greisen und tyrannischen Alten, die meinen, ihre Lebensart allen anderen für deren Seligkeit aufdrücken zu müssen. Dass dadurch das Gegenteil des Gewollten erreicht wird, ist klar. Wie soll ein Verständnis, eine Wertschätzung, eine Liebe zur Erfahrung der Alten wachsen, wenn diese ihrerseits kein Verständnis für das Neue aufbringen möchten?
Das Gegenteil dieser Verhaltensweise ist aber genauso unangenehm. Die hippe Oma, die die gleichen fancygen Fetzen trägt wie Enkelin und mit ihr (selbstverständlich) Konzerte angesagter Teenie-Stars besucht, erfüllt mich mit ähnlichem Unbehagen. Das beständige Buhlen um Jugendlichkeit unter Missachtung der eigenen Lebensphase dürfte von wenigen als würdige und angemessene Form des Alterns empfunden werden (unabhängig davon, dass die Enkelin im genannten Beispiel ihre Oma wahlweise „total cool“ oder „total peinlich“ findet). Die Verneinung des Alterns, die Verdrängung der eigenen geistigen und körperlichen Verfassung, das Jungbleiben in Ignoranz, gilt offenbar einigen als erstrebenswert. Dabei missachtet es die eigene Reifung und Entwicklung. Eine Regression zum Teenager hat im Alter den Nachteil, dass anschließend nicht mehr die Phase des Erwachsenwerdens folgt, sondern die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben. Es mag genau dies ein Treiber für juveniles Verhalten sein: Ich vergesse, wer ich bin. Ich bewege mich weiter in der Illusion, das Leben gehe gerade noch einmal von vorne los.
Ich glaube, in einer Zeit, in der die sogenannte „dritte Lebensphase“ zwischen dem Ausscheiden aus dem Berufsleben und dem Tod auch schon einmal 30 bis 40 Jahre dauern kann, wäre es fahrlässig, das Altern als ein „Stehenbleiben“ ein „Verharren im Guten“ zu gestalten. Niemand möchte „von gestern“ sein. Aber niemand muss deswegen auf den Lebensstandpunkt von vor dreißig oder vierzig Jahren zurückfallen. Weder die „ewige Jugend“ noch das „ewige Altsein“ scheinen erstrebenswert. Warum sollte es nicht wünschenswert sein, die freien Ressourcen des Alters zu nutzen, um den eigenen Welthorizont zu erweitern? Warum sollte eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart nicht auch im Alter noch fruchtbar sein? Ich glaube im Gegenteil sogar, dass eine solche Auseinandersetzung auch für andere bereichernd ist, da sie auf dem Hintergrund einer Lebenserfahrung und -weisheit stattfindet, die ein hilfreicher Filter zur Weltdeutung sein kann. Das Zusammenleben der Generationen wird in dem Maße fruchtbar, wie es ihnen gelingt, sich füreinander zu interessieren. Man muss, meine ich, der Falle entgehen, entweder die Vergangenheit oder die Gegenwart zu verteufeln. Die Weisheit nimmt nicht dadurch ab, dass sie neue Ideen, Techniken oder Lebensweisen untersucht, sondern bewährt sich gerade in dieser Untersuchung.
Weglassen und Abgeben
2002 trat der damals 70jährige Schlagersänger Gino Paoli beim Festival in San Remo, dem musikalischen Großereignis Italiens an.[1] Inmitten eines Umfelds von „canzoni“ die das junge Liebesglück wortreich umflorten, sang er das Lied „Un altro amore“. Es war der berührendste Auftritt des Abends. Der Sänger erzählte von einer großen Liebe, die ihm jetzt fehle und sang dann im Refrain: „Es wird keine andere Liebe mehr geben, es gibt kein nächstes Mal, es kein Platz mehr für andere Geschichten.“ Das Lied beschrieb zwei starke Emotionen: Zum einen das Glück des Alterns von jemandem, der seinen Platz im Leben, die Liebe seines Lebens und sein Glück gefunden hat und all dem treu bleiben möchte. Zum anderen durchwehte den Vortrag eine Wehmut des Alters: Die Kürze der Zeit, das Wissen um das Vorübergehen des Lebens, die Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und diese nicht mehr korrigieren zu können. Die Möglichkeiten des Lebens sind begrenzt und sie werden im Alter immer begrenzter.
„Ich muss es akzeptieren, wie es ist“, „Ich muss damit leben“, „Ich muss abgeben“ – das sind Sätze, die ich von älteren Menschen immer wieder höre. Häufig steht dahinter eine gewisse Traurigkeit. Es ist eine Einsicht in die Realität des Alterns, in die nachlassenden Kräfte und Möglichkeiten. In dieser Weise erscheint das Altern häufig als ein langsamer Abschied. Die Theologin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Jahrgang 1945) hat in einem Artikel diesen Aspekt des Alterns untersucht. Das Abgeben und Weglassen vieler Dinge und Tätigkeiten im Alter ist eine Tatsache. Diese, so Gerl-Falkovitz, mache aber nur Sinn, wenn der (häufig erzwungene) Verzicht „ein Ziel anvisiert und wenn der abgeworfene Ballast den Weg frei macht.“[2] Gerade das freiwillige Abgeben ist eine große Geste. Es ist Ausdruck einer Lebensplanung, die darum weiß, dass die gewohnten Bahnen auf Dauer nicht mehr weiter gezogen werden können. „Altern heißt […] eine Auswahl treffen.“ Zu den wichtigsten Zielen muss es für Gerl-Falkovitz gehören, die Beziehungen zu stärken. Das Alter, gerade in einer Phase der Schwäche oder Krankheit hat den menschlichen, aber auch den religiösen Bezug als entscheidende Lebensressource. Dazu gehört auch, an der eigenen Lebensgeschichte zu arbeiten, vor allem, sich den schuld- und schmerzhaften Seiten und Episoden zu stellen. Das „Aufräumen“ ist auch ein innerer Prozess der Aussöhnung, in dem Maß, wie es eben möglich ist. Vielleicht ist das gerade ein Weg zu mehr Güte und Gelassenheit (ein Weg der natürlich nicht exklusiv den Alten vorbehalten ist). Die Frage, wovon ich mich trennen kann, wird dann tragisch und traurig, wenn sie erst in dem Moment des Umzugs ins Altenheim erfolgt. Es vielleicht wie im Lied von Gino Paoli: Das Eingestehen über das Ausbleiben der Möglichkeiten schärft zugleich den Blick auf den Schatz des Vorhandenen. Die Prioritäten sortieren sich neu, wenn der Ballast wegfällt.
Umgang mit der Endlichkeit
Der verstorbene Erzbischof von Hamburg, Ludwig Averkamp, hatte das Altwerden nach seinem Ausscheiden aus dem Bischofsamt zu seinem persönlichen Anliegen gemacht. Er bemühte sich darum, dass Altern nicht nur geistlich zu durchdringen, sondern selbst vorbildhaft zu handeln. Nach seinem 75. Geburtstag widmete er sich nur noch den Themen, die ihm wichtig waren. Er hielt vereinzelt geistliche Vorträge, stand als geistlicher Begleiter zur Verfügung, nahm aber sonst keine offiziellen Termine mehr wahr. Im besten Sinne hatte er konsequent begonnen, auszumisten, auch in seinem Kalender. Er widerstand der Versuchung, weiter im Rampenlicht zu stehen. Als erster zog er in eine neu geschaffene Seniorenwohnanlage des Bistums ein, die besonders für Priester im Ruhestand gedacht war. Dieses Projekt war vorher gerade von den älteren Priestern argwöhnisch beäugt worden. Mittlerweile ist das Wohnen dort sehr beliebt. Erzbischof Ludwig schilderte mir, wie er vorgegangen war, als er seinen Haushalt verkleinern musste und trennte sich relativ schmerzfrei von großen Teilen seiner Bibliothek und seiner Möbel. Gut alt werden – das war ihm ein Herzensanliegen. In dem letzten öffentlichen Vortrag vor seinem Tod sprach er über das Thema auf einem Priestertag. Er endete mit einem Ausblick, die Aussicht auf den Tod. Er schilderte dabei seine Erwartung. Gott warte schon auf der anderen Seite des Lebens auf ihn. Es verlange ihn, auch dorthin zu gelangen. In Ludwigs Vortrag lag die aufrichtige Hoffnung und Vorfreude, zugleich auch die Trauer des Abschieds. Ich glaube, es ist ein Wunsch vieler, in einer solchen Zuversicht die letzten Schritte des Lebens gehen zu können.
Sofern ich den nahenden Tod nicht verdränge und etwa durch Hyperaktivität in der äußeren Beschäftigung von ihm ablenke, bleibt die Auseinandersetzung mit ihm nicht nur aber gerade im Alter unausweichlich. Es ist eine Frage des Glaubens, des Akzeptierens und der Herausforderung mit dem Ende des Lebens seinen Frieden zu finden. Wenn ich auf Reisen gehe und weiß, dass ich meinen Besitz zurücklassen muss, wie verhalte ich mich? Beginne ich damit, mich vor der Reise schon langsam vom Besitz zu trennen und dafür zu sorgen, dass er in gute Hände kommt oder versuche ich, noch bis zur letzten Minute neuen Besitz anzuhäufen, in der vagen Hoffnung, es werde mich doch nicht treffen? Im Grunde stellt jeder Abschied im Leben genau diese Frage. Wie gehe ich mit dem Unausweichlichen um?
Der Philosoph Jörg Splett sprach gerade angesichts der Endlichkeit von einer „neuzeitlichen Verdrängung des Todes“, der als Unglücksfall wahrgenommen werde, „statt ihn als Wesensmoment in der Selbsterfahrung einer Freiheit anzuerkennen, die sich lebendig verwirklicht.“[3] Splett spricht damit (in etwas komplizierten Worten) die eben genannte Haltung aus, ein aktives Zugehen auf den Tod, das bereit ist, abzugeben. „O Welt, ich muss dich lassen“ – heißt ein Beerdigungslied. Dieses „Lassen“ ist hier positiv auszulegen. Das „Lassen“ im Sinne von in Liebe „Sein-Lassen“, „Zurücklassen-Können“, dem Hinterbleibenden das Dasein zu gönnen, den Hinterbliebenen ihr Leben zuzugestehen und nicht zu versuchen, es bis zum letzten Augenblick zu beeinflussen und zu gestalten. Nicht umsonst nennt man diese Form des „Sich-Nicht-mehr-überall-Einmischens“ „Gelassenheit“. Eine solche Einstellung scheint für den gläubigen Menschen einfacher zu sein, da er mit Zuversicht davon ausgeht, niemals „verlassen“ zu sein (auch nicht im Tod), sondern sich Gott „überlassen“ zu können.
Schluss, aber nicht Ende
Die hier geschriebenen Beobachtungen und Bemerkungen bilden nicht mehr als meine subjektive Sicht auf das Alter. Wahrscheinlich werden sie sich im Laufe der Jahre weiter verändern. Ich kann mir nicht herausnehmen, die Erfahrungen alter Menschen, die den Prozess des Altwerdens durchlaufen, wirklich zu verstehen. Ich kann diese Prozesse nur beobachten. Zugleich stelle ich mir selbst die Frage, wie ich einmal alt werden möchte (sofern es mir vergönnt sein wird). Ich halte es für sinnvoll, sich damit auseinanderzusetzen. Ich hoffe, in dieser Hinsicht in den nächsten Lebensabschnitten noch mehr lernen zu können.
[1] https://www.youtube.com/watch?v=eOubXVYRlzk;
[2] Gerl-Falkovitz, Leben heißt weglassen, in: Communio Nr. 48 (2019), 271-276.
[3] Splett, Konturen der Freiheit, Frankfurt 1981, 132.