Die schönen und die hässlichen Kinder Evas

Das Gleichnis vom anvertrauten Geld (Mt 25,14-30) ist rätselhaft. Es scheint nicht aufzugehen. Ein reicher Mann vertraut seinen Dienern Teile seines Vermögens an. Dann geht er auf Reisen und beauftragt sie, mit dem Geld gewinnbringend zu wirtschaften. Während die, denen viel Geld gegeben wurde eine gute Rendite erwirtschaften, wird der, dem wenig anvertraut wurde zögerlich. Er vergräbt das Geld und gibt es schließlich ohne Gewinn wieder zurück. Dafür wird er am Ende des Gleichnisses hart bestraft. Und kurz vor dem Schluss steht der Satz: „Wem viel gegeben wurde, der wird noch mehr dazubekommen, wem aber wenig gegeben wurde, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ Das ist eine sehr kapitalistische Logik. So ereignet sich ja tatsächlich in der Welt: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Wie ist eine solche Logik mit dem Evangelium vereinbar, wo doch die Botschaft Jesu sich vor allem an die Armen, Ausgegrenzten und Sünder wendet, also an die, die ohnehin vor den Menschen nicht viel zu bieten haben.

Wegen dieses Widerspruchs wird das Gleichnis gerne symbolisch gedeutet. Das Wort „Talent“ hat es wegen dieses Bibeltextes in unsere deutsche Sprache geschafft. „Talent“ ist ein anderes Wort für „Begabung“. Das Gleichnis würde dann bedeuten: Jeder soll aus seinen Begabungen das Beste machen und sie nicht vor der Welt verstecken. Wer sein Talent dagegen verkümmern lässt, handelt nicht im Sinne Gottes. Diese Auslegung ist sicher nicht falsch. Sie passt in unser Verständnis von der Botschaft Jesu. Sie passt auch in unsere Zeit, die so viele Wert auf Persönlichkeitsentwicklung legt. Ist damit allerdings schon alles gesagt?

Ich möchte versuchen, mich dem Text über ein Märchen zu nähern, das vielleicht weiterhelfen kann. In der Sammlung der Brüder Grimm findet sich das Märchen von den ungleichen Kindern Evas. Es geht ungefähr so:

Nachdem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren, bekamen sie viele Kinder. Die Kinder waren unterschiedlich, einige waren schön, andere hässlich. Da ließ Gott eines Tages ankündigen, dass er Adam und Eva besuchen wolle. Adam und Eva freuten sich. Sie schmückten ihr Haus. Dann holte Eva ihre schönen Kinder, wusch sie und zog ihnen ihre besten Kleider an. Die hässlichen Kinder aber sollten sich nicht sehen lassen. Sie wurden im Haus versteckt. Als Gott kam, sah er die schönen Kinder, die sich ehrfürchtig vor ihm verneigen. Gott segnete sie und sagte zum ersten: „Du sollst einmal ein König werden“, zu dem zweiten: „Du eine Gräfin“, zu den anderen: „Du ein Ritter“, „Du eine Bürgerin“, „Du ein Kaufmann“, „Du eine Wissenschaftlerin“. Als Eva sah, wie gut es Gott mit den Kindern meinte, bereute sie, dass die anderen vor ihm verstecken wollte. Sie holte sie aus ihren Verstecken. Und Gott segnete auch sie und sagte zum ersten: „Du sollst einmal eine Schneiderin werden“, zum zweiten: „Du ein Bauer“, zu den anderen: „Du eine Bäckerin, ein Schmied, eine Töpferin, ein Schumacher, ein Kutscher, ein Dienstmädchen.“ Als Eva das alles mit angehört hatte, sagte sie: „Herr, warum teilst du deinen Segen so ungleich aus! Es sind doch alle meine Kinder, die ich geboren habe: deine Gnade sollte über alle gleich ergehen.“ Gott aber erwiderte: „Eva, das verstehst du nicht. Die Welt kann doch nicht bestehen, wenn alle Fürsten oder Ritter sind, es ist doch genauso wichtig, dass jemand das Korn anbaut, die Häuser baut oder die Menschen mit Waren versorgt.“ Da erkannte Eva, dass sie vorschnell geurteilt hatte und dankte Gott für seinen Segen.

Was denken Sie über das Märchen? Ärgern sie sich nicht zu sehr darüber. Es stammt aus einer anderen Zeit. Natürlich spiegelt es die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Standesordnung wider. Wir würden sie heute nicht mehr teilen. Auch die Unterscheidung von „schön“ und „hässlich“ gefällt uns wahrscheinlich nicht. Sagen wir einfach: „unterschiedlich“. Was ist die positive Aussage des Märchens? Es sagt erst einmal: Die Menschen sind unterschiedlich. Sie haben nicht die gleichen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Fähigkeiten. Trotzdem werden alle Kinder mit dem gleichen Segen gesegnet. Es ist falsch, einen Teil der Kinder zu verstecken. Es gibt unter den Kindern Evas niemanden, der keine Beachtung verdient hätte. Jedes der Kinder bekommt eine Verheißung, einen Auftrag, eine Bestimmung zugesprochen. Mit dieser wird es zum Segenträger für andere. Und am Schluss sind gerade die hässlichen Kinder diejenige, die für die Gesamtheit der Menschen die wichtigsten Dienste tun.

Beim Gleichnis vom anvertrauten Geld ist es ähnlich. Der erste Satz des Gleichnisses ist wichtig. Jesus sagt: „Mit dem Himmelreich ist so“. Er möchte also etwas über das Reich Gottes erklären. Das Vermögen, also die Güter des Reiches sind schon da. Das Reich selbst aber noch nicht. Es vollendet sich erst, wenn der Herr, also hier der reiche Mann, wieder zurückkommt. In der Zwischenzeit sollen sich die Güter des Reiches vermehren. Diese Güter sind ungleich verteilt. Die Menschen sind nicht alle gleich. Ihr Auftrag, ihre Berufung ist unterschiedlich.

Was sind die Güter, der Reichtum des Reiches Gottes? Wir finden sie an anderen Stellen des Evangeliums, etwa in der Bergpredigt. Sie sind nicht einfach Begabungen oder Fähigkeiten im umgangssprachlichen Sinn, sondern Dinge, die in der Ordnung der Welt häufig geringgeschätzt werden, etwa das reine Herz, oder die Armut, das Leiden, die Trauer, die Demut, die Barmherzigkeit, der Wille zum Frieden, die Gabe zur Versöhnung, die Treue, der Gehorsam Gott gegenüber, die Bereitschaft, für andere da zu sein, die Hoffnung, das Mitleiden. Wir hören sie eine solche Liste: Da sind viele schöne, aber auch viele hässliche Dinge dabei. Genauso aber ist die Logik des Evangeliums: Der Reichtum der Welt ist häufig Armut vor Gott und Reichtum vor Gott ist häufig Armut vor der Welt. Die letzten werden die Ersten sein und die Ersten die Letzten. Das Schöne und Angenehme vermag häufig viel weniger als das Schwache und Anstrengende.

Sie merken vielleicht jetzt: Die Anstößigkeit des Gleichnisses liegt auf einer ganz anderen Ebene. Selig ist, wer das Kapital des Gottesreiches in diese Welt einspeist, so dass es Gewinn bringt, getadelt wird, wer sich um diese häufig so schwachen und verdrängten Güter versteckt und falschen Vorstellungen folgt.

Wir leben in der Zwischenzeit. Das Reich Gottes ist noch nicht da, aber seine Güter sind unter uns. Vielleicht ist es Zeit, einmal wieder nach den vergrabenen Schätzen zu suchen.

Ein Kommentar zu „Die schönen und die hässlichen Kinder Evas

  1. In einer Zwischenzeit haben Menschen zu allen Zeiten gelebt oder haben ihre jeweilige Gegenwart so gedeutet.
    Die Idee vom Reich Gottes halte ich für eine — sorry — sektiererische, reaktionäre Utopie mit Erpressungspotenzial.
    Ansonsten ein schöner Beitrag zu einem Gleichnis.

    Eckhardt Kiwitt, Freising

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