Superreich und superarm

In diesen Tagen werden in Dresden die Prunkgemächer im Dresdner Schloss eröffnet. Viele Jahre haben Handwerker aller Art versucht, die Räume detailgenau zu rekonstruieren. Jetzt ist dort wieder eine ungeahnte Pracht und Kunstfertigkeit zu bewundern. Ich vermute, jeder, der schon einmal einen Palast aus der Epoche des Absolutismus besucht hat, war über das Maß an Überfluss und Reichtum erstaunt. In der Residenz bündelte der Fürst den ganzen Reichtum zu einem Schaustück, dass die Größe und Bedeutung des Fürsten- oder Königtums repräsentieren sollte. Woher kam eigentlich das Geld dafür? Es kam aus den Einnahmen des Staates. Zugespitzt könnte man sagen: Es waren die Kleinbauern, die mit ihren Abgaben an Mehl, Kartoffeln und Fleisch den Bau der fürstlichen Pracht ermöglicht hatten. Während die Bevölkerung schauen musste, zumindest ein Minimum zum Überleben zu behalten, wurden in der Residenz Gemälde, Tapeten, Teppiche und Möbel gekauft, bei denen jedes Einzelstück mehr kostete, als ein einfacher Arbeiter oder Bauer in seinem ganzen Leben verdiente. Kaum eine Epoche stellt uns das Nebeneinander von extremem Reichtum und großer Armut so plastisch vor Augen wie der Absolutismus. Beim Besuch eines solchen Schlosses frage ich mich: Wie konnten die Schlossbewohner das eigentlich aushalten. Kaum verließen sie die Gemächer und Prunksäle sahen sie doch die Armut und den Schmutz auf den Straßen, begegneten ihnen elende Menschen, deren Not man mit dem Verkauf eines Meißner Tellers für ein ganzes Jahr hätte beheben können.

Im Grunde, so denke ich, waren es wohl vier Strategien, die es ermöglichten, angesichts der ungleichen Verhältnisse nicht ein permanentes schlechtes Gewissen zu haben. Zum ersten kann man den Gegensatz verdrängen und mit ein wenig Übung die Existenz der Armut vor der eigenen Tür einfach ignorieren oder leugnen. Zum zweiten konnte man dem „System“ die Schuld geben (auch wenn dieser Begriff natürlich so noch nicht bekannt war). Es war halt überall so. Es gehörte zu einem Land dazu, dass der Fürst als Repräsentant mit den anderen mithalten konnte. Dies war auch notwendig, um überhaupt von anderen wahr- und ernstgenommen zu werden – für das politische Geschäft eine unausweichliche Notwendigkeit. Außerdem sah sich der Fürst als Beschützer und Symbol seiner Untertanen. Je prachtvoller das Symbol, desto besser. Zum dritten konnte man auf die Eigenverantwortung der einfachen Leute verweisen. Auch in einer ständischen Gesellschaft war schließlich jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten seines Glückes Schmied. Extreme Armut konnte durch eine gesunde Lebensführung, Fleiß und Sorgfalt verhindert werden. Waren die wirklich Armen nichts auch selbst Schuld an ihrem Unglück? Die vierte Strategie besteht in der Umkehrung der Verhältnisse: Waren nicht die Reichen eigentlich die wirklich Armen? War es nicht der Fürst, der sich durch die Regierungsgeschäfte für das Volk abrackerte. Garantierte er nicht den Wohlstand? Hing nicht alles von ihm ab? Wäre es also berechtigt gewesen, eine Neiddebatte zu führen, wo doch keiner der Untertanen in der Lage gewesen wäre, die Aufgaben des Fürsten zu übernehmen? Der wahre Arme ist schließlich der, der die Verantwortung zu tragen hat.

Das Evangelium vom armen Lazarus illustriert den Gegensatz von superreich und superarm durch ein Beispiel. Es ist darauf angelegt, dass die Hörer diesen Unterschied auch als ungerecht empfinden:

In jener Zeit sprach Jesus: Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.
Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Statt dessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.
Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.
Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir, und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.
Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.
Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, so dass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.
Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters!
Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht. (Lk 16, 19-31)

Das Evangelium stellt die Gerechtigkeitsfrage in einer besonders eindrücklichen Weise. Angesichts der Ungleichheit zwischen dem reichen Prasser und dem armen Lazarus fragt sich der Hörer sofort, warum es nicht zu einem Ausgleich hätte kommen können. Für den Reichen wäre es doch kein Problem gewesen, dem Armen zu helfen. Unter der Annahme, dass Gott allerdings den Armen mindestens genauso liebt wie den Reichen, muss es zu einem Ausgleich kommen. Dieser geschieht, so das Gleichnis, im Leben nach dem Tod. Was der eine an Armut erfahren hat, wird durch seine bevorzugte Stellung im Himmel (in Abrahams Schoß) kompensiert. Dem Reichen ergeht es umgekehrt.

Mir selbst macht das Evangelium ein schlechtes Gewissen. Gerade in diesen Woche aufgeregter Klimadebatten wird noch einmal deutlich, dass global gesehen die Verhältnisse von arm und reich, von Lazarus und reichem Prasser, vom Fürsten und dem Kleinbauern sich eigentlich wenig verändert haben. Der Reichtum unserer westlichen Welt wirkt sich zum Nachteil anderer aus. Man könnte dazu viele Beispiele nennen: Die Bauern in der Sahelzone, die von zunehmender Trockenheit und Versteppung bedroht sind, die Arbeiterinnen in den Textilfabriken in Bangladesch oder Pakistan, die heutzutage fast jedes Kleidungsstück mitproduzieren, die Minenarbeiter, die an entlegenen Orten der Welt unter unmenschlichen Bedingungen Rohstoffe für den Bau von Elektronikgeräten oder Batterien schürfen… Und wieder die Frage nach der Gerechtigkeit: Es könnte auch ganz anders sein. Schon kleine Veränderungen im Markt, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, im Konsumverhalten, etwas mehr ethische Verantwortung in Konzernen und Regierungen könnten die Lage der betroffenen Menschen bedeutend zum Guten verändern. Die Ausweichstrategien sind die gleichen wie zu allen Zeiten: Am stärksten ist wohl die Verdrängung genau dieser Folgen unseres Lebensstils. Haben wir tatsächlich Interesse für Produktionsbedingungen und Marktmechanismen, die Ausbeutung und Armut fördern? Zum zweiten geben wir dem System, in diesem Fall den kapitalistischen Marktmechanismen die Schuld. Wenn alles eine Frage des Preises ist, können schließlich auch große Konzerne aus Konkurrenzgründen nur schwer aus den eingespielten Bahnen ausbrechen. Das Hauptargument: Wenn wir an einer Stelle die Produktion verteuern, wandert sie in andere Bereiche ab (dass man stattdessen auch die Werbeetats oder die Margen senken könnte, wird eher selten in Erwägung gezogen). Zum dritten glauben wir an den Grundsatz, dass jeder seines Glückes Schmied sein könnte, nehmen also Aufstiegsschancen an, die aber nur wenigen der betroffenen Menschen gegeben sein dürften. Und schließlich stellen wir auch die Frage nach Umkehrung der Verhältnisse. Müssen wir uns nicht auch schon selbst genug darum mühen, mit unseren Ressourcen klarzukommen? Sind nicht auch wir es, die mit unserem Geld die Märkte im Süden der Welt überhaupt erst ermöglichen?

Gehen wir im christlichen Sinn davon aus, dass Gott alle Menschen liebt, dann ist ihm die Arbeiterin in Bangladesch oder der Kleinbauer in Mali mindestens genauso viel wert, wie ich es bin. Mit der Konsequenz eines Ausgleichs im ewigen Leben könnten wir, glaube ich, schwer leben. Das Gleichnis lässt eigentlich keine Wahl: Es fordert zur Überprüfung des eigenen Lebens auf. Niemand kann von sich allein die Welt verändern. Aber es wäre schon einmal ein Gewinn, die Strategien der Verdrängung als solche zu erkennen. Der nüchterne Blick auf die Wirklichkeit der Welt ist Anstoß zur Veränderung. Tatsächlich ist der eigene Beitrag oft erschreckend gering. Er könnte dann wertvoller werden, wenn er von vielen getragen würde.

Ein Kommentar zu „Superreich und superarm

  1. Die Menschen lieben den Glanz des Reichtums und genau dies ist auch der Ansporn etwas zu tun und an diesem Glanz teilhaben zu können. Die Vertröstung eines Ausgleichs im Jenseits ist hier genau das richtige Mittel, um sich dies nicht eingestehen zu müssen.

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