Das neue Jahr beginnt im Kino unter anderem mit einer Buchverfilmung. „Der Junge muss mal an die frische Luft“ erzählt die Kindheitsgeschichte des jungen Hans-Peter Kerkeling. Zu sehen ist ein pummeliger blonder Junge, der in einer kleinbürgerlichen Ruhrpott-Familie der 70er Jahre aufwächst. Ein solcher Film wird verständlich, wenn man ihn vom Ende her denkt. Wer den erwachsenen Komiker Hape Kerkeling aus dem Fernsehen kennt, bekommt hier Erklärungen geliefert, wie er zu dem wurde, was er ist. Man sieht den kleinen Hans-Peter in seiner Familie, wie er die ersten Schritte als Entertainer macht, seine ersten Parodien, seine Lust am Verkleiden, erste kleine Shows, die er für die Familie aufführt. Die Geschichte hat einen ernsten Hintergrund, denn, so wird erklärt, der Junge im Film entwickelt sein komisches Talent vor allem deswegen, weil er damit seine kranke Mutter zum Lachen bringen kann. „Ah ja“, denkt sich der Zuschauer und Hobby-Psychologe im Kino: „So war das also – das Entertainerkind musste ja quasi als Erwachsener Fernehunterhalter werden. Von der Parodie der Kunden in Tante Berthas Lebensmittelladen bis zu Horst Schlämmer ist es also ein gerader Weg.
Das ist kein Zufall, sondern die Art und Weise, wie Biografien nun einmal erzählt werden. Die Kindheit und Jugend werden in ihnen zur Vorgeschichte, die versucht, einen geraden Weg zum Werdegang des Erwachsenen zu schlagen. Offensichtlich ist es beim ersten Lesen im Evangelium genauso. Die Begebenheit mit dem zwölfjährigen Jesus im Tempel macht es ebenso:
Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach.
Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort.
Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.
Als seine Eltern ihn sahen, waren sie sehr betroffen, und seine Mutter sagte zu ihm: Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht. Da sagte er zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? Doch sie verstanden nicht, was er damit sagen wollte. Dann kehrte er mit ihnen nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam. Seine Mutter bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen. (Lk 2,41-52)
Jesus aber wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu, und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen. Der Jesus, der mit Vollmacht das Wort Gottes deuten und erklären wird, der in den Streitgesprächen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern besteht, ist bereits als Kind einer, der sein inniges Verhältnis zu Gott und seinem Wort entdeckt und entwickelt. Der Leser oder Hörer denkt: „Das war ja klar – es musste ja so kommen, im jungen Jesus ist bereits alles angelegt, was den späteren Jesus auszeichnet.“ Der Text ist weniger ein Tatsachenbericht, als vielmehr eine Erzählung, die voller Symbolik steckt. Es heißt, dass die Eltern jedes Jahr mit ihrem Sohn an der Jerusalem-Wallfahrt zum Paschafest teilnehmen. Das ist unüblich, denn eigentlich gilt für die Söhne, dass sie erst mit dreizehn Jahren religionsmündig werden und verpflichtet waren, an der Wallfahrt teilzunehmen. Die zwölf Jahre geben schon einen Hinweis darauf, dass in Jesus der religiöse Verstehens- und Reifungsprozess bereits von Beginn an da ist. Zudem ist zwölf die Zahl der Stämme Israels. Der ganze Tempel ist von dieser symbolischen Zahl erfüllt, etwa in den zwölf Schalen mit Räucherwerk, die um den Altar aufgestellt waren. Der Zwölfjährige vereinigt gewissermaßen die Weisheit des ganzen Volkes schon in sich und gehört zum Tempel als Ort der Gottesnähe.
Auf der menschlichen Ebene erzählt das Evangelium noch eine weitere Geschichte, nämlich die des Erwachsenwerdens. Jesus beginnt, seiner Familie zu entwachsen. Es geht um einen handfesten Streit. Die Antwort Jesu an seine Eltern, als sie ihn nach drei Tagen endlich gefunden haben ist ja: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ Das klingt sehr gesetzt. In die heutige Sprache Zwölfjähriger übersetzt heißt es soviel wie: „Chillt mal – ich weiß selbst, was für mich richtig ist!“ Die Eltern verlieren an Einfluss über ihren Sohn. Das Evangelium vermeidet zwar, von weiteren Auseinandersetzungen zu berichten, im Gegenteil, es betont, dass Jesus danach seinen Eltern gehorsam war. Eltern dürfte aber der beschriebene Grundkonflikt geläufig sein. Die Kinder, die beginnen, ihren eigenen Weg zu suchen und die Eltern, die Angst haben, dass sich ihre Kinder dabei verlaufen, dass sie noch gar nicht fähig sind, zu sehen, was für sie das Richtige ist. Früher wurde die Zeit der Pubertät gerne als Zeit der Rebellion gegen die strengen Normen und Regeln der Eltern verstanden, als Ausbruchsbewegung und als Zeit des Ausprobierens alternativer Philosophien, Lebensstile, styles und Haarschnitte. Heute sind die Forscher da zurückhaltender. Sie beobachten, dass die Rebellion zurückgeht und sich vor allem ins Digitale verlagert. Die Gegenkultur besteht häufig in einer Anpassung an die Lebensstile, gegen die die Eltern früher rebelliert hatten. Die Verzweiflung einer Generation hat die Band Kraftklub zum Ausdruck gebracht, wenn sie singt: „Unsere Eltern kiffen mehr als wir, wie soll man rebellier’n? Egal wo wir hinkommen, unsere Eltern waren schon eher hier!“[1] Wie auch immer, es ist genau dieses Gefühl der Ort- und Orientierungslosigkeit, das hier zum Ausdruck kommt. Die Pubertät verhandelt die Frage: „Wer möchte ich einmal sein?“. Sie ist ein Kampf um die Selbstbestimmung und das eigene Denken, aus dem wir einmal erklären können, wie wir geworden sind, was wir geworden sind.
Für Jesus scheint dieser Kampf schon früh ausgefochten. Er bleibt zugleich in der Tradition seiner Familie und tritt doch aus ihr heraus. In kurzen Worten macht er seinen Eltern klar, dass er einen ganz eigenen Weg gehen muss, dass er schon früh seine Sendung und Berufung verstanden hat. Er erweitert die Familie durch den Bezug auf Gott seinem himmlischen Vater. Es sind dessen Weisungen, an die er sich gebunden fühlt. Seine Mutter, so heißt es im Text, bewahrte seine Worte in ihrem Herzen. In der Tiefe ihrer Person lernt sie den Weg und das Wesen ihres Sohnes zu verstehen. Im Laufe der Zeit fügen sich ihre Erinnerungen zusammen zum Gedächtnis, das später auf der ganzen Welt erzählt werden wird, von Jesus, dem Sohn Gottes, dem Retter und Erlöser. Und wenn wir heute aus den Kindheitsberichten lesen, verstehen wir, dass alles das von Anfang an in Jesus zu finden war. Und wir denken und verstehen zurecht: „Aha, so ist das gewesen …“.
[1] Kraftklub, „Zu Jung“, 2012.