Im Advent geht es um Zeit. Es geht um Zeit, die vergehen soll. Das aktive Die-Zeit-Vergehen-Lassen nennt man „Warten“, auch wenn das Warten natürlich eher etwas Passives, als etwas Aktives ist. Der Adventskranz hatte ursprünglich 22 bis 28 Kerzen, für jeden Tag des Advents einen. Bei uns sind die vier Kerzen für die Adventssonntage übriggeblieben. Aber das Prinzip ist das Gleiche – zu sehen, wie die Zeit vergeht. Der Adventskranz ist ein Zeitmesser, der anhand des zunehmenden Lichtes sinnfällig verdeutlicht, wie Tag um Tag vergeht, wie das Warten intensiver, zugleich aber überschaubarer und beherrschbarer wird.
Es geht um ein zweifaches Warten. Das erste, kleine Warten ist das auf den 25. Dezember, den Weihnachtstag, die Geburt und damit Erscheinung Jesu in der Geschichte. Das zweite Warten ist das große Warten. Es ist das Warten auf das Wiedererscheinen Jesu. Es ist das Warten auf das Ende der Zeit.
Von diesem Warten sprechen die Texte dieses Sonntags. „Am Ende der Tage wird es geschehen“ – so Jesaja. Am Ende der Tage kommt es dazu, dass sich vom Gottesberg Zion das Licht über die ganze Welt verbreiten wird und alle Völker zu dem einen Gott ziehen werden. Es ist der Zeitpunkt, an dem sich unser irdisches Streiten in göttlichen Frieden verwandeln wird.
Die Geschichte ist grausam, so das Evangelium. So vieles wird geschehen auf Erden, bis der große Tag der Wiederkunft kommt. Darum haltet Euch bereit, lasst Euch nicht abbringen von eurer Hoffnung. Wartet geduldig. Es wird noch viel Zeit vergehen, bis schließlich die Zeit vergeht.
Ich habe mich an ein schönes Buch erinnert, einen Roman über die vergehende Zeit. Er heißt „Cox oder der Lauf der Zeit“. Das Buch handelt von einem englischen Uhrmacher, Cox, der mit einigen Mitarbeitern Ende des 18. Jahrhunderts eine Reise an den Hof des chinesischen Kaisers unternimmt. Dieser Fürst, der auch der „Herr über 10000 Jahre“ genannt wird ist fast gottgleich. Hunderte von Dienern sind an seinem Hof. Er wird beschützt von Tausenden von Soldaten ist umgeben vom größten Reichtum, ist Herr über Leben und Tod, über Krieg und Frieden, Garant der kosmischen Ordnung, ehrfurchtsvoll beschützt und umsorgt von einem Heer dienstbarer Geister, von einer jahrhundertealten Ordnung, die nicht um ein Jota verändert werden darf. Cox allerdings erkennt, dass den Kaiser eine Frage besonders beschäftigt. Wenn er auch sonst Herr über alles ist – er ist nicht Herr über die Zeit. Auch der Kaiser ist sterblich. So sammelt der Kaiser die kostbarsten und schönsten Uhren der Welt, die Wächter der vergehenden Zeit. An Cox hat er einen ganz besonderen Auftrag. Cox soll ihm Uhren bauen, die nicht die objektive Zeit messen, sondern die gefühlte Zeit. Eine dieser Uhren soll das Zeitempfinden eines zu Tode Verurteilten abbilden. Cox spricht dazu mit Gefangenen, die auf ihre Hinrichtung warten. Sie sagen: Unsere Zeit vergeht so, als wenn wir in einer Kiste eingeschlossen wären, die in ein tiefes Loch geworfen wird. Man hat uns vorher gesagt, das Loch hätte keinen Boden, aber je länger wir fallen, desto gewisser werden wir, dass wir bald aufprallen werden. Cox nimmt diesen Gedanken für seine Uhr auf. Er baut aus Gold das Modell einer Mauer mit Wehrtürmen. Auf den Türmen werden getrocknete Duftstoffe verbrannt und setzen den Uhrmechanismus in Gang, der sich dann willkürlich zwischen extrem langsamen Zeitintervallen und extrem schnellen bewegt. Was für ein starkes Bild: Auf der Außenseite meines Lebens, das so dicht gebaut und stabil scheint verbrennt das Erleben, die Ereignisse, die Erinnerungen und drehen in meinem Inneren die Zeit vorwärts, mal schmerzhaft quälend angstvoll langsam, mal betriebsam angetrieben bewegt und schnell … oft zu schnell.
Die Zeit läuft ab. Ich glaube es trifft das Lebensgefühl vieler Menschen, dieses Sein zum Tode, wie Heidegger es genannt hat, das Wissen um die Unausweichlichkeit der ablaufenden Zeit. Und wir begegnen ihr in der Regel nicht mit ruhigem Warten, sondern mit dem beständigen Anhäufen von Reizen, Ereignissen, Erlebnissen, von Material, das den Verbrennungsvorgang in Gang hält. Wer nichts mehr erlebt, ist eigentlich schon tot. Der Zugwind der mit uns in das Loch fallenden Kiste weht uns todeskalt um die Ohren, denn wir wissen nicht, wann der Aufprall kommt.
Der Adventskalender eines so lebenden Menschen besteht aus ein paar tausend Kerzen, von denen jeden Tag eine ausgeblasen wird. Im abnehmenden Licht des Alters gibt es nichts mehr zu erwarten als die letzte Dunkelheit. Aber das ist eben nicht der Advent. In ihm geht es um das zunehmende Licht. Das Warten ist nicht ein Warten auf Tod, sondern auf die Vollendung. Aus der todverfallen Zeit soll eine ewigkeitserfüllte Zeit werden. Das Gefühl des Advents ist nicht Verzweiflung, sondern Hoffnung. Es gehört sicher zu den größten Verfälschungen dieser Zeit, dass man aus ihr eine Zeit der Erlebnisse gemacht hat. Man hat das Warten zugekleistert, weil eigentlich niemand mehr das Warten erträgt. Vom Ursprung ist der Advent die Zeit, sich mit mir auseinanderzusetzen, wieder in die Aufmerksamkeit des Wartens zu kommen. Wir gehen auf eine gute Zukunft zu, auf eine Zeit, die nicht mehr ist, wie unsere, auf die man sich freuen kann und für die man sich vorbereiten kann. Das Warten des Advents stellt an mich die Fragen: „Wie will ich leben?“ und „Was will ich ändern?“ Wenn Jesus wirklich morgen käme, wie will ich ihm entgegentreten? Wacht und betet allezeit, denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde. Das ist keine Drohung. Das ist eine Verheißung. Es ist das wunderbare Licht, das sich meinem Leben nähern soll, das mich erfüllen soll mit Hoffnung, Liebe und Glauben, das mir die Augen öffnet für den Sinn meines Daseins. Nicht der Tod ist das letzte. Am Ende der Tage kommt das Leben.