Im Zentrum der römischen Piazza Navona, einem ovalen Platz, der zum Mittelpunkt des mittelalterlichen Roms wurde, steht der Vierströmebrunnen. Er zeigt einen Obelisken, der auf einem als Fels gestalteten Postament steht, welches sich in vier Richtungen erstreckt. Auf jedem der vier Felsvorsprünge ist eine monumentale Gestalt zu sehen. Diese vier Personen stellen symbolisch die größten Flüsse der damals bekannten Kontinente dar. Zu ihren Füßen fließt das Wassers des Brunnens in ein großes kreisrundes Becken. Die vier dargestellten Flüsse sind die Donau (Europa), der Rio della Plata (Amerika), der Ganges (Asien) und der Nil für Afrika. Die Figur des Nils ist leicht zu erkennen. Sie hat das Gesicht mit einem Tuch verhüllt.
Gian Lorenzo Bernini, der den Brunnen um das Jahr 1650 entwarf, wollte damit andeuten, dass der Nil ein Rätsel aufgibt, das bereits die alten Römer beschäftigte. Schon in der Antike fragte man sich nämlich, wo die Quellen des Nils sein könnten. Das lateinische Wort für Flussquelle ist „caput“, der Ursprung, ein Wort, dass zugleich auch „Kopf“, „Haupt“ bedeutet. Der verhüllte Kopf der Statue am Brunnen steht also für die unentdeckte Quelle.
Folgt dem Nil stromaufwärts, so kannten die Römer das Gebiet Ägyptens. Südlich davon schloss sich Numidien an (heute das Staatsgebiet des Sudan). Dort allerdings endete die bekannte Welt. In die weiteren Tiefen des afrikanischen Kontinents konnte man kaum vordringen. Zwar vermuteten schon römische Geografen, dass der Nil in zwei großen Seen entspringen würde. Es brauchte aber noch viele Jahrhunderte und eine ganze Reihe von Forschungsexpeditionen, bis man dorthin gelangen konnte. So entdeckte der portugiesische Jesuit Pedro Paéz 1613 die Quellen des blauen Nils. Doch erst 150 Jahre später wurden sie von einer schottischen Expedition wiedergefunden. Im 19. Jahrhundert gab es einen Wettlauf der Entdecker aus Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland, die sich auf die gefahrvolle Reise in das Herz Afrikas machten. Tatsächlich gesichert und vollständig bekannt sind die Nilquellen erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die aufwändige Suche nach der Quelle ist nicht bloß eine Frage der Geografie, sondern symbolisch eine Frage der Religion und Philosophie. Gesucht wird seit jeher die Quelle, aus der das gelingende Leben sein Wasser bezieht. Woher stammt das, was das Leben ausmacht? Woher kommt das Gute, woher das Wahre, woher das Schöne? Der Prophet Ezechiel (Ez 47) verwendet das Bild der Quelle, um seine Vision der göttlichen Gegenwart zu beschreiben. Nach Zeiten der Verwirrung und Gottlosigkeit entspringt am scheinbar verlassenen Wohnsitz Gottes, im Jerusalemer Tempel, der versiegte Quell der Gnade wieder neu. Der Prophet sieht, wie das Wasser aus dem Inneren des Tempels hervortritt und sich seinen Weg den Tempelberg hinunter in die Flussbetten bahnt. Aus dem trockenen Land wird so wieder fruchtbarer Boden. Wo Wüste war, entsteht eine grüne Oase. Gott ist wieder mitten unter sein Volk gezogen, so die Aussage Ezechiels, er möchte sein Volk Israel wieder lebendig machen. Die Wasser des Lebens fließen wieder.
Auch diese Vision Ezechiels hat Vorläufer. Als Gott die Welt schuf, legte er den Garten Eden an (Gen 4). Von diesem Garten aus strömen vier große Flüsse in die damals bekannte Welt. Wo Gott zu finden ist, da ist Leben, da ist die Quelle des Guten, des Wahren und des Schönen. Wer zu Gott kommt, kann von diesem Wasser des Lebens trinken.
Einige Kilometer vom Vierströmebrunnen entfernt steht die Lateranbasilika, die erste und bis heute eigentliche Kirche des römischen Bischofs, des Papstes. Diese Kirche ist nach römisch-katholischem Verständnis Quellort, „caput“. Die Inschrift auf der Fassade der Kirche lautet: „Sacrosancta Lateranensis ecclesia, omnium urbis et orbis ecclesiarum mater et caput.“ – „Die allerheiligste Kirche des Lateran, Mutter und Haupt (Quelle) aller Kirchen der Stadt und des Erdkreises“. Folgerichtig findet sich in der Kirche auch eine Darstellung der Quelle, aus der das Wasser des Lebens strömt. Das mittelalterliche Apsismosaik zeigt den wiederkehrenden Christus, der den Heiligen Geist aussendet. Von diesem geht das Wasser aus und ergießt sich über ein Kreuz, in dem einen kleine Auferstehungsdarstellung zu sehen ist. Das Kreuz wird so zum Brunnen, der die vier Weltströme, die Flüsse des Paradieses speist und an denen die Hirsche trinken, als Sinnbilder der menschlichen Seele, die nach Heil und Weisheit dürstet (Ps 42).
Das Bild Ezechiels erhält hier eine christliche Deutung. Nicht mehr der Tempel ist Wohnsitz Gottes. Wer Gott begegnen möchte, der begegnet ihm in Jesus Christus. „Reißt diesen Tempel ab und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufrichten“ (Joh 3,21). Jesus setzt sich hier selbst mit dem Tempel als Wohnsitz Gottes gleich. Später sagt er im Johannesevangelium: „Wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zu einer Quelle werden, deren Wasser ins ewige Leben fließt“ (Joh 14,4). Zu der Zeit, in der die Forscher sich damals darum bemühten, die Quellen des Nils zu finden und für eine geografische, naturwissenschaftliche Eindeutigkeit zu sorgen, begann man in Europa, die Suche nach der Quelle des Lebens für sinnlos zu halten. Zumindest wollte man die bis dahin unbestrittene christliche Antwort auf den Quellort nicht mehr gelten lassen. In der Philosophie strömten die Forschungsexpeditionen neu aus, um unentdeckte Quellen zu finden, neue Antworten auf den Ursprung des Guten zu geben. Ihre Suche blieb ohne endgültige Antwort. Heute würde man sagen: Die Suche muss jeder für sich unternehmen. Doch alleine ist es schwer, in das unbekannte Terrain der Wahrheit vorzudringen. Der Besuch im Lateran kann daher als Ermutigung verstanden werden, doch wieder einmal mit der pilgernden Expedition des Gottesvolkes dorthin zu reisen, das seine Quelle immer gekannt hat. In Jesus Christus findet es den Ort des lebendigen Wassers, den Ausgangspunkt und den Zielort der göttlichen Wahrheit. „Christus caput est ecclesiae“ (Eph 5,23). Christus ist das Haupt, die Quelle der Kirche. Er ist zugleich ihr Ziel. Das lateinische „caput“ kann nämlich auch „Mündung“ heißen.
Beitragsbild: Apsismosaik der Lateranbasilika in Rom
Danke für die erklärenden Worte heute in St Anna. Nach dem Gottesdienstbesuch frage ich mich ob Sie das Weihefest am 5. August auch gefeiert haben?
Verstehen Sie worauf ich hinaus möchte?
Warum ist DIESES Weihefest für Sie besonders wichtig? Natürlich, Sie sagten es. Caput. Bloss wie meinen Sie caput? Ich meine so ganz von innen… mit der Betonung genau dieses Weihefestes.
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Maria Maggiore ist natürlich auch schön – ehrlich gesagt, mir persönlich sind die Kirchweihfeste nicht besonders wichtig. Der Festkalender gibt mir allerdings vor, dass der Lateran heute die normale Feier Sonntags verdrängt. Und ehrlich gesagt: Dieses Fest hat sehr schöne Lesungstexte bekommen, über die ich gerne gepredigt habe.
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Danke für die Erklärung. Wieder etwas gelernt 😊
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