Bei einem Schiffsunglück im Jahr 1905 im Nordmeer geht Paul, ein 25jähriger Mann über Bord. 65 Jahre später wird er gefunden, eingefroren in einen Eisblock. Paul lebt noch und wird behutsam aufgetaut und in die Familie seines Enkels gebracht. So beginnt die Handlung der französischen Filmkomödie „Hibernatus“ (französisch „Winterschlaf“) mit Louis de Funés, die 1969 unter dem albernen Titel „Onkel Paul, die große Pflaume“ in die deutschen Kinos kam. Der vormals tiefgefrorene Paul, der ja 65 Jahre „verschlafen“ hat, wacht in einer ganz anderen Welt auf. Zur Zeit des Unfalls gab es noch keine Autos, kein Fernsehen, keine Kühlschränke, Schnellzüge oder Mondraketen. Um ihn vor einem Zivilisationsschock zu bewahren, versucht seine Familie, ihm die vertraute Welt der Jahrhundertwende vorzuspielen, möbliert die Wohnung um, kleidet sich nach damaliger Mode und bemüht sich um eine alte Sprache. Die Hoffnung ist, dass Paul sich in dieser Zeitkapsel zurechtfindet und so langsam wieder ins Leben zurückkehren kann.
Als Komödie ist das sehr lustig. So unrealistisch die Geschichte auch ist – ein wenig davon ereignet sich ja auch im wirklichen Leben. Die Zeit hält ja nicht inne. So kann es älteren aber auch jüngeren Menschen geschehen, dass sie plötzlich feststellen müssen, dass es die Welt, wie man sie kannte, gar nicht mehr gibt, etwa, wenn man nach Aufbrauchen seines Vorrats an Glühbirnen feststellt, dass diese Produkte lange schon nicht mehr erhältlich sind, ich meine Bahnfahrkarte nicht mehr am Schalter kaufen kann oder meine Versicherung nur noch online zu erreichen ist, weil sie keine Filialen mehr unterhält. Gerade in der Kirche können wir das „Zeitkapseln“ sehr gut und gestalten das kirchliche Leben so, wie es einmal gewesen ist, ohne zu sehen, wie es unter den heutigen Bedingungen sinnvollerweise sein könnte oder sollte – dies aber nur nebenbei.
Man kann das heutige Evangelium vom Pharisäer und vom Zöllner lesen als „Geschichte von einem der plötzlich merkte, dass er aus der Zeit gefallen war“ (Lk 18, 9-14): Zwei Männer gehen zum Tempel, ein Pharisäer und ein Zöllner. Beide verrichten dort ein Gebet. Der Pharisäer stellt sich nach vorne, betont vor Gott seine guten Taten, der Zöllner bleibt im Hintergrund und bekennt Gott seine Schuld. Am Schluss heißt es, dass das Gebet des Zöllners von Gott angenommen wurde, dass er gerechtfertigt ist, also Ansehen vor Gott gefunden hat. Das Gebet des Pharisäers bleibt unerhört.
Dieses Ergebnis des Gleichnisses widerspricht den Regeln. In der „alten Ordnung“, der sich der Pharisäer verpflichtet fühlt, hat dieser alles Notwendige getan, um vor Gott als „gerechtfertigt“ zu gelten. Er hat versucht, sich so gut es geht an das Gesetz des Mose zu halten. Die Pharisäer waren eine geistliche Bewegung, welche die Menschen in Israel zu einer neuen Gesetzestreue führen wollten. Je besser Israel das Gesetz hielt, so die Vermutung, desto eher wird Gott sich seinem Volk wieder zuwenden und es aus der Fremdherrschaft befreien. Dieses „Rezept“ der Gesetzestreue ist uralt. Es spinnt sich wie ein roter Faden durch die Tora und die Prophetenschriften.
Das Evangelium allerdings verkündet etwas anderes. Es geht davon aus, dass Gott in Jesus Christus bereits eine „Zeitenwende“ eingeleitet hat. Mit ihm beginnt die Endzeit und überholt damit die „alte Ordnung“. Dies bedeutet nicht, dass das Gesetz nicht gelten würde. Es bedeutet aber, dass die Auslegung des Gesetzes, wie Jesus sie lehrt, gilt. Und Jesus führt das Gesetz auf seinen Kern zurück. Es geht um die wahre Bekehrung des Menschen, um die Gottes- und Nächstenliebe. Angesichts der Dringlichkeit der Neuhinwendung zu Gott (hier stimmt Jesus im Ziel mit den Pharisäern überein), kann es nicht mehr um eine minutiöse Befolgung aller Einzelvorschriften gehen. Sie lenken unter Umständen sogar vom eigentlichen Glaubensakt ab. Vielmehr hängt alles von einem neuen Glaubens- und Lebensstil ab, der auf die Bekehrung zu und Nachfolge von Jesus setzt. Gottes Heilsangebot richtet sich gerade an die scheinbar ganz Verlorenen und bezieht schließlich auch die Nicht-Juden mit ein.
Diese Veränderung der Bedingungen, diese göttliche Zeitenwende, haben die Pharisäer nicht verstanden oder nicht akzeptiert. Sie sind keine schlechten oder ungläubigen Menschen. Sie sind nach dem Zeugnis des Evangeliums in ihrer Mission schlicht „aus der Zeit gefallen“, leben noch in einer „vergangenen Ordnung“. Dieses Verharren im Alten wird ihnen von Jesus immer wieder vorgeworfen. Der Pharisäer im Gleichnis muss das erfahren. Als sein Gebet nicht erhört wird, merkt er, dass er „aus der Zeit gefallen ist“, seine Überzeugungen so nicht mehr gültig sind.
Für die Christen in der Folgezeit war klar, dass diese göttliche Zeitenwende nicht mehr übertroffen werden kann. Die Kriterien von Bekehrung, Glauben an Jesus Christus, Nachfolge und Nächstenliebe bleiben als christliche Kriterien durch die Zeiten bestehen. Jede Reform der Kirche muss sich an diesen Kriterien messen lassen. Wo ein mehr an Bekehrung, Glauben, Nachfolge und Nächstenliebe entsteht, ist die Reform gerechtfertigt.
Nochmal zurück zu Opa Paul, der im Film aus dem Eis aufgetaut wurde. Das Eis hatte ihn konserviert. Für die neue Zeit ist er ein Konservativer. Der Film zeigt ihn als solchen in einer doppelten Weise. Zum einen ist er der, der scheinbar einfach so weiterleben möchte oder muss, wie er es zum Zeitpunkt seines Einfrierens gewohnt war. Als ein solcher Konservativer müsste er die sich wandelnde Welt ablehnen. Er möchte es so haben wie früher. In dieser Weise wird er leicht zur komischen Figur.
Es gibt aber noch eine andere Form seines Konservativismus, mit der ich mich übrigens gut identifizieren kann. Als Zeuge einer vergangenen Zeit bringt der Eingefrorene Erfahrungen und Überzeugungen mit, die in der sich wandelnden Welt fehlen.
Das halte ich für eine wichtige Aufgabe der Kirche heute. Als Christ erlebe ich mich nicht als jemand, der vergangene Formen des Christseins reinszenieren möchte, wie es die Traditionalisten und Nostalgiker gerne tun. Ich erlebe mich aber als jemand, der eine geistliche Tradition, einen Glauben und eine tiefe Hoffnung aus alter Zeit neu in diese Zeit einbringen möchte, nicht, um diese Zeit wieder zur alten Zeit zu machen, sondern, um ihr einen wahren Fortschritt zu ermöglichen. Das Vergessene wird wieder aufgetaut. Und mit Erstaunen bemerken viele vielleicht: Schau, es ist mit uns verwandt. Das würde ich mir für ein lebendiges Christentum wieder wünschen.
Beitragsbild: Ziffernblatt der Turmuhr des Palazzo dei Priori, Perugia (Italien)
Sehr treffende Worte! Die Kirche ist die Kirche aller Zeiten und immer aktuell, weil Christus immer da ist.
LikeLike