Baue meine Kirche auf [zur Pfarrereinführung in Neubrandenburg]

Heute ist der Gedenktag des Heiligen Franz von Assisi. Aus dem reichen Legendschatz, der sich um seine Person gebildet hat, wird auch die folgende Geschichte erzählt: Eines Nachts hatte Innozenz III., der zur Zeit des Franziskus Papst war, einen Traum. Er sah seine Bischofskirche, die Lateranbasilika in Rom, wie sie von einem Erdbeben erschüttert wurde. Die Kirche geriet ins Wanken und begann, auseinanderzubrechen. Da erschien am hinteren Ende der Kirche eine Gestalt und stützte mit seinen Armen die Basilika, so dass sie nicht zusammenbrach. Diese Traumgestalt erkannte Innozenz wieder, als Franziskus das erste Mal zu ihm nach Rom kam. Der Papst erkannte: Dieser war es, der die in Not geratene Kirche wieder aufbauen würde.

Was wird unser Erzbischof geträumt haben? Vielleicht hat er den Hamburger Mariendom in einer ähnlichen Verfassung gesehen. Der Dom und mit ihm das ganze Bistum schwankte und geriet in Gefahr einzustürzen. Da erschien im hinteren Ostchor eine Gestalt und stützte das Bauwerk. Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint. Aber ein bisschen Wahrheit ist auch in diesem Bild. Ich habe diesen Eindruck gehabt, als ich mit Leuten hier aus Mecklenburg über die Entscheidung des Bischofs ins Gespräch kam, mit Markus Diederich einen neuen Pfarrer für die Pfarrei St. Lukas zu ernennen. Dass in dieser Zeit der bröckelnden Strukturen unseres Bistums noch Pfarrer ernannt werden, ist tatsächlich nicht mehr unbedingt zu erwarten. Und sicher hat unser Erzbischof auch im Sinn gehabt, hier in der Weite unseres Bistums für eine gute Stabilität zu sorgen.

Die Franziskuslegende hat natürlich eine zweite Ebene, eine symbolische Bedeutung. Damals, Anfang des 13. Jahrhunderts, war es so: Innozenz III. war ein starker Papst, das heißt, er war vor allem ein guter Politiker. Die Kirche und der Kirchenstaat waren in sicherem Fahrwasser. Innozenz pflegte gute Kontakte in die großen Herrscherhäuser und hatte der Kirche Sicherheit und Wohlstand verschafft. Diese äußere Blüte brachte aber zugleich eine innere Schwäche mit sich. Es gab eine spirituelle Krise. In der Weite Europas brachen an verschiedenen Stellen Reformbewegungen auf, Gruppen, die die Kirche erneuern wollten, oder gleich ihre eigene Kirche gründeten. Sie wollten zum Evangelium zurück, predigten Askese und eine strenge Moral. Viele waren apokalyptische Gemeinden, die sich aus der Welt entfernten. Die Gemeinschaft, die um den Heiligen Franziskus entstanden war, der sich ebenfalls von der Welt losgesagt hatte und als Asket und Wanderprediger unterwegs gewesen war (als solche den evangelischen Räten Armut, Keuschheit und Gehorsam eine große Bedeutung beimaß), schien auf den ersten Blick ebenfalls in diese Bewegung der Zeit hineinzupassen. Die Legende vom Traum des Papstes nimmt nun schon das Ergebnis der Prüfung der franziskanischen Gemeinschaft vorweg. Gott hatte dem Papst schon gezeigt, dass er beim Neuaufbau der Kirche und beim Kampf um ihre Einheit auf Franziskus und seine Brüder zählen konnte. So wurden die Franziskaner tatsächlich zu einem Eckpfeiler einer kirchlichen Erneuerung, die eine Hinwendung zum Evangelium, eine handfeste Mystik, eine lebensnahe Verkündigung und eine tatkräftige Nächstenliebe verfolgte.

Die Geschichte geht aber weiter – auch das sollte man erzählen: Die franziskanische Bewegung wuchs und wurde groß. Sie verbreitete sich rasend schnell überall in Europa. Die Franziskaner gründeten Klöster in den Städten und bauten große Kirchen. Die Franziskaner kamen schnell zu Geld und Einfluss. Der erste Franziskaner wurde noch im 13. Jahrhundert Papst – 50 Jahre nach dem Tod des Franziskus. Die Ordensbrüder merkten sehr bald: Wir sind gar nicht mehr die ursprüngliche Truppe des Franziskus. Die Zeit war fortgeschritten und die Vergangenheit ließ sich nicht mehr wiederholen. Der Orden war nicht mehr, was er einmal gewesen war. Und im Versuch der Erneuerung des Ordens begannen die Franziskaner sich zu streiten und spalteten sich in mehrere Unterabteilungen. Die nächste Welle der Erneuerung musste kommen.

Ich erzähle dies, weil es für die Kirchengeschichte typisch ist. Die Kirche lebt immer zwischen Abbruch und Erneuerung. Sie häutet sich im Lauf der Zeit immer wieder und baut sich in veränderter Gestalt auf. Es gibt keine Epoche der Kirche, die ewig gültig in ihrer Gestalt, ihrer Frömmigkeit oder Struktur geblieben wäre. Insofern ist die Zeit, die wir in Deutschland und in unserem Bistum gerade erleben nicht untypisch. Es bricht gerade mit der Pfarrei eine gewohnte kirchliche Sozialstruktur zusammen, die in dieser Form ungefähr 200 Jahre alt ist und in der Nachkonzilszeit eine interne inhaltliche Reform erfahren hatte. Wir versuchen gerade noch, diese Form irgendwie zu stützen und notdürftig zu flicken, auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass dies nicht von Dauer sein kann. Es wird wieder etwas Neues entstehen, auch wenn uns dafür vielleicht gerade der Blick fehlen sollte.

Ich sage das hier in Neubrandenburg in einer Pfarrei, die für unsere Kirche in Mecklenburg eine besondere Bedeutung hat. Gestern war der 3. Oktober, Tag der deutschen Einheit. In der Nachwendezeit ist gerade von Neubrandenburg ein wichtiger Impuls ausgegangen. Es war ein ganzer Kreis von Katholiken aus der Gemeinde, die sich mutig der geschichtlichen Herausforderung gestellt haben. Sie haben sich als Christen aus der Deckung gewagt und sind mit viel Optimismus und Schaffenskraft losgezogen, um die Gesellschaft im christlichen Sinn neu zu prägen und politische Verantwortung zu übernehmen. Die Zeitzeugen von damals berichten von diesem Aufbruch. Sie sagen: „Wir wollten damals etwas verändern“.

Diesen Satz höre ich in der Kirche zur Zeit selten, zumindest, wenn es um die konkrete Kirche vor Ort geht. Wer will hier noch wirklich etwas verändern? Ich erlebe eher, dass Leute sagen, „wir wollen das Schlimmste verhindern.“ Sie meinen damit, dass sie sich einsetzen möchten für das zusammenfallende Haus ihrer kirchlichen Beheimatung, für ihre Gemeinde, die ihnen über viele Jahre so wichtig gewesen ist. Wir flicken und strengen uns an, diese Vergangenheit nicht zur Vergangenheit werden zu lassen. Es bröckelt, aber noch ist es nicht zusammengestürzt. Ich erlebe auch, dass Leute mit Zweckoptimismus sagen: „Es wird schon nicht so schlimm kommen. Wenn wir uns anstrengen, dann kommen wir über diese Durststrecke, die wir gerade erleben hinweg.“ Ich vermute, man wird sagen müssen: Es wird so schlimm kommen und vielleicht noch schlimmer. Es wird schlimm kommen für die, die erwarten, dass es wieder werden könnte, wie man es kannte, dass es sich wieder so anfühlt, wie es damals war in meiner Gemeinde.

Markus Diederich, ihr neuer Pfarrer, hat mir einmal ein Buch geschenkt. Es stammt vom amerikanischen Priester James Mallon und trägt den Titel „Divine Renovation“ – „Göttliche Renovierung“ – Gott erneuert seine Kirche. Mallon ist im englischsprachigen Raum sehr bekannt geworden. Er hat damals mit einem innerkirchlichen Reformprogramm großen Erfolg gehabt. Er hat die Pfarrei als geistliche Gemeinschaft gewissermaßen neu erfunden. Es sind aus Glaubenskursen heraus neue lebendige katholische Gemeinden entstanden. Am Anfang seines Buches schildert Mallon, wie er damals begonnen hat. Er wurde als Pfarrer in eine neue Gemeinde geschickt. Schnell traf er auf Menschen, die neu am Glauben Interesse zeigten. Mallon hatte den Plan, über Glaubendkurse neue Gemeinschaften zu etablieren und traf auf ein Problem: Die Räume der Pfarrei waren dafür nicht frei. Sie waren im Kalender immer schon von Menschen und Gruppen besetzt, die dort ihr gewohntes Gemeindeleben pflegten und sich zum Kaffeetrinken oder Kartenspielen trafen. Mallon schildert dann, wie er in einem ersten Schritt diesen Gruppen die Räume kündigte, sie also aus dem Pfarrzentrum hinauswarf. So fing es an.

Mich selbst hat diese Schilderung ehrlich gesagt empört. Ich bin ja selbst Pfarrer und halte diesen rabiaten Umgang mit den Gemeindemitgliedern für unpassend. Vielleicht habe ich mich auch einfach ertappt gefühlt. Ich kenne die Situation gut. Die Menschen, auf die ich treffe sind meist sehr liebenswert. Sie sind häufig seit vielen Jahren in der Gemeinde aktiv, haben sich hier vergemeinschaftet und kommen gerne. Ich möchte sie gerne unterstützen und nicht vor den Kopf stoßen. Und Ärger mit ihnen möchte ich natürlich auch nicht. Also versuche ich, es auch für sie gut zu machen. In der Folge bin ich allerdings schnell dabei, zu kompensieren, Zeit in den Erhalt oder in die Kompensation bröckelnder Strukturen zu stecken. Ich versuche, eben doch noch diese oder jene zusätzliche Messe möglich zu machen, Angebote auch für kleiner werdenden Gruppen zu erhalten, einzuspringen, wo Angebote aus ehrenamtlicher Kraft nicht mehr gehalten werden können, möglichst viel an Räumen und Möglichkeiten zu erhalten.

Auf der anderen Seite merke ich aber auch, dass tatsächlich Neues aufbricht. In den letzten Jahren haben sich, z.T. auch über Glaubenskurse neue Gemeinschaften in der Pfarrei gebildet. Es entsteht tatsächlich auch etwas Neues, Zukunftsverheißendes – aber ich selbst bin nicht Teil davon. Ich wäre es gerne, werde aber durch das andere, was ich meine tun zu müssen, damit der Laden nicht „zusammenbricht“, in meinen Möglichkeiten sehr eingeschränkt. Das Beste was ich häufig tun kann ist, den Neuaufbrüchen keine Hindernisse in den Weg zu legen. „Baue meine Kirche auf“ – die Botschaft, die Franziskus damals von Jesus hört, kostet ziemlich viel Mut. Einem neuen Pfarrer wünsche ich, dass er diesen Freiraum bekommt, das Neue zu fördern und das Alte vergehen zu lassen. Die Kirche bröckelt an allen Orten. Sie lässt sich aber nicht von außen neu aufbauen, durch eine Veränderung von Arbeitsweisen oder Strukturen, sondern durch innere Stärke im Vertrauen auf das, was eben unverändert bleibt: Christus selbst, der Glaube, der immer wieder zu neuen Formen fähig ist, die Heilige Schrift und Feier der Sakramente. Neubauten erfreuen sich nicht immer großer Beliebtheit. Sie sind aber besser, als irgendwann nur noch durch Ruinen zu wandern. Die Kirche ist wahrscheinlich immer im Abbruch, aber genauso immer im Aufbruch. Wir sollten wollen, dass sie sich verändern darf.    

Beitragsbild: Fassade einer Pfarrkirche in Gubbio, halb im Erdbeben zerstört       

5 Kommentare zu „Baue meine Kirche auf [zur Pfarrereinführung in Neubrandenburg]

  1. Danke für diesen offenen, in gewisser Hinsicht persönlichen Beitrag.

    Bestimmt haben Sie Recht, dass die katholische Kirche schwankt und, insbesondere in Europa, zerfällt.

    Der hl. Franziskus hat Wasser getrunken, nicht Wasser gepredigt. Er hat Liebe zu den Geschöpfen gelebt, nicht Folgsamkeit gefordert. Er hat seine Herde versorgt, nicht für den eigenen Reichtum ausgebeutet.

    Die katholische Kirche in Europa zerfällt, weil sie an Macht und Reichtum glaubt.

    Der hl. Franziskus kam aus reichem Hause. Er wandte sich ab, weil er erkannte, dass weltlicher Reichtum ein Lockmittel des Versuchers ist. So wie es auch die Gier nach Macht, Karriere und Genusssucht sind.

    Papst Franziskus erfuhr in seiner Mission zurück zur Bescheidenheit, Nächstenliebe und Bewahrung der Schöpfung erheblichen Widerstand im eigenen Haus. Dabei war das, was er forderte, nur ein kleiner, erster Schritt auf dem langen Weg zurück in die Nachfolge.

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  2. Bevor ich es vergesse: Sie beziehen sich auf Nikolaus IV. Würden Sie sagen, dass Nikolaus IV in seinem Papsttum die franziskanischen Grundsätze lebte?

    Ich gehe noch einen Schritt weiter: Denken Sie, dass das Amt des Papstes grundsätzlich geeignet ist ein Leben nach franziskanischen Grundsätzen zu führen?

    Eine dritte, letzte Frage: Welche Schritte halten Sie für erforderlich, um die katholische Kirche zu „renovieren“?

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    1. Leider weiß ich über Nikolaus IV. zu wenig, um etwas über seinen franziskanischen Lebensstil als Pspst Aussagen zu können.
      Es ist ja die Frage, was ein franziskanischer Stil ist – gerade darüber waren sich ja schon die Franziskaner nicht einig. Bei Franziskus selbst sehe ich eine große Freiheit, die ihm eine furchtlose missionarische Tätigkeit ermöglicht. Zugleich sehe ich bei ihm eine große Strenge. Die Kreuzesmystik ist bei Franz sehr ausgeprägt. Er selbst hat über viele Jahre wahrscheinlich wegen einer Krebserkrankung unter furchtbaren Schmerzen gelebt. Die Armut war ihm wichtig, genauso aber auch der Gehorsam und die Keuschheit. In einer solchen konsequenten Strenge liegt sicher ein Weg der Erneuerung.
      Die schwierigste Frage bei der Erneuerung der Kirche (zumindest mal in Deutschland) ist das, was Papst Franziskus einmal den modernen Pelagianismus genannt hat, also der Glaube, aus eigener Kraft, durch Organisation, Bürokratie und Programme die Kurche verändern zu können. Am wirkungsvollen wäre wahrscheinlich ein Wegfall der Kirchensteuer. Dann würde sich offenbaren, wie viel Substanz tatsächlich noch da ist…

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      1. Bzgl. Franziskus kann ich folgendes Buch sehr empfehlen: Kammerer, Krippendorff, Narr: Franz von Assisi. Zeitgenosse für eine andere Politik. Erschienen im Patmos Verlag.

        Entschuldigung, Ihre Beschreibung von Franziskus erinnert mich an „moderne“ Kommunikation: Alternative Fakten, Silencing und Beleuchtung von Details, die zu einer Verkehrung des Gesamtbilds führen. Vielleicht nicht ganz so drastisch, aber die Schärfe der Worte hilft im besten Fall den Kern der Botschaft zu erkennen ☺️.

        Ich versuche mal den heiligen Franziskus auf meine Art zu beschreiben (Zitat S. 68 d. Buches): „Oben wird unten, das Bittere wird süß, das Unangenehme verwandelt sich in Wohlgefühl.“ Hören Sie zwischen den Zeilen die Bergpredigt?

        Wenn ich hingegen Ihre Beschreibung des hl. Franziskus lese, erkenne ich ihn nicht wieder.

        Auch Greta Thunberg wird durch die libertäre Bewegung auf ähnliche Weise dargestellt. Ein paar Körnchen Wahrheit werden benutzt um Angst vor Wirtschaftskrise, Kommunismus und „grünem Diktat“ zu schüren. Die Vision einer Greta von der Rettung der Schöpfung, von einer Abkehr von Krieg, Ausbeutung und Gewalt bleiben ebenso unerwähnt wie ihre Bereitschaft trotz Anfeindung und Diffamierung einen ganz und gar „unbequemen“ Weg zu gehen.

        In Bezug auf Franz wird aus seiner Entscheidung selbst diszipliniert und bescheiden zu leben eine Bedrohung für die anderen, es ihm gleichzutun. Es entsteht Angst beim Leser selbst strengen Regeln gehorchen zu müssen, in Armut leben zu müssen, Schmerzen erleiden zu müssen.

        Ich sage jedoch: Wer eine Abkehr von Überfluss und Macht als Diktat erlebt (und keinen Drang zu einem bescheidenen Leben verspürt), wird nicht in den Genuss von Freiheit kommen, sondern in seiner Angst vor Verlust gefangen bleiben. Das kann jeder für sich selbst entscheiden.

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