Hallow
Der eben erwähnte Peter Thiel gehört zu den Investoren einer App mit dem Namen „Hallow“ („Heilig“). Mit über 23 Millionen weltweiten Nutzern wirbt die Firma, die Hallow betreibt damit, die „Gebets-App Nr. 1“ anzubieten. Ich habe mir die deutsche Version heruntergeladen, um einen Einblick in das Angebot zu erhalten. „Hallow“ bietet mir zunächst verschiedene Gebetsformen an. Sprecherinnen begrüßen mich beim Aufruf eines Angebotes und führen mich durch das Gebet. So kann ich mit den Hallow-Stimmen den Rosenkranz beten, eine Novene, das Vater Unser, Teile des Stundengebets. Ich habe die Möglichkeit, einen geführten Tagesrückblick oder eine Schriftbetrachtung zu halten. Daneben habe ich Zugriff auf aktuelle Sonntagspredigten, Impulse und Vorträge, z.B. zu Heiligen oder kann Joseph Ratzingers Jesus-Trilogie vorlesen lassen. Was sofort auffällt: Hier geht es nicht irgendwie um das Beten oder das Christentum. Es geht um traditionelle katholische Inhalte und Formen. Zu denen, die Inhalte für die App beisteuern, gehören Priester der „Legionäre Christi“ oder Mönche aus dem Stift Heiligenkreuz. Auch die „Deutsche Tagespost“ hat Inhalte geliefert. „Katholisch“ wird hier also in einer traditionellen, eher konservativen Ausprägung geliefert.
Ich möchte in der Folge gerne von einem „expliziten Katholizismus“ sprechen. Ich verstehe darunter einen Katholizismus, der sich um Eindeutigkeit bemüht. Die oben beschriebene „pianische“ Epoche kann als solche Epoche eines expliziten Katholizismus verstanden werden. Das katholische Lehramt spielt in ihr eine wichtige Rolle. Es sagt mit möglichst großer Eindeutigkeit, wie der Glaube zu verstehen ist und welche gesellschaftlichen Irrtümer aus dem Glauben abgelehnt werden. Den Gläubigen werden bestimmte Frömmigkeitspraktiken an die Hand gegeben, um ihren Glauben zu pflegen und zu vertiefen. Dazu gehören der Rosenkranz, die Novenen, Maiandachten, häusliche Andachten. Wichtig sind die Marien- und Heiligenverehrung, der Besuch der Heiligen Messe und das Beichtsakrament, die Eucharistische Anbetung oder die Fastengebote, Wallfahrten und vieles mehr. Die pianische Frömmigkeit ist eine geregelte Frömmigkeit, die durch klare Anweisungen eine gewisse Sicherheit gibt und starke Positionen für das Glaubensleben formuliert. Das Katholisch-Konfessionelle tritt in ihr besonders hervor.
Was bewegt einen Tech-Profi wie Peter Thiel, ausgerechnet in eine App zur Förderung eines expliziten Katholizismus zu unterstützen? Neben einer möglichen Gewinnerwartung („Hallow“ ist ein Bezahldienst) passt die App offenbar in das ideologische Portfolio des Investors. Wie die Beispiele von Peter Thiel und Giorgia Meloni gezeigt haben, spielt das Christentum im rechten identitären Denken eine durchaus wichtige Rolle. Die Idee ist ja, einen Gegendiskurs zum linksliberalen Denken aufzubauen, indem man neue kollektive Identitäten fördert. Neben den Faktoren „Nationalität“ oder „Kultur“ ist dabei auch der Identitätsmarker „Religion“ wichtig. Meloni bekennt sich ausdrücklich zu einer Rückbesinnung auf das christliche Erbe. Meine Vermutung ist, dass ihr die konkrete Kirche und auch die durchaus nicht einseitige Botschaft der Bibel gar nicht so wichtig sind. „Christentum“ funktioniert mehr als eine Chiffre für „Tradition“, „Werte“ und als Distinktionsmerkmal („Unterscheidungsmerkmal“) gegenüber anderen Kulturen. Das Projekt einer Re-Christianisierung findet offensichtlich Unterstützer. Die katholische Kirche ist dabei aufgrund ihrer von außen gesehen straffen Führung und klaren Botschaft ein guter möglicher Partner. Allerdings ist es wohl nicht die derzeit existierende Kirche, sondern die Utopie einer vom linken „Mainstream“ gereinigten Institution (so, wie die Linke die Utopie einer von allerhand Tradition gereinigten Kirche entwickelt). Vorbild dürfte wohl die Kirche des „Gegendiskurses“ sein, wie sie sich unter Pius IX. gebildet hatte.
Dies ist erstmal meine Vermutung. Ich sehe allerdings eine Reihe von Anzeichen für einen Vormarsch des „expliziten Katholizismus“. Wenn Sie in mit dem Leben einer durchschnittlichen katholischen Pfarrei in Deutschland vertraut sind, werden Sie davon wahrscheinlich noch nicht viel merken. Unsere Gemeinden sind in den vergangenen Jahrzehnten tendenziell eher von einem liberalen Katholizismus geprägt worden. Ihr Bild wird sich ändern, wenn Sie zu einer Veranstaltung von „Night fever“ gehen. Diese Bewegung, in den 2000er Jahren in Köln gegründet, veranstaltet an zentralen Orten eucharistische Anbetungsnächte – mit erstaunlichem Zulauf. Dort, aber auch bei Glaubensfestivals, wie denen des „Gebetshaus Augsburg“ oder der Loretto-Gemeinschaft werden Sie zu ihrem Erstaunen junge Menschen finden, eine Gruppe, die in unseren Gemeinden eher unterrepräsentiert ist. Zum Hauptort der Evangelisierung hat sich aber längst das Internet entwickelt. Die Szene der „Christfluencer“ ist recht unübersichtlich. Es sind Christen, die ihre Botschaft in medial modernem Gewand verkünden. In der Mehrheit verfolgen sie eine eher identitäre Auslegung des Christentums. Ihr Nähe zu rechtskonservativen Strömungen ist an verschiedenen Stellen schon problematisiert worden.[1] Die Tätigkeit der Christfluencer vollzieht sich meist außerhalb der offiziellen Kirchen. Längst haben sich für „explizite Christen“ eigene Medienkanäle entwickelt. Der ursprünglich sehr angestaubte und etwas dilettantische österreichische Spartensender „K-TV“ überrascht auf youtube derzeit mit erstaunlich gut gemachten und modernen Reportagen. Auch der konservativ-katholische Spartensender „Radio Horeb“ ist entgegen aller Vermutungen nicht eingegangen, sondern steht 20 Jahre nach seiner Gründung besser da als zuvor – und das bei schrumpfenden Katholikenzahlen. Rund 200 000 Menschen verfolgen nach Angaben des Senders täglich das Programm.[2] Mittlerweile wird das Medienangebot des Senders auch durch Videos ergänzt. Diese kommen zwar „nur“ auf 3000 bis 30 000 Aufrufe – dies ist aber deutlich mehr, als viele deutsche Bistümer mit ihren Produktionen erreichen. Der wöchentliche Impuls von Kardinal Woelki etwa erhält selten mehr als 500 Aufrufe. Einzig der Passauer Bischof Stefan Oster, der die neue Medienwelt unter den deutschen Bischöfen am besten zu verstehen scheint und selbst für einen „expliziten“ Glauben einsteht, ist mit seinen Videos deutlich erfolgreicher und kann für eine Predigt auch schon einmal bis zu 20 000 Aufrufe verbuchen.[3]
Neben der medial regen Tätigkeit fördern zwei andere Phänomene die steigende Bedeutung des expliziten Katholizismus. Zum einen steigt in vielen Diözesen der Anteil an „aktiven“ Christen, die in fremdsprachigen Gemeinden beheimatet sind oder insgesamt aus migrantischen Milieus stammen. Was in Deutschland als Bestandteile eines „konservativen“ oder „traditionellen“ Katholizismus angesehen wird – Anbetung, Novenen, Rosenkranz, Prozessionen, Katechese, Marienverehrung, Beichte – ist weltweit gesehen üblich und wird als „ganz normal“ empfunden. In großen katholischen Communities, etwa unter polnischen oder kroatischen Christen ist zudem ein wirklich identitäres Religionsverständnis zu finden. Nationale Zugehörigkeit und katholisches Christentum gehören hier häufig zusammen. Die Religion gehört zum genuinen Ausdruck der eigenen kulturellen Identität.
Zum zweiten habe ich an anderer Stelle schon darauf aufmerksam gemacht, dass die Priesterberufungen derzeit tendenziell eher in konservativeren und „explizit katholischen“ Gemeinschaften wachsen, während der Priesternachwuchs in den Seminaren der deutschen Bistümer auf eine sehr kleine Zahl zusammengeschrumpft ist, wobei auch in den diözesanen Seminaren der „explizite“ Glaubensansatz stärker geworden ist.[4] Für die nächsten Jahre lässt sich daher leicht prognostizieren, dass die Priester zu großen Teilen aus dieser „identitären“ Richtung kommen werden oder aus dem Ausland. Zwar haben die katholischen Fakultäten und Hochschulen zu großen Teilen den „Synodalen Weg“ unterstützt und sich tendenziell einer „liberalen“ Ausrichtung verschrieben. Diese wird aber zwar die „Grabenkämpfe“ verstärken, in der Wirklichkeit aber wahrscheinlich nicht allzu viel Einfluss auf die praktische Seelsorge haben.
Bei all dem gilt es zu beachten, dass das „explizite“ Christentum offensichtlich genug Unterstützer findet, die es auch finanziell fördern. Sender wie K-TV, Internetportale wie kath.net oder auch traditionelle Priestergemeinschaften werden zum großen Teil nicht von den Bistümern, sondern durch private Geldgeber finanziert. Es zeigt sich ein Trend, wie er auch in der Gesellschaft zu finden ist. Die kirchensteuerfinanzierten Institutionen sind in der Mehrzahl eher „liberal“ ausgerichtet (man schaue sich z.B. die Programme der Katholischen Akademien an), die privaten Initiativen auf dem kirchlichen Markt eher „konservativ-identitär“. Meine Einschätzung ist, dass die „Mitte“, ähnlich wie im politischen Diskurs eher schwächer wird. Die große Trägerstruktur „Gemeinden“, die so etwas wie die Sammelstelle für alle Katholiken eines Gebietes sein soll und für dieses so etwas wie ein kirchlicher „Monopolist“, wird deutlich schwächer. Die Katholiken sammeln sich verstärkt in ihren „Nischen“, in Gemeinschaften (digitalen und realen), die jenseits der Gemeinden stehen. Dieses „Halbfeld“ kirchlichen Lebens wird von den Bistümern noch wenig beachtet. Das ist ein Fehler, da gerade für Jüngere das Katholische jenseits der Pfarrgemeinde attraktiver wird. Die Bistümer, so ist mein Eindruck, werden den innerkatholischen „Diskurs“ entgegen ihrem eigenen Anspruch immer weniger steuern können. An ihre Stelle treten zunehmend andere Akteure.
Was ist zu tun?
Zu Beginn hatte ich von dem Phänomen berichtet, das meinen Mitbrüdern im Weihekurs, aber auch mir selbst aufgefallen ist: An bestimmten Festtagen kamen auf einmal auffällig mehr Menschen, darunter viele junge Leute in unsere Gottesdienste, die uns aus dem Gemeindekontext unbekannt waren. Meine Vermutung ist, dass dies ein Anzeichen für eine „Evangelisierung“ ist, die außerhalb unseres Arbeitsfeldes stattgefunden hat. Es gibt offenbar durchaus ein neues Interesse an der katholischen Kirche. Es ist schwierig, einen solchen Eindruck zu belegen. Es handelt sich um ein eher kleineres Phänomen, anders als in den Berichten aus Frankreich, wo der plötzliche „Ansturm“ auf bestimmte Gottesdienste und die auffällig hohe Zahl an Taufen unübersehbar zu sein scheinen. Ich kann aus meiner Praxis aus diesem Jahr allerdings ein paar Beispiele nennen:
Im Februar war ich mit einer Gruppe junger Leute in Rom. Die meisten von ihnen waren politisch in Parteien der Mitte aktiv, konfessionell allerdings kaum gebunden. Das Interesse, die katholische Kirche kennenzulernen und sich vertieft mit dem Christentum zu beschäftigen, war durchaus hoch. Dies war nicht unbedingt ein spezifisches Interesse am Glauben, aber eine Neugier, sich mit den Wurzeln unserer Kultur und Gesellschaft zu beschäftigen. Von einem jungen Mann erreichten mich neulich Anfragen zur katholischen Sexuallehre. Er selbst war bestrebt, nach der katholischen Lehre zu leben. Ich lernte ihn kennen. Es war ein ganz bodenständiger Typ, ein „normaler Katholik“ und alles andere als ein christlicher Eiferer. In dieser Richtung habe ich mit ein paar jüngeren Menschgen gesprochen, die sich mit Glaubensfragen kamen oder sich für die Taufe interessierten. Sie erzählten, dass sie sich über eine persönliche Beschäftigung mit dem Glauben oder der Bibel für die katholische Kirche interessieren würden, ohne, dass sie vom Elternhaus irgendeine religiöse Prägung erfahren hätten. Im Alpha-Kurs unserer Gemeinde kommen wir mit Menschen in Kontakt, die auf einer ähnlichen Suche nach einer geistlichen Heimat sind, teilweise Ungetaufte. Auffällig war für mich dieses Jahr die Zahl von „Unbekannten“ die an Aschermittwoch, an Karfreitag und in der Osternacht kamen, unter ihnen viele junge Leute. Die Suche nach geistlicher Heimat ist unter den bislang „Heimatlosen“ offenbar wieder attraktiv.
Ein paar Beispiele machen natürlich noch längst keinen Trend. Aber es bewegt sich etwas. Ich habe mich zurückerinnert an meine Kaplanszeit in Hamburg. Gespräche, wie die oben erwähnten habe ich dort meiner Erinnerung nach nie geführt, dafür aber eine ganze Reihe von solchen, in denen Menschen kamen und mit mir über die „verknöcherte“ Kirche diskutierten. Es gibt zumindest mehr an positiver Haltung gegenüber der katholischen Kirche, als ich es lange für möglich gehalten habe.
Meine Vermutung ist, dass dies mit der derzeitigen Diskursverschiebung, also der „ideologischen Großwetterlage“ zusammenhängt. Das Interesse an einer kulturellen Verankerung aber auch an einer Glaubenszugehörigkeit ist durchaus da. Ob dies nur ein kurzzeitiges Phänomen ist oder zu einem Trend wird, lässt sich noch schwer sagen.
Zunächst meine ich, dass wir uns über diese Entwicklung freuen sollten. Aus Verantwortung vor dem Evangelium muss es uns ein Anliegen sein, Menschen auf ihrer Suche nach dem Glauben und nach einer Heimat in der Kirche zu unterstützen. Es gibt dabei aber auch eine latente Angst, die in den Bistümern und Gemeinden zu spüren ist: Die Angst vor Vereinnahmung durch rechtsidentitäre politische und gesellschaftliche Kräfte. Wie gesehen, ist dort das Christentum und insbesondere die katholische und orthodoxe Kirche (in ihrer expliziten Form) Teil ihres Diskurses und spielt für sie bei der Schaffung neuer kollektiver Identitäten eine wichtige Rolle. Es handelt sich aber um gesellschaftliche, nicht um christliche oder gar kirchliche Überlegungen. Das Christentum scheint mehr ein Mittel zum Zweck zu sein. Ein Teil der „rechten“ Narrative besteht darin, die existierende Institution als ideologisch abgefallen zu kennzeichnen und ein Kirchenbild der pianischen Epoche zu favorisieren.
Insofern sehe ich innerkirchlich (in Deutschland) eine gewisse Abwehrreaktion gegen einen identitären Diskurs. Man möchte sich politisch nicht vereinnahmen lassen. Diese Abwehrreaktion sollte aber genauso für die andere Diskursseite entwickelt werden. Der Synodale Weg hat deutliche Züge gezeigt, dem linksliberalen gesellschaftlichen Diskurs die Türen zu öffnen. Auch hier ist die Kirche als Mittel zum Zweck willkommen. Man möchte sie als wichtige gesellschaftliche Großinstitution gerne gewinnen, um eigene gesellschaftliche Vorstellungen zu etablieren. Das Hissen der Regenbogenfahne, kann im Sinne eines Einsatzes für eine tolerante und vielfältige Gesellschaft durchaus christlich gemeint sein. Nach außen hin signalisiert es aber mittlerweile eine politische Position: Wir sind Teil des liberalen Diskurses.
Das Christentum ist nach beiden Seiten anschlussfähig. Auf der linken Seite ist es der Schutz des Individuums vor Ausgrenzung und Benachteiligung, der Wunsch nach demokratischer Beteiligung, die Wahrung von Menschenrechten oder die Kritik an einem überbordenden Kapitalismus. Auf der rechten Seite stehen das Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Identität, nach kultureller Prägung Europas, der Einsatz für Familie und Lebensschutz, die Aufrechterhaltung moralischer Prinzipien, eine Suche nach Struktur und Ritus, um Menschen eine persönliche Standfestigkeit zu geben.
Diese Abschlussfähigkeit ist eine Stärke. Die im wahrsten Sinn „katholische“, also „umfassende“ Kirche kann die verschiedenen Positionen in sich integrieren, und die unterschiedlichen Seiten mit den jeweils „gegnerischen“ Auffassungen unter der großen Sammlungsbewegung „Christentum“ bekannt machen. Das II. Vatikanische Konzil schreibt in „Gaudium et spes“ 23:
„Zu den charakteristischen Aspekten der heutigen Welt gehört die Zunahme der gegenseitigen Verflechtungen unter den Menschen, zu deren Entwicklung der heutige technische Fortschritt ungemein viel beiträgt. Doch das brüderliche Gespräch der Menschen findet seine Vollendung nicht in diesen Fortschritten, sondern grundlegender in jener Gemeinschaft von Personen, die eine gegenseitige Achtung der allseits erfassten geistigen Würde verlangt. Zur Förderung dieser Gemeinschaft der Personen bietet die christliche Offenbarung eine große Hilfe; gleichzeitig führt sie uns zu einem tieferen Verständnis der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens, die der Schöpfer in die geistliche und sittliche Natur des Menschen eingeschrieben hat.“
Insofern hat die katholische Kirche durchaus die Fähigkeit zu einem gesellschaftlichen Ausgleich. Entscheidend ist dabei aber eine ideologische „Unterscheidung der Geister“ – also eine Stärke, von außen kommende Kräfte als solche wahrzunehmen und in ihrer Wirkmacht zu beschneiden. Man hält heute von der katholischen Wende eines Pius IX. nicht mehr viel, weil sie die Kirche in vielerlei Hinsicht isolierte und blockierte. Pius hatte die Scheidung der Geister ins Extreme getrieben. Der Ansatz allerdings, das Heft das Handelns zurückzuholen und vom eigenen katholischen Urgrund eine eigene Position zu entwickeln, könnte unter veränderten Bedingungen und mit anderen Konsequenzen hilfreich sein.
Zunächst sollte die Kirche klar haben, dass sie eine Religionsgemeinschaft ist. Der Kern ist der Glaube an Jesus Christus. Der Glaube, der Gottesdienst, die Sakramente und das caritative „Outreach“ müssen im Mittelpunkt stehen. Im Kern geht es um eine christliche Herzensbildung, die den einzelnen Menschen befähigt, aus seinem Glauben die nötigen Konsequenzen für ein gutes und verantwortliches Leben selbst zu treffen (s. GS[5] 10). Von dort lassen sich dann verschiedene, aber eben auch nicht beliebige gesellschaftliche Positionen beziehen. Die Kirche ist gesellschaftlich aktiv. Dies ist Teil ihrer Mission (GS 42). Sie erkennt aber auch die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten an (GS 36[6]). Dies bedeutet, dass die Kirche zwar bestimmte aus ihrem Glaubensschatz abgeleitete ethische Grundsätze verkündet, allen voran die Würde der menschlichen Person (GS 27). Zugleich mischt sie sich aber nicht in die wissenschaftlich zu klärenden Fragen der besten Umsetzung bestimmter Ziele ein. Dieser Gedanke kann vielleicht auch um die Klärung politischer Fragen erweitert werden. Der Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit oder Ökologie lässt sich in wissenschaftlicher und politisch-praktischer Hinsicht mit unterschiedlichen Methoden erreichen. Die Kirche soll dabei die Einhaltung der Personenwürde und Freiheit der Menschen achten. Sie soll aber selbst keine Wissenschaft betreiben. Ich denke, auch dieser Ansatz hilft, politische Vereinnahmungen zu vermeiden.
Zum „Katholischen“ gehört eben auch die Integration verschiedener Stile der Frömmigkeit. Die Exklusion bestimmter Glaubenspraktiken schließt Menschen aus. Es sollte die Bestrebung sein, christliche Spiritualität in ihren verschiedenen Facetten als authentische Ausdrücke des einen Glaubens zu achten. Um die Spiritualität sollte kein „Kulturkampf“ entstehen. Dies gilt sowohl für diejenigen, die Marienliedern aus ihrem Gesangsfundus ausschließen, wie für die, alle, die den Rosenkranz nicht beten schon der ewigen Verdammnis anheimgeben wollen. Zurückgewiesen muss das werden, was als Mittel des Kulturkampfes eingesetzt wird. Gottesdienste, die mehr politischen Demonstrationen gleichen, sind mit großer Vorsicht zu behandeln. Auch solche Phänomen gibt es auf beiden Seiten.
Des weiteren scheint mir eine Überprüfung der Strukturen angebracht. Damit meine ich nicht nur die schon erwähnte Vielzahl an Beratungs- und Kontrollgremien. Ähnlich, wie in der Medienlandschaft die früheren etablierten Leitmedien in der bunten Vielfalt digitaler Angebote an Bedeutung verlieren, so ist die „Pfarrei“ als gedachtes pastorales Leitmedium nur begrenzt leistungsfähig. Auch die Bistümer sind längst nicht mehr exklusiv Garanten einer kirchlichen „Pastoralmacht“. Mittel- und Personalschwund tragen hier zur Schwächung maßgeblich bei. Es zeigt sich, dass ein lebendiges kirchliches Leben auch jenseits der Pfarreien existiert. Gemeinschaften, Internetcommunities, Schulen und Bildungseinrichtungen, caritative Orte, Klöster und andere christliche Zentren, Verbände etc. hat es immer schon gegeben. Sie nehmen in ihrer Bedeutung auch wegen der Schrumpfung der gemeindlichen „Mitte“ pastoralen Handelns allerdings zu. Besonders der digitale Raum ist zu großen Teilen den „freien“ Kräften überlassen worden. Da sich die „Pfarrei“ so bald wohl kaum wieder zu neuer Stärke entwickeln wird, ist die Unterstützung der anderen Gemeinschaften und Orte aus meiner Sicht wichtiger geworden, auch, um sie im katholischen Sinn als kirchliche „Zellen“ zu erhalten und ihr Abwandern in andere Einflusszonen zu verhindern.
Leo XIV. hat einen richtigen Schwerpunkt seines Pontifikats gesetzt, wenn er die digital geprägte neue Lebenswirklichkeit sehr viele Menschen, besonders auch im „Westen“ in den Blick nehmen möchte. Die neue Zeit, die von immer größeren Spannungen und gesellschaftlich derzeit von einem Schwinden der Mitte gekennzeichnet ist, erfordert eine veränderte christliche Methodik. Die katholische Kirche ist geeignet, als Ort der Begegnung und Mitte in der veränderten Welt eine wichtige Rolle zu spielen.
[1] Christfluencer in Deutschland: fromm, keusch, patriarchal
[2] Gott im Ohr: 20 Jahre Radio Horeb!
[3] Bischof Stefan Oster – YouTube
[4] Priesternachwuchs – Wie sich der Klerus aktuell verändert – Sensus fidei
[5] II. Vatikanische Konzil, Konstitution „Gaudium et spes“
[6] Der Artikel im Zusammenhang: Nun scheinen viele unserer Zeitgenossen zu befürchten, daß durch eine engere Verbindung des menschlichen Schaffens mit der Religion die Autonomie des Menschen, der Gesellschaften und der Wissenschaften bedroht werde. Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muss, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muss. Vorausgesetzt, dass die methodische Forschung in allen Wissensbereichen in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und gemäß den Normen der Sittlichkeit vorgeht, wird sie niemals in einen echten Konflikt mit dem Glauben kommen, weil die Wirklichkeiten des profanen Bereichs und die des Glaubens in demselben Gott ihren Ursprung haben. Ja wer bescheiden und ausdauernd die Geheimnisse der Wirklichkeit zu erforschen versucht, wird, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, von dem Gott an der Hand geführt, der alle Wirklichkeit trägt und sie in sein Eigensein einsetzt. Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft. Wird aber mit den Worten „Autonomie der zeitlichen Dinge“ gemeint, dass die geschaffenen Dinge nicht von Gott abhängen und der Mensch sie ohne Bezug auf den Schöpfer gebrauchen könne, so spürt jeder, der Gott anerkennt, wie falsch eine solche Auffassung ist. Denn das Geschöpf sinkt ohne den Schöpfer ins Nichts. Zudem haben alle Glaubenden, gleich, welcher Religion sie zugehören, die Stimme und Bekundung Gottes immer durch die Sprache der Geschöpfe vernommen. Überdies wird das Geschöpf selbst durch das Vergessen Gottes unverständlich.
„Nachfolge Christi“ … scheint megaout oder irre ich mich (hoffentlich)?
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Ein Prophet, egal ob „Der Gesalbte“ oder wie auch immer genannt, müsste sich heutzutage vermutlich durch „Social Media“ Gehör verschaffen — mit all den Begleiterscheinungen wie shit storms usw.
Aber mit was könnte ein Prophet noch punkten, da Sätze wie „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“ oder „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ und vieles mehr längst in der Welt sind ?
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Das bezog sich auf die Botschaft, egal ob über soziale Media oder wo, Hauptsache überhaupt!
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Danke für den Beitrag.
Sie erwähnen die „Unterscheidung der Geister“ – ich denke das ist eine hervorragende Methode, um in Sachen identitär versus „links-liberal“ zwischen Wolf und Schaf zu unterscheiden. Ich habe dazu ein paar ignatische Fragen:
Führt die identitäre Bewegung zu Liebe, Freude, Frieden, Geduld … (versus Hass, Unzufriedenheit, Aufruhr, Imperialismus und Accelerationismus)?
Wird Christus größer oder kleiner gemacht (oder nach Macht und Bewunderung gestrebt)? Dreht sich die Bewegung überhaupt um Jesus oder um Ideologie?
Fördert die identitäre Bewegung Barmherzigkeit gegenüber Bedürftigen und Ausgegrenzten oder verteidigt sie die Macht der Stärkeren?
Vielleicht haben Sie auch andere Fragen, die zB Maria, Eucharistie etc betreffen? Gerade im Bezug auf wahrhaft konservative Praxis (versus ideologische Effekthascherei) ist es doch bemerkenswert, wie selbstverständlich diese Praxis in der Kirche der Armen gelebt wird.
Haben Sie eine Antwort für mich in Bezug auf die Unterscheidung der Geister?)
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Ich glaube, dass sich ideologische Strömungen nicht dazu eignen, den christlichen Glauben wirklich zu verstehen oder zu fördern. Im Gegenteil: Auf beiden Seiten wird versucht, das Christentum für die eigene politische Agenda zu beanspruchen. In der identitären Bewegung dient das Christentum aus meiner Sicht vor allem als „kultureller Marker“. Als solcher muss er mit gelebtem Glauben, auch mit einer gelebten Nachfolge Jesu erst einmal nichts zu tun haben. Es ist die Herausforderung, Menschen, die über diesen Weg neu in Kontakt mit dem Christentum kommen, im Glauben dann auch weiterzuführen. Schwierig wird es aus meiner Sicht dort, wo der Glaube als rein private Angelegenheit verstanden wird – so, als ob es nur darum ginge, mir mein persönliches Heil zu sichern. Dieser Gedanke ist leider auch in einigen sehr frommen Kreisen vorhanden. Das Evangelium erinnert immer wieder daran, dass ein Glaube ohne das „Sakrament des Nächsten“ eben nicht vollständig ist. Auf der „linken Seite“ wird das Christentum oder besser die Kirchen gerne dafür in Anspruch genommen, um bestimmte soziale Ziele zu unterstützen (die ja auch durchaus ihre Berechtigung haben). Hier muss die Kirche aufpassen, nicht zur NGO zu werden, sondern Religionsgemeinschaft zu bleiben.
Die Unterscheidung der Geister ist daher aus meiner Sicht sehr wichtig. Die Frage ist genau richtig gestellt: Wo ist tatsächlich Trost oder Friede zu finden und welche Positionen sollte ich meiden, weil sie das Gegenteil davon stiften.
Die persönliche Frömmigkeit, gerade auch die Volksfrömmigkeit ist in vielen Weltgegenden ein wertvoller Ausdruck eines ernstgemeinten Glaubens. Papst Franziskus hat daher immer betont, dass es wichtig ist, sie zu fördern. Gleichzeitig gilt auch hier die Unterscheidung: Wo verläuft die Grenze zum Aberglauben, wo werden vielleicht auch Menschen durch Botschaften und falsche Propheten irregeführt.
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Danke für die Antwort.
Was meinen Sie mit kultureller Marker? Was beinhaltet das?
Ich halte es für schwierig bis unmöglich die Ziele der identitären (respektive expliziten) Bewegung mit den Kernbotschaften des Christentums in Einklang zu bringen.
Natürlich ist jedes verloren gegangene Schaf wichtig. Die Frage ist nur, ob man, wenn man danach sucht, nicht Wölfe vorfindet.
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