Kurz nachdem ich meinen Führerschein gemacht hatte, wurden meine wenig gefestigten Fahrkünste auf eine harte Probe gestellt. Ich bekam meinen Musterungsbescheid und hatte mich im Kreiswehrersatzamt in Bad Oldesloe einzufinden. Da dieses von meinem Wohnort aus nur sehr schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen war, musste ich das Auto nehmen. Die etwa 45 minütige Fahrt kostete mich einiges an Überwindung. Ich fühlte mich am Steuer noch sehr unsicher. Das Fahren erforderte meine volle Konzentration. Aber alles lief gut. Ich gelangte pünktlich nach Bad Oldesloe, führte meine Person den Beamten der Bundewehr vor und machte mich wieder auf den Rückweg. Kurz vor Ende der Fahrt allerdings passierte es. Es muss am frühen Abend gewesen sein und die tiefstehende Sonne blendete mich, als ich auf eine Fußgängerampel zufuhr. Im Gegenlicht konnte ich die Farbe des Ampellichts kaum erkennen, war wahrscheinlich außerdem noch in Gedanken und bemerkte beim Vorbeifahren, dass die Ampel auf „rot“ stand. Das war ein ziemlicher Schreck. Es war nicht passiert. Es waren keine Fußgänger da, die die Ampel überqueren wollten. Auch die Straße war leer. Aber ich hatte trotzdem eine rote Ampel überfahren. Wenn ein möglicher Zeuge des Vorgangs mich angezeigt hätte, oder diese Ampel mit einer entsprechenden Videotechnik ausgestattet gewesen wäre, hätte mich der Vorfall meinen frisch erworbenen Führerschein gekostet. Da hätten wohl auch die Umstände, wie es dazu gekommen war, nichts geholfen.
Das kleine Beispiel illustriert das Thema der heutigen Lesungen (Gen 18, Lk 11) vielleicht ein wenig. Es geht um die Abwägung zwischen einer allgemeinen und einer individuellen Gerechtigkeit. Die allgemeine Gerechtigkeit ist notwendig, um die Ordnung zu wahren. Es gibt bestimmte Regeln und Vorschriften, an die man sich halten muss. Im Straßenverkehr sind sie in der Regel besonders klar. Verstöße gegen diese Regeln müssen geahndet werden. Vom Standpunkt einer individuellen Gerechtigkeit ist die allgemeine Gerechtigkeit nicht immer richtig. Es kann Umstände geben, in denen die Anwendung der allgemeinen Gerechtigkeit ungerecht ist oder zumindest erscheint – wobei ich mein Verkehrsvergehen von damals nicht dazurechne. Das weiß auch unser Rechtssystem. Es gibt den Richtern Ermessensspielräume, um dem Einzelfall im Rahmen des Ganzen gerecht zu werden. Wer z.B. durch einen Gesetzesverstoß ein größeres Übel verhindert, wird dafür nicht oder milder bestraft. So wäre ich etwa sogar verpflichtet gewesen, eine rote Ampel zu überfahren, wenn dies nötig gewesen wäre, um einem Rettungswagen im Einsatz Platz zu machen.
Die Gerechtigkeit hat also etwas mit Ermessensspielräumen zu tun. In der Lesung geht Abraham genau deswegen mit Gott in die Diskussion. Die Stelle möchte zeigen, dass Gott ein zugleich gerechter und gnädiger Gott ist. Der verhandelte Fall scheint uns aus unserer Sicht sicher etwas merkwürdig: Gott möchte die Städte Sodom und Gomorra vernichten, weil ihre Einwohner sich schwer versündigt haben. Abraham führt nun ins Feld, dass sich neben den Sündern ja auch einige Gerechten in der Stadt finden könnten. Was an sich richtig wäre, dürfe doch nicht vollstreckt werden, wenn unschuldige davon betroffen wären. Gott folgt Abrahams Rechtsauffassung. Wenn sich 50 Gerechte finden, sei die Vernichtung der Stadt nicht zu vollstrecken. Abraham handelt dann die Zahl der Gerechten sogar noch herunter. Am Ende landet die Verhandlung bei zehn Gerechten. Vielleicht wäre das Urteil auch wegen eines einzelnen Gerechten nicht vollstreckt worden.
Gehen wir ein wenig von diesem alttestamentarischen Text weg, der uns wegen der Vorstellung, dass Gott bewusst Menschenleben vernichten möchte in gewisser Weise unannehmbar erscheinen wird. Reduzieren wir ihn stattdessen auf seinen Kerngehalt. Im Lichte des Evangeliums, in dem Jesus beständig auf die Geduld Gottes mit dem Sünder verweist und auf die Gnade, die jeder erhoffen kann, kann man vielleicht sagen: Solange es noch eine Möglichkeit zum Guten gibt, ist das letzte Wort nicht gesprochen. Die Barmherzigkeit Gottes ist dann christlich gewendet auch ein Grundsatz für den Christen selbst: Handle genauso! „Vergib auch unsere Schuld, wie auch wir vergeben, die uns gegenüber schuldig sind.“ Das heißt: Gott, wir nehmen Maß an deiner Barmherzigkeit. Und Jesus ermutigt seine Zuhörer dazu, diese individuelle Gerechtigkeit bei Gott mit aller Vehemenz einzufordern.
Das Evangelium dreht in gewisser Weise das Rechtsprinzip um. Nicht die individuelle Gerechtigkeit muss sich vor der Instanz der allgemeinen Gerechtigkeit behaupten, sondern es ist begründungspflichtig, wenn die allgemeine Gerechtigkeit zur Anwendung kommen soll. Auch dies kann oder muss durchaus manchmal geschehen.
Vor Gott stehen wir erst einmal als Einzelpersonen. Das Gebet selbst ist bereits ein Zeichen, dass wir unsere Fähigkeit zum Guten noch sehen. Vergebung und Neuanfang sind möglich, wenn das Gute wieder stärker werden kann. Was verloren schien, kann wiedergefunden werden.