Große Illusionen

Ich war in der vierten oder fünften Klasse, als ich die Möglichkeit bekam, über die Ferienpassaktion unserer Kommune an einem Ausflug in einen großen Freizeitpark teilzunehmen. Da ich mir damals  aus Achterbahnen und anderen Fahrgeschäften nicht viel machte (übrigens bis heute), suchte ich im Freizeitpark andere Attraktionen. Es gab mehrere Bühnen, auf denen Vorführungen mit Tieren und Akrobaten gezeigt wurden. Im großen Theater des Parks wurde eine Zaubershow aufgeführt. Es war für mich das erste Mal, dass ich so etwas sah. Ich erinnere mich noch sehr gut.

In einer Nummer führte der Zauberer eine Assistentin in einem langen Kleid auf die Bühne, auf der zwei Stühle standen. Das Licht wurde abgedimmt und geheimnisvolle Musik eingespielt. Der Zauberer sah der Dame vor ihm beschwörend in die Augen. Auf ein Handzeichen hin fiel die Frau in einen tiefen hypnotischen Schlaf. Der Zauberer fing den zusammensinkenden Körper auf und setze ihn auf einen der Stühle. Dann legte er die Füße der Frau auf den anderen Stuhl und zog die Sitze auseinander. Die Frau lag auf Hinterkopf und Fersen stocksteif da. Zwischen den Sitzen sprudelten auf einmal Wasserfontänen aus dem Boden, so hoch, dass sie fast den Rücken der Frau erreichten. Mit einem entschlossenen Ruck zog der Zauberer nun zunächst den einen, dann den anderen Stuhl weg. Die Dame schien auf dem Wasserspiel zu schweben. Die Fontänen hoben und senkten sich und vermochten, den Körper mühelos auf und ab zu bewegen. Der Zauberer zog einen silbernen Ring um den Körper herum, um uns zu zeigen, dass es keine unsichtbaren Fäden gab, an denen er nach oben gezogen wurde. Er ließ die Wasserfontänen wieder im Boden verschwinden und stellte die beiden Stühle wieder auf. Mit einer erneuten beschwörenden Geste erweckte er die Schlafende wieder zum Leben.

Ich war fasziniert. Ich habe geglaubt, was ich damals gesehen habe. Ich hielt es in meiner kindlichen Vorstellung für möglich, dass Menschen im Zustand der Hypnose zum Schweben gebracht werden können. Heute weiß ich es besser. In Wirklichkeit funktioniert der Trick mit einer ganz banalen mechanischen Hebevorrichtung. Das Ganze ist eine Illusion. Eine Illusion gaukelt uns eine Wirklichkeit vor. Sie zeigt uns etwas, das es so nicht gibt. Aber eine Illusion kann, ganz besonders in der Zauberkunst, etwas sehr schönes sein, so schön, dass man gerne daran glauben möchte.

Der Teufel ist ein großer Illusionist. Sein griechischer Name ist „diabolos“. Das bedeutet: „Derjenige, der die Dinge durcheinanderbringt“, „der Verwirrer“. Es ist sein Geschick, das Schlechte als Gut erscheinen zu lassen, das Falsche als wahr und das Hässliche als schön. In der Sage von Dr. Faust wird dieser alternde und unzufriedene Gelehrte durch die Vermittlung des Teufels in einen jungen, attraktiven Mann verwandelt. Eine Illusion, denn in der jugendlichen Hülle steckt weiter der Greis. In seiner Verkleidung betrügt er ein junges Mädchen aus niederen Motiven. Sie fällt auf die Illusion herein und stürzt ins Unglück.

Im Evangelium vom ersten Fastensonntag begegnet Jesus dem „Diabolos“ in der Wüste. Der Teufel wendet alle seine Künste an, um Jesus in Versuchung zu führen, auf seine Illusionen hereinzufallen. Unter den drei Versuchungen ist die zweite sicher die eindringlichste. Der Teufel zeigt Jesus von einem Berg aus alle Reiche der Erde. Er behauptet, dass diese Reiche ihm gehören. Dies ist wahrscheinlich eine Lüge. Wenn die Reiche dem Teufel gehören, dann nur, weil er sie von Gott abgebracht und in seine Herrschaft gezwungen hat. Er schlägt Jesus einen Deal vor: Als Herrscher der Welt ist er bereit, seine Macht an Jesus abzugeben. Allerdings gibt es eine Bedingung. Jesus soll sich niederknien und ihn anbeten. Das ist raffiniert. Der Teufel weiß, wer Jesus ist: der Sohn Gottes und damit der rechtmäßige Herrscher der Welt. Jesu Mission ist es, das Reich Gottes aufzubauen und einmal alle Menschen unter der Herrschaft Gottes zu vereinen. Dazu wird er den Teufel besiegen müssen. Der vorgeschlagene Deal rettet dem Teufel die Existenz und erweitert seine Herrschaft ins Totale. Wenn Jesus sich vor dem Teufel beugt, unterwirft sich auch Gott unter seine Macht. Gott wäre nicht mehr Gott. Die Herrschaft Jesu wäre eine Illusion, der größte Bluff der Geschichte. An der Oberfläche, aus der Sicht der Menschen würde Jesus herrschen, in Wirklichkeit aber herrscht ein anderer, nämlich der Teufel, dem er sich untergeordnet hat. Hinter der scheinbar guten Fassade steckt eine brutale Maschinerie der teuflischen Macht. Statt auf Erlösung steuerte die Welt auf eine Unterwerfung zu. Am Ende sind alle Menschen Betrogene.

Jesus widersteht der Versuchung sofort, indem er auf Gott als den einzig wahren und legitimen Herrscher der Welt verweist. Jesus wird den schwierigen Weg gehen, Stück für Stück dem Teufel sein Territorium abzuringen und ihm die Macht zu nehmen. Das Reich Gottes kennt keine Kompromisse.

Illusionen sind ihrem Wesen nach trügerisch. Sie sind zugleich sehr verführerisch. Ähnlich, wie in der Zaubershow, wo sie zur Unterhaltung eingesetzt werden, möchte man ihnen gerne glauben, auch wenn man weiß, dass sie eigentlich nicht wirklich, nicht wahr sein können. Sie sind so viel schöner und einfacher als die Wirklichkeit, die hinter ihnen steht. Jede Zeit und jede Gesellschaft hat solche Illusionen, die in ihr viele Anhänger finden. Diese müssen ja nicht gleich vom Teufel sein, aber ihre Zauberkraft funktioniert sehr gut. Ich möchte drei dieser weit verbreiteten Illusionen nennen.

Die erste heißt: „Ich kann mich immer wieder neu erfinden.“ Das ist die große Illusion des Selbstbetrugs. Natürlich ist es möglich, immer wieder etwas Neues zu beginnen, einen neuen Beruf zu erlernen, neue Freunde zu finden. Es ist möglich sein Äußeres zu verändern oder auch seine inneren Einstellungen. Ich glaube auch, dass Menschen eine Entwicklung nehmen können, ihr Selbst zu einem „besseren Selbst“ zu entwickeln. Alle, die so einen Prozess schon einmal durchgemacht haben wissen, dass dies lange und harte Arbeit bedeutet. Ich kann aus meinem „Ich“ nicht einfach aussteigen, aus meiner Persönlichkeit, meiner Geschichte. Das ist die Illusion. Das ist eine unbequeme Wahrheit. Ich habe so etwas leider schon häufig beobachten können. Menschen ändern am Äußeren ihres Lebens etwas und glauben, damit auch „ein anderer Mensch“ zu werden. Sie wundern sich, dass sich ihre alten Probleme, ihre alten Muster und Gewohnheiten dann bald wieder einstellen. Sie sind nie an die Wurzeln dieser Probleme gegangen. Sie haben erwartet, dass sie sich wie durch Zauberei verändern, wenn sie eine neue Arbeit annehmen, in eine andere Stadt ziehen, alte Kontakte abbrechen, neue Partner finden oder ihr Äußeres anpassen. Hinter der neuen Rolle steht dann immer noch der alte Schauspieler und sein Schauspiel wird immer irgendwie gleich bleiben, wenn er nur sein Kostüm, nicht aber seine Kunst ändert.

Die zweite Illusion, die ich besonders im politischen Bereich sehe, lautet: „Für große Probleme gibt es einfache Lösungen“. Diese Illusion ist sehr gefährlich. Sie verführt Menschen. Sie gaukelt ihnen vor, alles könne ganz einfach sein. Manchmal geht es schlicht darum, einen Feind oder ein zentrales Kernproblem zu bestimmen, der oder das für alles verantwortlich gemacht werden kann. Das ist ein großes Ablenkungsmanöver. Ist der Feind besiegt oder das Problem gelöst, melden sich sofort alle anderen Probleme wieder. Die Illusion ist deswegen verführerisch, weil sie die Verantwortung von mir selbst wegnimmt. Ich muss nur die richtigen Leute wählen, um meine Probleme loszuwerden. Komplexe Probleme haben sehr komplexe Lösungen und das unangenehme ist, dass ich selbst ein Teil dieser Lösung sein könnte. Das klassische Beispiel ist der Klimaschutz, wo mittlerweile lieber Menschen und Parteien unterstützt werden, die behaupten, dies sei kein relevantes Problem. Man löst aber ein Problem nicht dadurch, dass man es leugnet.

Die dritte Illusion, der ich häufiger begegne heißt: „Ich kann die Vergangenheit bewahren.“ Das ist die Illusion der Zeitkapsel. Damit meine ich nicht, dass man seine Vergangenheit nicht schätzen soll. Im Gegenteil, gerade die Erinnerung an gute und schöne Zeiten, an für mich wichtige Menschen oder an Begebenheiten, aus denen ich etwas gelernt habe, ist wichtig und für meine Gegenwart bedeutsam. Die Illusion beginnt dort, wo ich leugne, dass diese Zeiten vorbei sind. Die Illusion der Zeitkapsel versucht, mein Leben an einem bestimmten Zeitpunkt einzufrieren. Sie verhindert, mich produktiv mit meiner Gegenwart oder meiner Zukunft auseinanderzusetzen. Diese Illusion  der Zeitkapsel begegnet mir im kirchlichen Kontext heute ständig. Ich kann das angesichts der Zerfalls der kirchlichen Sozialstruktur gut verstehen. Man versucht, die Kirche so zu erhalten, wie sie für mich einmal war, statt zu fragen, wie sie für mich heute sein müsste. Das erzeugt Frustrationen, denn natürlich ist meine heutige Version des „Damals“ nur ein Abklatsch, eine Imitation der Vergangenheit. Die Illusion bestätigt mich zudem beständig darin, dass „wir“ damals alles richtig gemacht haben, statt zu erkennen, dass das „heute“ auch eine Folge des „damals“ ist und, dass zu viel „damals“ den Menschen von heute allzu oft den Zugang zu einer gelingenden Gegenwart verstellt, weil sie eben nicht so sind, wie die Menschen „damals“ waren.

Es lohnt sich, so glaube ich, sich mit den Zaubertricks des Selbstbetrugs auseinanderzusetzen, eben doch anzuerkennen, dass die Illusion der schwebenden Frau auf einfachen, hässlichen Maschinen beruht, auch wenn mir dies für den Moment den Zauber an ihnen nimmt.

Im Evangelium widersteht Jesus der Illusion dadurch, dass er seine Sendung annimmt, wie sie auf ihn zukommt. Das ist der unbequeme Weg, ein Weg ohne falsche „Deals“. Der Preis ist für ihn hoch. Das Reich Gottes wächst langsam und es gibt Zeiten, in denen es gar nicht zu wachsen scheint. Es gibt Rückschläge und Enttäuschungen. Da, wo es wächst, da wächst es nicht auf dem Boden der Lüge und Täuschung, sondern auf gutem und vor allem echten Boden. Dort hat es Bestand.

Beitragsbild: Faust und Mephisto, Skulptur am Goethedenkmal der Villa Borghese, Rom.          

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